Anthroposophie mitten in Dresden

Mit-Initiatorin Silke Hohmuth eröffnet das Programm vor der Kulisse der Dresdner Frauenkirche. Foto: Markus Weinberg
Mit-Initiatorin Silke Hohmuth eröffnet das Programm vor der Kulisse der Dresdner Frauenkirche. Foto: Markus Weinberg

Am 22. Juni wurde der Neumarkt in Dresden vor der imposanten Kulisse der Frauenkirche zum Resonanzraum für die Vielfalt anthroposophischer Kultur. Besucherinnen und Besucher erlebten zweieinhalb Stunden gelebte Anthroposophie: Das facettenreiche Programm reichte vom Kinderchor über tiefgründige Dialoge und Eurythmie bis hin zur Schülerband der Freien Waldorfschule Dresden.

Von Vroni Much und Silke Hohmuth

Eurythmie, Medizin, Kinderchor und die Philosophie der Freiheit. Vieles, was sonst in geschützten Räumen geschieht, wurde an diesem Sommertag öffentlich erlebbar. Mitten auf dem Neumarkt in Dresden – auf einer 360-Grad-Bühne.

Nicht jede und nicht jeder kann sich vorstellen, solche Impulse in den öffentlichen Raum zu tragen. Und doch stellt sich die Frage: Ist es nicht genau das, was heute gebraucht wird? Ein Balsam für eine Zeit, in der wir erleben, wie die Menschen – seelisch, gesellschaftlich – auseinanderzudriften drohen? Im Vorfeld konnte viel diskutiert, abgewogen und bedacht werden. Doch das eigentliche Erleben war den Veranstaltenden und Mitwirkenden erst am Tag selbst möglich. Ob sich dieser Mut auszahlen würde? Ob sich Gemeinschaft bilden lässt – oder Missverständnisse und Kritik dominieren? Man wusste es nicht. Und genau dieses Nichtwissen war Teil des Weges. Es schwang mit in der Vorbereitung – die getragen war von einer inneren Überzeugung: dass Miteinander möglich ist, wenn Brücken gebaut werden. Und so zeigte sich auch die Veranstaltung selbst: von großer Freude und echter Dankbarkeit erfüllt – bei den Auftretenden auf der Bühne ebenso wie bei den rund 200 Besuchenden und jenen, die im Vorübergehen innehielten, lauschten, mitgingen.

Jörg Polenz, der Veranstalter des PalaisSommer Dresden, einem etablierten Kulturfestival der Stadt, bestätigte: An einem solch heißen Sommersonntag sei es selten, dass eine Veranstaltung so viel Aufmerksamkeit und Resonanz erfahre.

Freiheit als Herausforderung

Börries Hornemann und Wolfgang Müller sprachen mit Jens Heisterkamp und Silke Hohmuth (v.l.n.r.) über Steiners “Philosophie der Freiheit”. Foto: Markus Weinberg

Mit dem Buchautor Wolfgang Müller (Redakteur und Autor) und Börries Hornemann, dessen Urgroßvater Walter Chrambach die Dresdner Waldorfschule mitgegründet hat, tauchten die Moderatorin Silke Hohmuth und der Moderator Jens Heisterkamp (Autor und Verleger bei info3) tief ein in Rudolf Steiners Ideen zur Freiheit – und in die drängenden Fragen unserer zerrissenen Gegenwart. Welche Art Balsam könnte die Anthroposophie – und mit ihr die individuell-geistige Arbeit am Selbst – für die Herausforderungen unserer Zeit darstellen? Steiner versuchte, alles Wesentliche vom einzelnen Menschen her zu denken und die inneren Bestrebungen des Individuums als schöpferische Quelle zu erkennen. Kein allgemeines Sollen, das über die Individualität gestellt werden kann. Daraus ergibt sich die spannende Frage: Wie verbindet sich ein freies, individuelles Denken mit dem Gemeinsamen? Kann ich im Denken so individuell werden, dass ich – gerade dadurch – das Allgemeine berühre?

