Von Harald Jäckel
Die Corona-Zeit hat auch in den freien Waldorfschulen, in Waldorfkindergärten und heilpädagogischen Einrichtungen Spuren hinterlassen. Das haben Rückblicke auf durchgeführte Projekte der Organisationsentwicklung in solchen Einrichtungen immer wieder gezeigt. Dem lebendigen, manchmal fast überschäumenden Alltag der Schülerschaft begegnet vielerorts eine Gemeinschaft, die eher vorsichtig, zurückhaltend und wie mit einem feinen Schleier der Unsicherheit bedeckt wirkt. Dieses Spannungsfeld ist nicht zufällig, sondern Ausdruck einer noch nicht vollständig aufgearbeiteten Erfahrung. Es ist naheliegend zu vermuten, dass Konflikte und Spaltungen, die durch die unterschiedlichen Haltungen zu den staatlich verordneten Maßnahmen entstanden sind – etwa Maskenpflicht, Anerkennung oder Nichtanerkennung von Attesten, temporäre Schulschließungen oder Kontaktverbote – in vielen Menschen innerlich weiterwirken. Dazu haben auch die heftigen Angriffe aus den Medien auf die anthroposophische Szene insgesamt beigetragen. Für manche war diese Zeit existenziell verunsichernd, andere haben sie vergleichsweise gelassen durchlebt. Doch die seelischen Nachwirkungen sind, auch wenn die Ereignisse bereits einige Jahre zurückliegen, nach wie vor spürbar.
Besonders groß war die Belastung für Menschen in verantwortungsvollen Funktionen. Vorstände, Schulleitungen oder Mitglieder von verantwortlichen Delegationen mussten in kurzer Zeit weitreichende Entscheidungen treffen, die stets im Spannungsfeld zwischen staatlichen Vorgaben, pädagogischen Prinzipien, den Erwartungen der Elternschaft und den Sorgen von Lehrenden und Lernenden lagen. Diese Entscheidungen waren häufig Dilemmata: Gleichgültig, wie man sich positionierte, es schien, als bliebe am Ende immer ein Teil der Gemeinschaft enttäuscht oder verletzt zurück. Manche Leitungspersonen zogen sich erschüttert aus ihren Ämtern zurück, andere hielten durch und trugen die Spannungen über Monate. Charakteristisch ist dabei, dass die Auseinandersetzungen und Enttäuschungen umso intensiver werden, je stärker eine Einrichtung sich selbst durch hohe Werte definiert. In einem Umfeld wie der Waldorfpädagogik, das einen idealistischen Anspruch an Freiheit, Menschlichkeit und entwicklungsorientierte Bildung erhebt, wiegt jede Entscheidung doppelt schwer, wenn sie in der Wahrnehmung einzelner nicht mit diesen Grundwerten vereinbar erscheint.
Die Spannbreite des Handelns war groß: Einige Verantwortliche versuchten, sich pragmatisch und flexibel an wechselnde Vorgaben anzupassen, um eine mögliche Schließung zu verhindern. Andere setzten Maßnahmen konsequent und ohne Abweichung um, teils im Sinne von vorauseilender Vorsicht. Beide Haltungen waren nachvollziehbar und hatten doch soziale Kosten. Denn jede Form des Handelns erzeugte Bilder, Zuschreibungen und Urteile, die bis heute nachwirken. Bisweilen wurden Entscheidungen nicht als gemeinsamer Kompromiss, sondern als Abwertung der jeweils anderen Position erlebt. Das führte zu Gefühlen von Nichtgesehenwerden, von Ohnmacht oder auch von Misstrauen. Bemerkenswert ist, dass die Art der Positionierung kaum mit der individuellen Verbindung zu anthroposophischen Grundlagen zusammenhing. Angst vor Krankheit und Tod, aber auch das Bedürfnis nach Sicherheit oder Autonomie sind offensichtlich menschliche Grundkonstanten, die weltanschauliche Hintergründe überlagern können.
