„Es geht um die Melodie in den Stoffen“

Arnica / wikimedia commons

Bei natürlichen Heil- und Pflegeverfahren geht es nicht allein um einzelne Wirkstoffe, sondern jeweils um ein Vielstoffgemisch: Dieses Themenfeld beschäftigt Florian Stintzing von der Wala in Bad Boll. Um die Aufmerksamkeit dafür zu schärfen, schmiedet er Koalitionen gegen den wissenschaftlichen Reduktionismus und tritt für Vielfalt auch in der Forschung ein.

Herr Stintzing, wie sind Sie selbst zum Thema Heilpflanzen gekommen?

Ich bin ursprünglich Lebensmitteltechnologe. Aber mir waren immer schon die physiologischen Vorgänge in der Pflanze wichtig. Was ist eigentlich das Lebendige? Können wir etwas daraus lernen? Und im Grunde war ich auch schon immer beim Thema der Vielstoffe.

Was hat es mit diesem Begriff auf sich?

Alle Lebensmittel sind ja bereits Vielstoffe, das heißt mehr als nur die Einzelstoffe, die darin enthalten sind. Wenn Sie einen Tee trinken, genießen Sie ja nicht warmes Wasser mit irgendeinem Aroma. Es ist eine Vielfalt aus Aromen und Gerbstoffen, die sich durch das heiße Wasser entfaltet.

Und ob ich Zucker oder Honig hineintue, ist auch nicht das Gleiche, obwohl es chemisch doch das Gleiche ist, oder?

Es ist eben nicht das Gleiche. Im Honig sind neben verschiedenen Zuckern Farbstoffe drin, da sind Enzyme drin, und ich sage auch mal bewusst: da ist auch Sonne drin, im raffinierten Zucker ist all das nicht mehr so vorhanden. Gewöhnlicher Zucker hat kein Aroma, der ist einfach süß. Richtiger Honig enthält Spuren von den Pflanzen, welche die Bienen besucht haben.

Welche Bedeutung hat dieses Prinzip der Vielstofflichkeit für die Arzneimittel? Es ist ja durchaus gängig, einzelne Wirkstoffe in einer Pflanze zu isolieren und nutzbar zu machen.

Die moderne Medizin hat sich auf Einzelstoffe konzentriert. Ein Stoff hat genau eine Wirkung, das ist das Prinzip. Wir bei der Wala verarbeiten Naturstoffe, und das sind immer Vielstoff-Gemische. Selbstverständlich sind darin auch einzelne Wirkstoffe enthalten. Aber ein Wirkstoff wirkt nicht allein, er wird von den begleitenden Stoffen kooperativ unterstützt, was die Wirkung moduliert. Im Blick auf die Gesundheit wollen wir immer ein Gleichgewicht wiederherstellen. Wenn Sie krank sind, ist ein Gleichgewicht gestört. Und bei der Heilung wollen wir nicht einen einzelnen Stoff hinzugeben, der einen Mangel ausgleicht, sondern die Regulationsmechanismen des Körpers wieder in Ordnung bringen, damit er selbst es schafft, das verlorene individuelle Gleichgewicht wiederherzustellen. Bei den Naturstoffen geht es vor allem um Qualitäten und deren Zusammenwirken, um Heilungsprozesse in Gang zu setzen, die exakten Konzentrationen von Einzelstoffen stehen dabei wirkseitig nicht so stark im Vordergrund.

Ein Beispiel: Die Arnika wirkt gegen Schwellungen. Ist es ein einzelner Wirkstoff, der dafür sorgt?

Wir sagen: Der gesamte Extrakt der Pflanze ist Wirkstoff, mitsamt der Begleitstoffe, man spricht von Matrix. Und in dieser Gesamt-Matrix bleibt der Wirkstoff gegen die Schwellung erhalten und stabil. Das ist ein wichtiger Vorteil der Vielstoffe, sie stützen sich wechselseitig.

Wie erhalten Sie die Wirkstoffe möglichst optimal?

Es ist die Frage, ob ich mit Öl herangehe und die Heilungsgeste heraushole, oder mit Wasser oder mit Alkohol. Das hängt von der jeweiligen Zielstellung ab. Hauschka hatte seinerzeit die kluge Idee, eine Haltbarmachung ohne Alkohol zu erreichen. Mit Wasser allein ging es nicht, weil die mikrobiologische Haltbarkeit fehlte. Er hat dann unter Anwendung eines rhythmischen Herstellverfahrens experimentiert und ist letztlich bei einem Fermentationsprozess gelandet, was ja eine weitere Form der Haltbarkeitsmachung durch Ansäuerung ist. Und das hat funktioniert, sein Prozess ist heute im Homöopathischen Arzneibuch offiziell anerkannt und genau festgehalten. Dieser Prozess gewährleistet aber nicht nur die Haltbarkeit, sondern schafft auch noch etwas Genialeres: Hauschka hat von einem Vor-Verdau gesprochen. Der Wirkstoff wird viel besser verfügbar. Wenn wir das heute anschauen mit modernsten Methoden, dann passiert da etwas Ähnliches wie das, was bei uns biochemisch im Darm passiert. Das heißt, durch die Fermentation werden die Stoffe so aufgeschlossen, dass sich der kranke Organismus weniger anstrengen muss bei der Aufnahme. Durch die Fermentation entsteht aber noch Weiteres, zum Beispiel entstehen Duftstoffe. Die besondere Rolle der Milchsäurebakterien und ihrer exakten Stoffwechselaktivitäten sind Gegenstand unserer Forschungsarbeiten.

