Als erstes entdecke ich die vielen Kälbchen, die sich hier im offenen Stall aneinander drängen oder einfach nur herumstehen, an einer Kuh-Mutti süffeln oder auch mit uns näheren Kontakt aufnehmen. Im Freien, so erfahre ich, herrscht bei den Kälbern das Prinzip Amme, die sind die effizienteren Mutterkühe, weil sie auf der Wiese zwei bis drei Kälber versorgen, während die Mutter immer nur auf ein Kalb fixiert ist. Wenn die Jungtiere nach fünf Monaten abgesetzt sind, kommen „Jungs und Mädchen“ getrennt auf die Weide. Dort wachsen sie zweieinhalb Jahre. „Die Bullen werden geschlachtet und die Mädels werden selbst Milchkühe“, erklärt Anja Hradetzky. Auf anderen Höfen werden Kälber meist schon nach 14 Tagen verkauft. Die Tiere landen überwiegend in der industriellen Mast, „eng gestellt und mit Intensivfutter“ – auch Demeter-Höfe verkaufen meist ihre Kälber. Wenn es bei ihnen selbst ans Schlachten geht, können sie bei einem kleinen Schlachter im Nachbardorf einen Termin ausmachen, sie fahren dorthin, es gebe keinerlei Stress für die Tiere, sagt Anja Hradetzki.
Aber noch ist es bei diesen Kälbchen hier nicht so weit. Die Jungbäuerin doziert dabei an mich gerichtet: Es sei ja bekannt, dass Kälber gern am Finger nuckeln. Das sei jedoch eine Verhaltensstörung, weil sie nicht genügend ans Euter kommen. Hier bei ihnen sei dies aber der Fall. Dadurch gebe es weder Fingernuckeln noch Probleme mit Durchfällen.
Hofgründung als Befreiungserlebnis
Ein leichter Stolz in ihren Worten ist unüberhörbar. Wir befinden uns
nicht zufällig in Stolzenhagen unweit von Berlin auf dem ungewöhnlichen
Demeter-Milchviehhof mit dem Namen Die stolze Kuh. Hier wird kuhgebundene Kälberaufzucht
praktiziert. Ungewöhnlich ist dieser Hof auch deshalb, weil er vor fünfeinhalb
Jahren von Anja und ihrem Mann Janusz auf gepachtetem Land begründet und nicht
etwa alt-eingesessen übernommen wurde.
Die Initiation war ein
persönliches Befreiungserlebnis, festgehalten in einem Anfang des Jahres erschienenen
Buch mit lindgrünem Cover; auf der Vorderseite die witzigen Zeichnungen von
zwei sich beschnüffelnden Kühen – natürlich mit Hörnern! – und dem
vielversprechenden Titel: Wie ich als Cowgirl die Welt bereiste und ohne Land und Geld zur
Bio-Bäuerin wurde – eine
Coming-of-Age-Geschichte, die von vorn bis hinten wahr ist: Wie Anja Hradetzky
als junger Mensch ihre Tierliebe entdeckt und diese fortan gegen alle
Widerstände durchzusetzen lernt, ob in der Heimat, wo ihre „Aldi-Eltern“
der Tochter Begegnungen mit Tieren vornehmlich in Packungen aus dem Kühlregal
bescherten, oder später
in den Weiten Kanadas als Cowgirl.
Ihren Mann Janusz lernt Anja 2007 während ihres Bachelor-Studiengangs Ökolandbau und Vermarktung an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde kennen. Seit fünfeinhalb Jahren betreiben sie nun als Bauern, Geschäftsführer, Verkäufer, Eltern einen ländlichen Betrieb mit rund 100 Rindern, davon 40 Milchkühe, einer Herde aus vom Aussterben bedrohten Rassen. Nicht nur Kühe und Kälber, sondern auch respekteinflößende Bullen weiden im hofeigenen Outdoor-Gehege, bei denen der abgrenzende Elektrodraht dem Berichterstatter innerlich hochwillkommen ist.
Wie viel schlecht bezahlte Plackerei sie sich mit ihrem Hof eingehandelt haben, die sich die meisten in ihrem Alter nicht unbedingt aufhalsen möchten, bemerken sie erst daran, wie schwierig es ist, Mitarbeiter zu finden für den Alltag einer selbst geschaffenen Existenz „ohne Land und Geld“, wie Anja sagt. Die 220 Hektar Acker- und Grünland, gelegen im deutsch-polnischen Nationalpark Unteres Odertal sind von der gleichnamigen Stiftung und von der Stiftung des Naturschutzbundes Deutschland gepachtet, das Geld kommt unter anderem durch ein Crowdfunding, die GLS ist angefragt.
In der zur morgendlichen Stunde noch recht unterkühlten Stolzenhagener Scheune erfahre ich, dass in den nächsten Tagen sämtliche Kühe samt Kälbern und Melkstand in die Aue des Nationalparks gebracht werden. Bis Nikolaus bleiben sie dort Tag und Nacht im Freien, falls es nicht frühzeitig zu frostig wird.
Der Melkstand ist ebenso Handarbeit wie der riesige mobile Hühnerstall fürs bunte Federvieh aus alten Rassen – als Grundgerüst dient ein LKW-Anhänger, alles in filmreifen Farben gestaltet.
„Wir produzieren Nationalpark-Weidenmilch mit Kühen, die ihre Hörner behalten und wo die Kälbchen von einer Amme aufgezogen werden. Vielleicht auch mal von ihren Müttern selbst. Geht noch mehr Individualität?“, fragt Anja Hradetzky in ihrem Buch. Der Berichterstatter meint: Ja! Denn wir lernen mit ihr eine junge Bauernfamilie wie unsere Nachbarn oder Freunde kennen – die Hradetzkys. Diese intensive Bekanntschaft mit dem Herkommen des Hofes, seiner Menschen, Tiere und Produkte ist so, als erhielten wir mit dem Buch eine Orientierungsskizze über die Hintergründe, etwas, das aus der Vergangenheit her in die Zukunft ragt.
