Rudolf Steiner hat vor 100 Jahren den Impuls gegeben für eine nachhaltige Landwirtschaft. Was wirkt aus der Vergangenheit bis heute am stärksten und ist unantastbar für die biodynamische Wirtschaftsweise?
Die Vorträge in Koberwitz waren die Geburtsstunde des ökologischen Landbaus wie wir ihn heute kennen. Die Grundsätze, die in Steiners Landwirtschaftlichem Kurs entwickelt wurden, sind bis heute unser Ideal und Leitbild des gesamten Ökolandbaus: Der Betrieb soll als möglichst geschlossener, vielseitiger Organismus und als Betriebsindividualität standortangepasst gestaltet werden. Von Beginn an wurde ein weiterer Dreiklang erschaffen, der ebenfalls prägend für die weitere Entwicklung des Ökolandbaus wurde: Eine Gemeinschaft von Bäuerinnen und Bauern schließt sich zusammen, gibt sich gemeinschaftlich und selbstbestimmt Regeln, zertifiziert deren Einhaltung und vermarktet die Produkte unter einer eigenen Marke. So wurde bereits 1928 die Marke Demeter eingetragen.
Wenn diese Kriterien heute auch auf andere ökologische Betriebe zutreffen, was zeichnet dann Demeter-Landwirtschaft aus?
Wir sind bis heute diejenigen, die diese wegweisende Errungenschaft, das Konzept der möglichst in sich geschlossenen Betriebsindividualität, noch am konsequentesten umsetzen.
Sie sagen: noch?
(lacht) Es ist völlig klar, dass wir den Anspruch – nicht nur für diesen Aspekt, sondern insgesamt –, Qualitätsführer in der Land- und Ernährungswirtschaft zu sein, halten müssen. Was genau differenziert uns noch? Es ist das Verständnis der Demeter-Akteure, dass wir im landwirtschaftlichen Betrieb zwischen vier Lebensbereichen aufgespannt sind: das Pflanzliche, Mineralische und Tierische vom Menschen gestaltet im Einklang zwischen Erde und Kosmos. Bei der Gestaltung des Betriebes geht es darum, die Verbindung herzustellen zwischen diesen Qualitäten. Daraus entwickelt sich unser ganzheitliches Betriebskonzept. Wesensgemäße Tierhaltung, vor allem Raufutterfresser, möglichst auch in Gemüse-, Weinbau- und Obstbetrieben, eigenständige Züchtung standortangepasster Sorten für Getreide und Gemüse, spiegeln das beispielsweise wider. Der Zusammenklang von Pflanzenbau und Tierhaltung wird eingebettet in die jeweilige Landschaft – so beziehen wir Hecken, Wald, Wasserläufe in die Betriebsgestaltung ein. Modern ausgedrückt legte Steiner in den Vorträgen des Kurses bereits ein ganzheitliches agrarökologisches Konzept an.
Was bedeutet das für das konkrete Tun in der Landwirtschaft?
Bei Demeter bemühen wir uns um ein erweitertes Verständnis dessen, dass es eine geistige Wirksamkeit gibt. Sie drückt sich physisch aus. Und umgekehrt gilt, wenn wir etwa die Elemente Stickstoff, Phosphor, Kohlenstoff, Silizium oder Kalk nehmen, dass diese selbst wesenhaft bestimmte Eigenschaften haben. Der Bauer, die Bäuerin, schulen sich darin, ihren Standort, den Boden, die Bedingungen ihres Betriebes wahrzunehmen. Da wird dann der Unterschied wichtig, ob es sich um einen Silizium-reichen Standort mit sandigem Boden handelt oder um schwere tonige Äcker. Um darauf ausgleichend reagieren zu können, hat Steiner uns die biodynamischen Präparate empfohlen. Sie helfen, auf die jeweiligen Bedingungen zu reagieren, Schwächen auszugleichen, Stärken zu fördern. Biodynamische Landwirtschaft von Demeter ist also das genaue Gegenteil einer Rezepte-Landwirtschaft, wie sie die Agrarindustrie propagiert und praktiziert. Der Verband gerät durch dieses Ideal der durch die jeweiligen Betriebsleiter individuell gestalteten Höfe einerseits und den Regeln, die sich seine Mitglieder gemeinschaftlich geben, in ein Spannungsfeld, das ausbalanciert werden will. Wie können wir uns von starren Vorschriften lösen und dennoch den Verbraucher:innen als Gemeinschaft die beste Qualität garantieren ist daher eine Frage, die uns gerade sehr beschäftigt.