In der praktischen Umsetzung der Vorgaben entstanden zahlreiche Herausforderungen. Wie sollte zum Beispiel Fremdsprachenunterricht mit Maske gelingen, wenn Mimik und Artikulation Teil des Lernens sind? Wie ließ sich im Sportunterricht die körperliche Bewegungsfreiheit mit Maskenpflicht verbinden? Manche Schulen entwickelten kreative Lösungen: Unterricht im Freien, Ausweichzeiten im Wald, versetzte Pausen, Aufteilung des Pausenhofs in Bereiche oder die Kombination von Pflichtmaskentragen am Vormittag mit freiwilligen Regelungen am Nachmittag. Solche Ansätze zeigen, dass pragmatisches Handeln in Abstimmung mit Behörden durchaus möglich war und dass aus Krisensituationen innovative Ideen entstehen können.
Spaltungen überwinden
Gleichzeitig verdeutlichten die Erfahrungen ein bekanntes Muster, das sich in Veränderungsprozessen oft findet: eine ungefähre Dreiteilung in etwa 25 Prozent Befürwortende, 50 Prozent Unentschlossene und 25 Prozent Ablehnende. Solche Verteilungen sind keine Gesetzmäßigkeit, aber sie helfen, Gruppendynamiken besser zu verstehen. Wichtig ist: Auch wenn die unmittelbare Krise vorbei ist, wirken Spaltungen weiter. Sie bleiben latent bestehen, beeinflussen Diskussionen im Untergrund und können die Handlungsfähigkeit lähmen. Das äußert sich in zögerlicher Beteiligung an der Selbstverwaltung, in einer geringeren Bereitschaft, Verantwortung für Ämter zu übernehmen, und in manchen Fällen sogar in der völligen Abkehr von der Gremienarbeit. Daraus entsteht die Tendenz, Aufgaben zunehmend an Hauptamtliche zu übertragen – bis hin zu Überlegungen, Rektorate einzurichten oder die Personalentwicklung ausschließlich in professionelle Hände zu geben.
Dabei ist gerade die Personalentwicklung ein Schlüsselbereich: Hier geht es nicht nur um die individuelle Förderung einzelner Mitarbeitender, sondern um das Erkennen und Stärken von Potenzialen im gesamten Kollegium und in der Organisation als Ganzer. Personalentwicklung in diesem Sinn bedeutet, Bedingungen zu schaffen, unter denen Menschen und Teams lernen, ihre Entwicklung zunehmend selbst in die Hand zu nehmen. Für eine Waldorfschule, die auf Freiheit und Selbstgestaltung baut, ist das ein zentrales Feld. Werden diese Fragen nicht aktiv aufgegriffen, droht ein Auseinanderklaffen zwischen pädagogischem Ideal und gelebter Praxis.
Ein weiterer kritischer Punkt ist der Umgang mit gesellschaftlichen Fragen. Waldorfschulen sind keine politischen Organisationen; sie stehen über Parteipolitik. Doch gesellschaftliche Konflikte, Fragen nach Wahrheit und Gerechtigkeit, Sicherheit oder Zukunft betreffen auch sie. Wenn diese Themen nicht offen angesprochen werden, entstehen Tabuzonen. Schweigen schützt kurzfristig vor Streit, führt langfristig aber zu Vereinsamung, Sprachlosigkeit und dem Gefühl, heikle Fragen nicht berühren zu dürfen. Mitunter entsteht sogar die Angst, dass ehrliche Offenheit zu Ausgrenzung oder Anklage führen könnte. So entwickelt sich eine Kultur der vorsichtigen Zurückhaltung, die das gemeinsame Ringen um Orientierung schwächt.