Anjas Frage an sich und alle, die mehr von ihr wissen möchten, lautet: „Lebst du deine Leidenschaft?“
Leidenschaft und Schwerstarbeit
Wohlgemerkt: Anjas Leidenschaft scheint es zu sein, vor dem ersten Hahnenschrei aufzustehen um dann bis spät abends Schwerstarbeit zu verrichten, sieben Tage die Woche. Daneben ist sie Mutter zweier kleiner Kinder, schreibt ein Buch, geht damit auf Lesereise bis nach Österreich, arbeitet als Kuhflüsterin und Trainerin für wesensgemäße Tierhaltung und wurde 2018 von den Brandenburger Grünen als „grüne Gründerin“ ausgezeichnet. So viel Überlastung als normal zu empfinden geht eigentlich nur mit genialer Unterstützung. Doch was bedeutet die? Zum handfesten Support durch den Genius gehört eben auch die dunkle Seite, die Katastrophe. „Dadrinnen in uns ist ein gescheiterer Mensch,“ sagt Rudolf Steiner in seinen Karma-Vorträgen, „der uns zu Leiden und Schmerzen hinführt, zu etwas, was wir im Bewusstsein am liebsten vermeiden möchten“ – eben „damit wir vorwärts kommen.“ Von solchen Katastrophen, die bis zur „Todesangst unter Kühen“ reichen, aber auf der Krisenspitze immer die Wende einleiten, kann Anja ein Lied singen. Das Hof-Abenteuer wäre beispielsweise fast schon vorbei gewesen, bevor es wirklich begonnen hatte. Das Brandenburger Veterinäramt rief an und teilte mit, dass der Betrieb gesperrt werde, weil sie Kühe von einem Bauern gekauft hätten, der sie nicht auf Rindertuberkulose hatte untersuchen lassen. Es klang wie der Anfang vom Ende. Dass noch einmal alles gut gegangen ist, erfährt der Berichterstatter nicht zuletzt an diesem kühlen Frühlingsmorgen, als er mit Anja Hradetzky im offenen Kuhstall durchs dick ausgestreute Heu stapft. Der Betrieb läuft ohne behindernde Auflagen weiter. Doch es sei knapp gewesen, meint die junge Bäuerin.
Wiederbelebung der Region
Die Vermarktung nach dem Modell der solidarischen
Landwirtschaft hat noch nicht so gut geklappt, sagt Janusz, den wir beim
Hofrundgang treffen. Bei den Verbrauchergemeinschaften läuft es wesentlich
besser. Da werden einzelne Kunden gefragt, ob sie Interesse hätten, eine
Verteilerstation zu gründen.
Ich bin ein wenig abgelenkt, da mir die gut gefüllte
Käserei und der Rohmilchkessel das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Weiß
ich doch schon von früheren Kostproben, wie köstlich Käse und Würste hier
schmecken, als wären sie mittels Tischlein-deck-dich aus einer längst
untergegangenen Märchenwelt zu uns zurückgekommen.
Während wir in einen Arbeitsraum mit laufenden PCs
wechseln, konzentriere ich mich wieder ganz auf die Ausführungen von Janusz.
„Im Ökolandbau sich darauf zu beschränken, die chemisch-synthetischen Mittel
wegzulassen, aber sonst einfach so weiter zu wirtschaften, kann nicht die Grundlage
einer zukünftigen Landwirtschaft sein“, meint er. Schon sind wir bei Demeter.
Janusz sieht die derzeitige Öffnung des Verbandes für große Einzelhandelsketten
als äußerst problematisch an. Wenn zum Beispiel Betriebe rasch auf Demeter
umstellen, die sich noch gar nicht mit dem Gedankengut beschäftigt haben, nur
weil sie meinen, in einer Mindestkriterienerfüllung damit rasch besser vergütet
zu werden. Das mache die vielfältig gewachsenen Betriebe im Hintergrund, die
für das Zertifikat stehen und es sehr ernst nehmen, ebenso kaputt wie die
Abnehmer im regionalen Naturkosthandel. Ein Alleinstellungsmerkmal für den
Verband könne er sich eher in einer Regionalisierung vorstellen. Möglich sei,
dass es noch zu Zerreißproben kommt. Im Netzwerk der jungen Bauern erwäge
mancher sogar, den Verband zu verlassen, um einen neuen zu gründen. „Noch aber
hoffen die meisten auf eine Rückbesinnung“, sagt Janusz Hradetzky, und meint
damit auch sich selbst.
Das Dorf Stolzenhagen und die Umgebung werden durch den Hof Die stolze Kuh wiederbelebt, sind die jungen Landwirte überzeugt. Jeden Samstag findet hier ein Bauernmarkt statt, zu dem auch andere Jungbauern mit Gemüse, frisch gebackenem Brot, Kaffee und Kuchen hinzukommen. Ein wichtiger Treffpunkt für die Menschen ist entstanden, den es jahrzehntelang in der Gegend nicht mehr gab. Glücklich mit Kühen! ///
Buchtipp: Anja Hradetzky: Wie ich als Cowgirl die Welt bereiste und ohne Land und Geld zur Bio-Bäuerin wurde. DuMont Verlag, € 16,99.
Hier ist zu erfahren, wie die Produkte des Hofs Die stolze Kuh eingekauft werden können.