Das klingt nach mehr Freiheit und zugleich nach hohen Anforderungen an Landwirte.
Ja, biodynamisch ist unbestreitbar die anspruchsvollste Form, Landwirtschaft zu betreiben. Und natürlich haben wir bei unseren Mitgliedern eine große Bandbreite an Motiven. Zu uns kommen Menschen auch aus wirtschaftlichen Erwägungen. Wir haben Mitglieder, die seit Generationen ihren Hof bewirtschaften und das Beste für den Boden, die Tiere oder die Produktqualität gesucht haben. Auf der anderen Seite sind da all diejenigen, oft Städter, die über die Anthroposophie zu Bäuerinnen und Bauern geworden sind. Für viele dieser Quereinsteiger ist die Agrarkultur ein Vermittler, um die geistige Entwicklung des Menschen voranzubringen. Was ich aber immer wieder beobachte, egal welches Motiv das leitende ist, wenn Menschen biodynamisch wirtschaften, springt ein Funke über und das Interesse an den Grundlagen des Biodynamischen, an der Anthroposophie, das wächst dann durch das Tun. Vor kurzem haben wir einen großen Gartenbaubetrieb mit 100 Hektar dazugewonnen. Den haben wir aufgenommen unter der Bedingung, dass er Kühe anschaffen muss. Dieser erfahrene Gärtner lädt jetzt seine konventionell arbeitenden Kollegen ein, wenn Uli Johannes König vom Forschungsring auf seinem Betrieb die Präparate-Arbeit vorstellt. Er sagt denen dann: „Das müsst ihr miterleben.“ Ähnlich ist es bei Winzern, die durch die Wein-Qualitäten vom Biodynamischen überzeugt werden. Einer hat mir gesagt: „Ich hatte zeitlebens den idealen Wein in meinem Kopf, seitdem ich biodynamischen Weinbau betreibe, konnte ich ihn endlich verwirklichen, jetzt ist mein idealer Wein in der Flasche.“
Demeter gilt als Pionier des Öko-Landbaus. Sind die Biodynamiker inzwischen die Fundis, die Traditionalisten?
(Iacht) Wir folgen einem Ideal, in dem Sinne sind wir vielleicht Fundis. Aber wir entwickeln uns biodynamisch seit 100 Jahren durch Praxis und Forschung immer weiter. Natürlich wissen wir, dass es am besten ist, wenn die Präparate per Hand gerührt und gespritzt werden. Aber warum Technik ausschließen, wenn sie wenig Einfluss nimmt auf das gerührte Wasser oder wenn Drohnen dort sprühen können, wo der Traktor mit der Spritze nicht hinkommt oder die Größe der Fläche den Zeitrahmen sprengt? Wir fragen uns: Welches Ziel habe ich und dient die Technik dem Ziel? In diesem Sinne sind wir durchaus innovationsfreudig und können die Veränderungen durch begleitende Forschung beobachten. Der Bauer, der durch seinen Melkroboter Zeit gewinnt, seine Herde zu beobachten, seine Tiere wahrzunehmen, hat alles richtig gemacht.
Das klingt nach guten Entwicklungen. Dennoch kommen wir um die Frage nach den aktuell größten Problemen nicht herum.