Auch im Blick auf Schüler:innen zeigen sich Folgen. Für viele Oberstufenschüler:innen ist das Abitur mit seinen Noten in den Vordergrund gerückt – als vermeintlich entscheidender Schlüssel für die Zukunft. Das führt in Schulen nicht selten zu Schülerschwund und finanziellen Engpässen: Wenn Familien austreten, sich Schülerzahlen verringern oder neue Schüler:innen schwerer zu gewinnen sind, geraten die wirtschaftlichen Grundlagen unter Druck. Im nächsten Schritt kann das zu einer Reduzierung personeller Kapazitäten führen und die Belastung für die Verbleibenden verstärken.
Gleichzeitig ist der Wunsch nach Erneuerung deutlich spürbar. Viele Beteiligte sehnen sich nach mehr Lebendigkeit, frischem Wind und einer Wiederbelebung des gemeinschaftlichen Geistes. In Entwicklungsprozessen werden deshalb neue Strukturen erprobt, die Selbstverwaltung effizienter machen und die Zusammenarbeit zwischen Lehrenden und Eltern stärken sollen. Einerseits gibt es Resignation und Müdigkeit bei potenziell Verantwortlichen, andererseits bilden sich immer wieder Gruppen, die einen Neuanfang suchen. Dabei geht es nicht nur um Prozessoptimierung, sondern um eine innere kulturelle Erneuerung: Wie kann eine Organisation ihren sozialen Zusammenhalt stärken, ihre besonderen Stärken neu entdecken und in einer veränderten Gesellschaft zukunftsfähig bleiben?
Mehr „Wärme“
Ein zentraler Hebel liegt darin, die „Wärmequalität“ im sozialen Miteinander zu fördern. Eine Möglichkeit dazu ist die bewusste Aufarbeitung der Vergangenheit. An einzelnen Schulen finden bereits Dialogrunden statt, in denen Befürworter und Kritiker der damaligen Maßnahmen in kleinen Gruppen zusammenkommen. Ziel ist nicht, recht zu behalten, sondern Verständnis zu entwickeln: für Wahrnehmungen, für Ängste, für Bedürfnisse, für Entscheidungen. Solche Dialoge können neue Freiräume eröffnen und die Basis für eine erneuerte Zusammenarbeit legen. Doch sie brauchen Mut – und nicht alle sind dazu bereit. Immer wieder gibt es Stimmen, die sagen: „Mit dieser Person setze ich mich nie mehr an einen Tisch.“ Solche Blockaden zeigen, wie tief Verletzungen reichen. Dennoch gilt: Jede Begegnung, die gelingt, hat das Potenzial, den sozialen Organismus zu heilen.
Die Motivation für Erneuerung liegt in der eigenen Verbindung zur Identität der Organisation. Wer versteht, was Waldorfschule ist, was sie will und was sie im Kern trägt, kann aus dieser Verbindung Kraft schöpfen. Eine bewusste Auseinandersetzung mit den Werten, aber auch mit der Diskrepanz zwischen formuliertem Anspruch und gelebter Realität eröffnet Chancen für gemeinsame Weiterentwicklung. Wesentlich ist, diese Werte nicht als starres Regelwerk zu begreifen, sondern als lebendige Orientierung, die immer wieder neu überprüft und angepasst werden muss. Ihre Umsetzung ist kein einmaliger Schritt, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Er verlangt Geduld, Bereitschaft zur Selbstreflexion und das Vertrauen darauf, dass im Dialog, trotz aller Unterschiede, immer auch Gemeinsamkeiten entdeckt werden können. Dort, wo dies gelingt, entsteht jene soziale Wärme, die eine Schulgemeinschaft trägt – gerade in kritischen Zeiten. ///
Ein Artikel aus der Ausgabe 11/2025 der Zeitschrift info3.
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Harald Jäckel ist Experte für Organisationsentwicklung, Führung und Konfliktmanagement. Seit über 30 Jahren begleitet er Organisationen in komplexen Veränderungsprozessen. Dabei liegt der Fokus immer dreigliedrig auf dem kulturellen und mentalen Konzept, dem sozialen Gefüge und den operativen Prozessen.
Kontakt: www.trigon.at/berater/harald-jaeckel/