Sie haben unter anderem an der Wegwarte geforscht, wie sich unterschiedliche Standorte auswirken. Was kam dabei heraus?

An dem natürlichen Standort, wo also die Pflanze von Natur aus wächst, lässt sich eine Wuchsform ablesen, eine bestimmte Gestalt-Geste. Wenn wir die Pflanze an einem anderen Standort antreffen, verändert sich nicht nur die Gestalt, sondern es geschieht auch eine Veränderung bei ihren Inhaltsstoffen. Wir kennen das auch aus dem Weinbau: die gleiche Rebsorte schmeckt auf einem anderen Standort mit einem anderen Boden anders, weil der Boden der Pflanze jeweils etwas anderes mitgibt. Im Weinbau hat man das verstanden, besonders in Frankreich, wo sich die biodynamische Anbauweise erfreulicherweise zunehmend etabliert.

Bei der Wegwarte war unsere Ausgangsfrage, ob man die Pflanze in Kultur nehmen kann, weil die Ernte an ihren vereinzelten Wuchsorten sehr aufwändig ist. Und da zeigte sich: der Boden im Wala Heilpflanzengarten ist viel zu nährstoffreich. Das hat ihr nicht gut getan, die Blätter wurden zu groß, das für sie typische, sich zusammenziehende Blatt-Gerippe war gar nicht mehr vorhanden. Und im Fermentierungsprozess nach Hauschka kippte die Urtinktur um, die Fermentation gelang nicht. Man kann also die Pflanzen nicht einfach verpflanzen, ohne dass sie sich verändern. Der Standort prägt die Gestalt und das Inhaltsstoffspektrum.

Der Vielstoffe-Ansatz scheint ja genau den Übergang vom Reduktionismus zu einer ganzheitlichen Auffassung zu markieren. Lässt sich der Unterschied auch empirisch nachweisen?

Wenn ich einen Einzelstoff nehme, kann ich ihn zum Beispiel einer Zellkultur von Krebszellen im Reagenzglas aussetzen und sehen, was die Lösung bewirkt. Wir haben das beispielsweise an Helleborus, der Christrose, zeigen können, haben zuerst Einzelwirkstoffe genommen und dann zum Vergleich den Extrakt der ganzen Christrose. Die Quantität der Einzelwirkstoffe war die gleiche, aber die Wirkung war deutlich stärker beim Vielstoff-Extrakt der Christrose, obwohl man eigentlich auch eine gleiche Wirkung hätte erwarten können. Sie war aber anders. Es gibt also offenbar ein synergistisches Miteinander von Wirkstoffen und Begleitstoffen, und das wird jetzt auch zunehmend beforscht.

Wir kennen das auch bei anderen Pflanzen, etwa bei Johanniskraut. Den Wirkstoff Hypericin bekommen Sie isoliert gar nicht gut in Wasser gelöst. Wenn sie ihn aber in einem Johanniskraut-Extrakt haben, können Sie viel höhere Konzentrationen gelöst finden, nämlich um den Faktor 400. Das heißt, die Begleitstoffe, die Matrix, verbessern die Löslichkeit. Zudem wird das Hypericin von anderen Bestandteilen sogar in der Wirkung unterstützt. Man könnte hier mit Recht von einer Kooperation der Stoffe sprechen. Und solange wir den ganzen Extrakt der Pflanze haben, besteht auch keine Gefahr der Über-Dosierung, was beim isolierten Wirkstoff rascher passieren kann.

Also Vielfalt statt Einfalt?