Lassen Sie uns noch mal kurz in die Vergangenheit schauen. Was war der Auslöser dafür, dass top ausgebildete Landwirte Rudolf Steiner damals um Hilfe gebeten haben, seine Anregungen wollten? Sie hatten gemerkt, dass die Fruchtbarkeit der Böden und der Tiere abgenommen hatte, die Qualität ihrer Produkte gesunken war. Sie verstanden sich als Opposition gegen die aufkommende Agrarindustrie. Heute ist ökologische Landwirtschaft zwar so hoffähig, wie wir es noch vor fünf, sechs Jahren nicht für möglich gehalten haben. Sie dient als Leitbild für den Green Deal der EU, wird als 30-Prozent-Ziel für Deutschland deklariert. Doch gleichzeitig hat sich die ökologische Krise um ein Vielfaches verschärft. Was vor 100 Jahren die mineralische Düngung war, ist heute die neue Gentechnik. Die entscheidende Frage wird sein, ob wir den Turnaround jetzt noch hinkriegen. Es deutet alles darauf hin, dass wir als Öko-Bewegung die Konzepte für die Zukunft haben. Die offene Frage ist, ob der Mensch das erkennt. Damit meine ich, die Erde als Organismus zu erkennen. Schafft die Menschheit das? Die Landwirtschaft, die Lebensmittel sind ein wesentliches Medium, um diesen Organismus zu verstehen. Evolution passiert nicht schon lange nicht mehr einfach durch die Natur, sie ist inzwischen menschgemacht. Dabei spielt Landwirtschaft eine riesengroße Rolle.
Wie zuversichtlich sind Sie für diese Erkenntnisprozesse?
Wir haben als Verband eine sehr interessante Erfahrung gemacht. Als es deutliche Preissteigerungen gab wegen Inflation und höherer Energiepreise hat sich innerhalb von zwei Wochen das Verbraucher-Verhalten drastisch verändert. Wir haben uns wirklich Sorgen gemacht, weil der Wechsel zum Discounter und zu den Bio-Handelsmarken des Lebensmittelhandels Umsatzverluste für uns als hochpreisiges Bio am kritischsten hätte werden können. Umso erstaunter waren wir dann, als sich schnell herausstellte, dass Demeter kaum Kund:innen verloren hatte. Wir stehen viel besser da als andere und es beweist, dass wir eine hohe Kundenbindung und hohe Kundenzufriedenheit haben. Und bei unseren Handelspartnern gab es sogar Beispiele für Umsatzsteigerung, weil sie im Gegensatz zu anderen nicht einfach dem Verbraucher-Verhalten nachgelaufen sind, sondern gerade in der Krisenzeit die Premium-Qualität und die Demeter-Produkte offensiv sichtbarer gemacht haben: durch neue Verpackungskonzepte, bessere Platzierungen und Marketingmaßnahmen. Auch von Verarbeitern hören wir, dass die Umsätze wieder nach oben gehen. Das bedeutet: eine stabile Verbraucherschaft sieht den Zusammenhang zwischen ökologischer Krise, Tierwohl, Gesundheit und der Art und Weise, wie wir Landwirtschaft betreiben. Es ist nicht zynisch gemeint, aber je bedrängender die Krise wird, umso größer wird die Gruppe werden, die einen Ausweg mit uns sucht.
Demeter ist jetzt der letzte verbliebene Öko-Verband, der sich den Discountern verschließt. Soll das so bleiben?
Discounter sind für uns keine passenden Partner, da ziehen wir die Grenze aktuell sogar noch schärfer. Und auch für die Handelsmarken bleibt es dabei, dass sie das Demeter-Logo nicht tragen dürfen.
Verlieren Sie damit nicht Umsätze und Absatzchancen?
Ich sehe es breiter. Wir feiern 100 Jahre Landwirtschaftlichen Kurs. Wie biodynamische Landwirtschaft funktioniert, haben wir kapiert. Aber die wirklich großen Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaft angesichts der multiplen Krisen stehen, ist die soziale und ökonomische Frage. Wir nehmen stärker in den Blick, dass wir wirtschaftlich tätig sind und werden uns für die nächsten 100 Jahre den Nationalökonomischen Kurs von Rudolf Steiner vornehmen. Das ist sozusagen der Schwesterkurs zum landwirtschaftlichen, in dem Steiner ein solidarisches Wirtschaftsleben skizziert hat. Lösungen für die soziale Frage zu finden, das ist jetzt und in Zukunft unsere Aufgabe. Wir brauchen Wirtschaftsbeziehungen, die stärker von Kooperation als von Wettbewerb leben.