Praxisfelder der Anthroposophie Im Dialog

Michaela Schnur und Franziska Meinel vom “Pflege-Impuls-Dresden”. Foto: Markus Weinberg

Im zweiten Teil der Dialoge trafen Silke Hohmuth und Jens Heisterkamp auf die Themen Pflege, Medizin und Schule. Die beiden Geschäftsführerinnen des Dresdener Pflege-Impulses haben nicht nur durch ihre liebevolle, positive und schöne Erscheinung die Menschen in ihren Bann gezogen. Vor allem ihre Botschaft und ihr Lebensstil, den sie in ihrem Pflegedienst leben: „Pflege mit Liebe zum Detail und mit der Liebe zu uns selbst. Das sind unsere Motoren, die es ermöglichen, den Pflegenden hüllend und stützend zu begegnen. Wir pflegen auch unsere innere Haltung, wie wir Dinge tun. Wie gehe ich zu einem Pflegenden ins Zimmer? Das überlege ich mir schon vor ab. Wir sehen den Menschen ganzheitlich,“ so Michaela Schnur. Diese wohlwollende Haltung spiegelt sich auch in der Resonanz von außen wider: Sowohl die Besuchenden als auch die Mitarbeitenden beschreiben den Pflegeimpuls als ruhig, einladend und von einer inneren Wärme getragen, ganz anders als die oft als kalt und hektisch empfundene Atmosphäre eines gewöhnlichen Krankenhausalltags, erzählte Franziska Meinel.

Holger Hähnel, der als Quereinsteiger vom Hochschulbetrieb in die Waldorfpädagogik kam, begleitet heute junge Menschen wohlwollend bei ihrer Pflicht, die oft nicht leicht angepackt ist, aber im Nachgang positiv wirkt. Ein menschlicher Ansatz, der belohnt wird, denn Holger Hähnel berichtet, dass in seiner Klasse viel gelacht wird – welch größeren Balsam für die Seele könnte es geben? Sein Weg: Die Entwicklung junger Menschen mit-leben und lieben.

Die Entwicklung der jungen Menschen begleitet auch der Waldorf-Schularzt Michael Schnur. Seit einigen Jahren sei stark zu sehen, dass die Kinder intellektuell schulreif sind, aber motorisch auf dem Stand weitaus jüngerer Kinder stehen. Oft aus Gründen von zu wenig Bewegung durch zu langes Vor-dem-Bildschirm-Sitzen. Letztlich ist hier auch der Ansatz der Lösung ein ganz anderes Verständnis des Menschen: den Menschen als Individuum, als Ganzes betrachten. Dadurch bekommt jede Erkrankung auch eine Bedeutung im biografischen Gesamtzusammenhang. Wohin kann die Heilung hinführen – zukunftsgerichtet!

Zwischenklänge der Vielfalt

Mit dem Volkslied „Die Gedanken sind frei“ hatten die Kinder der Dresdner Waldorfschulen den besonderen Nachmittag auf dem Neumarkt eröffnet. Ein Lied, das wunderbar in die Philosophie der Freiheit hineinführte, denn es sind unsere Gedanken, die den inneren Raum der Freiheit formen. Der Mut und die Freude, die die Kinder ausstrahlten – spürbar bis in die Haarspitzen der Anwesenden.

Mitglieder der Eurythmiegruppe Dresden in Aktion. Foto: Markus Weinberg

Zwischen den Dialogbeiträgen erfüllten Gabriele Schneider und die Eurythmiegruppe Dresden die 360-Grad-Bühne mit bewegter Kunst. Ihre Darbietung war mehr als eine Aufführung – sie war eine theoretische und bewegte Einführung in die Eurythmie, getragen von innerer Liebe und Tiefe. Im Vorgespräch sagte Gabriele Schneider voller Freude: „Dresden ist eine Tanzstadt – warum nicht auch Eurythmie?!“ Dieses Selbstverständnis war spürbar, denn die Bewegungen selbst trugen die Zuschauenden mit – sanft, durchlässig und kraftvoll zugleich. 

Einen ausdrucksstarken Abschluss bot die erfrischende Schülerband mit dem witzigen Namen 3davonkennich!. Mit E-Piano und E-Gitarre verzauberten sie die Menschen auf dem Platz. Ihre Klänge – luftig, verspielt, jung – schwebten zwischen Himmel, Stadtgeräusch und Frauenkirche. ///

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