Es geht um die Melodie in den Stoffen, ein Netzwerk-Denken im Lebendigen. Und den Sinn dafür zu stärken ist nicht nur eine wissenschaftliche Sache, es ist im Grunde eine kulturelle Aufgabe. Vielfalt stärkt die Resilienz, die Widerstandsfähigkeit bei Vereinseitigungen. Es geht darum, Pluralismus zu pflegen und zu schätzen. Dazu gehören beispielsweise Therapievielfalt, Meinungspluralismus, die künstlerische Vielfalt. Das gilt eben auch im Zusammenspiel der natürlichen Stoffe. Der Reduktionismus dagegen führt überall zur Einschränkung, er kann letzten Endes keinen Respekt vor dem Leben aufbringen. Ich verstehe selbstverständlich den Hang zum Reduktionismus in einer Welt, die immer komplexer wird. Da versuchen wir, Dinge zu vereinfachen. Wenn ich aber zu sehr vereinfache, wird es irgendwann einfach falsch. Ich kann in einer Pflanze jeden einzelnen Inhaltsstoff nachweisen, aber ich weiß dann noch lange nicht, wie der eine Stoff mit dem anderen kooperiert. Ich kann sie dann einzeln beschreiben, habe aber keine Erklärung für ihre Wirkweise. Was machen wir eigentlich, wenn wir reduzieren? Ich bin überzeugt, der Reduktionismus macht es im ersten Schritt einfacher, aber im zweiten Schritt geht das Lebendige verloren.

Sie kooperieren bei der Wala in verschiedenen Kreisen und Kontexten mit Menschen, die an ganz unterschiedlichen Stellen an Naturstoffen tätig sind. Wie arbeiten Sie da zusammen?

Der firmen-unabhängigen Stiftung Integrative Medizin und Pharmazie geht es darum, Mediziner:innen und Pharmazeut:innen aus der Praxis und aus Hochschulen zusammenzubringen, denen es ein Anliegen ist, Komplementärmedizin und Naturstoffe mehr in die Öffentlichkeit zu bringen. Die Ausbildung zu diesen Themen verschwindet zunehmend im akademischen Bereich. Daher möchten wir hier Angebote machen, wie zum Beispiel eine Summer-School, die wir für 2025 geplant haben. Außerdem ist die Arbeitsgruppe zu den Vielstoffgemischen wichtig, wo wir gemeinsam ein Gegengewicht gegen den Reduktionismus in der Naturstoffforschung schaffen wollen. So hat die Initiative beispielsweise intensiv am Thema der ätherischen Öle gearbeitet und dazu veröffentlicht. Die ätherischen Öle duften nicht nur, sie wirken anti-viral und anti-bakteriell und haben vielfältige weitere Wirkungen. Lavendelöl beispielsweise wirkt ent-ängstigend. Sie können mit ätherischen Ölen auch Konservierungsstoffe ersetzen und den Antibiotikaeinsatz verringern. Das sind echte Tausendsassas.

Vor gut 10 Jahren haben wir in der Wala ein Doktorandenkolleg zusammen mit Professoren der Pharmazeutischen Biologie und Technologie für den akademischen Nachwuchs gegründet. Einmal im Jahr haben Jungakademiker:innen die Möglichkeit, sich zu ihren Forschungsprojekten in Bad Boll auszutauschen und sich durch Fragen und Tipps gegenseitig zu unterstützen.

Warum engagiert sich die Wala für diese Aktivitäten?

Die Wala ist überzeugt, dass es Begegnungsräume braucht, um verschiedene Professionen zusammenzubringen, es braucht Multiperspektivität, um die Themen der heutigen Zeit zu lösen. Dies ist Ausdruck unserer Unternehmenskultur. Dieser Einsatz ist uns ein echtes Anliegen, denn der Reduktionismus bedroht inzwischen die Vielfalt, auch in der Forschung. Wir hatten früher eine große Anzahl pharmazeutisch-biologischer Lehrstühle, die die Wirkweisen von Naturstoffen erforscht haben. Das gibt es in Deutschland praktisch nicht mehr. Und es braucht nur zwei Generationen von Studierenden, die nicht zum Potenzial von Naturstoffen unterrichtet werden, dann ist das Wissen verloren, es wird nicht mehr vermittelt und die Lehrbücher werden nicht mehr aktualisiert. Schon jetzt verschwinden Forschungsrichtungen, die Labors werden anders ausgerichtet, die Infrastruktur verschwindet, die Fördergelder bleiben aus, der Nachwuchs fehlt. Auch deshalb baut die Stiftung Integrative Medizin jetzt eine Summer-School auf. ///

Zur Person

Florian Stintzig / Foto: Info3

Florian Stintzing studierte Lebensmitteltechnologie an der Universität Hohenheim, wo er seit 2010 auch außerordentlicher Professor ist. Er kam 2007 zur Wala, ist dort Mitglied der Geschäftsleitung und seit 2012 verantwortlich für den Bereich Wissenschaft.

Zum Unternehmen

Die Wala Heilmittel GmbH wurde 1935 von Dr. Rudolf Hauschka gegründet. Neben den Wala-Arzneimitteln produziert das Unternehmen in Bad Boll seit 1967 auch die auf Hauschka zurückgehenden Kosmetikprodukte. Das Unternehmen ist in Stiftungs-Besitz konstituiert und unverkäuflich.

Dieses Interview erschien in der Ausgabe Juni 2025 der Zeitschrift info3.

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Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.