Haben diese assoziativen Elemente bisher keine Rolle gespielt?
Doch, es gab viele Aktivitäten in diesem Bereich bei uns im Verband. Aber um ehrlich zu sein: mit relativ wenig Wirkung. Dennoch haben wir erfolgreiche Beispiele, wie wir uns aufeinander verlassen können. Da denken wir uns dann gemeinsam durch die Wertschöpfungskette und schaffen für alle auskömmliche Bedingungen. Dadurch werden alle Beteiligten krisenfester und attraktiver – das erzeugt eine Sogwirkung. In den Niederlanden beweist das der Naturkost-Fachhändler Odin, bei dem die Läden den Kunden gehören. Oder der Runde Tisch der Getreidebauern mit den Biobäckern in Berlin-Brandenburg. So bilden sich Anbieter- und Abnehmergemeinschaften, die nicht mit dem Kartellrecht in Konflikt geraten. Zudem sieht das Recht Ausnahmen vom Kartellrecht für landwirtschaftliche Betriebe vor, die besondere Nachhaltigkeitsansprüche erfüllen. Daraus ergeben sich neue Chancen wie etwa für einen Milchorientierungspreis. Wir wollen und müssen Wertschöpfungsketten so organisieren, dass jede Stufe das bekommt, was sie braucht, um ihre Leistung am nächsten Tag erneut erbringen zu können.
Auf 100 Jahre Geschichte stolz zu sein ist das eine, die Zukunft zu gestalten das andere. Sehen Sie dafür optimistisch in die Zukunft?
Ich bin überzeugt, dass sich die Menschheitsentwicklung wellenförmig zeigt. Hochkulturen gehen zu Grunde. Das hat die griechische Kultur erlebt, die Demokratie und Wissenschaft hervorgebracht hat, auch die römische, die den Rechtsstaat entwickelt hat, oder die Renaissance mit dem Erwachen des Ichs selbstständiger Menschen. Hungersnöte, eigene Dekadenz oder der Imperialismus stärkerer Kulturen führten zum Niedergang dieser Kulturen, ihre Errungenschaften aber überlebten. Wir sind gerade an einem Niedergangspunkt und die entscheidende Frage wird sein, was bleibt? Haben wir eine Idee für die nächste Kulturepoche? Biodynamisch legt das Neue, Überlebensfähige für Landwirtschaft und Ernährung schon heute an. Deshalb bin ich überzeugt, dass der Sog stärker wird und Demeter einen Bedeutungs-Zuwachs verschafft. Wir werden sicherlich in den nächsten Jahren nicht die Mehrheit der landwirtschaftlichen Betriebe stellen, aber zehn bis 20 Prozent Anteil an der Zahl der Öko-Höfe zu erreichen, das ist durchaus ein Ziel. Zurzeit stehen wir bei fünf Prozent.
Was braucht es dafür vom Co-Produzenten, wie in der biodynamischen Community die Verbrauchenden ja gern mal genannt werden?
Wir brauchen mehr Verbraucher:innen wie die, die jetzt schon aus voller Überzeugung und mit großer Begeisterung Demeter-Produkte kaufen. Es ist eine schlechte Idee, ausgerechnet am Essen sparen zu wollen. Abgesehen vom Nutzen für den eigenen Körper, die Seele und den Geist, geht es bei der Entscheidung, was in den Einkaufskorb kommt, um unser ethisches Verhältnis zur Nutzung der Natur. ///
Dr. Alexander Geber führt seit über 10 Jahren den Demeter-Verband. Im Gespräch nimmt der studierte Agrarwissenschaftler Rudolf Steiners 100 Jahre alte Vorschläge für Landwirtschaft, Ernährung und Wirtschaft mit in die Zukunft.