Schon beim Titel der neuen 90 Minuten arte-Doku über Rudolf Steiner („Geheimakte Rudolf Steiner“) hatte ich ein etwas mulmiges Gefühl: Erwartet uns nun ein Enthüllungskrimi, in dem man einem dunklen Geheimnis auf die Spur kommt oder soll ein „Dunkelmann“ und seine Missetaten ans Licht des Tages gezerrt werden? Wenn man sich die Biografie der Regisseurin Anna Pflüger anschaut, würde das erstmal Sinn machen, denn sie hat sich bisher nicht mit Spiritualität beschäftigt, sondern Dokus mit Titeln wie „Mord ohne Beweise“ oder „Auf der Spur des Verbrechens – Forensiker im Einsatz“ gedreht.
Ein neuer Held der TikTok-Generation?
Doch für dieses Mal hat sie sich etwas ganz anderes einfallen lassen: Steiner soll in einem ganz modernen, hippen Licht gezeigt werden, als „Influencer“ und „Content Creator“ der vor über 100 Jahren ähnlich gehandelt habe wie heutige Internet-Aktivisten. Diese Doku erzählt nichts von den Geheimnissen der Anthroposophie, sondern spiegelt eher die verzweifelten Versuche des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, den Schwund seiner jüngeren Zuschauer mit allen Mitteln auszugleichen. Und das soll hier gelingen, indem man Jargon und Stil der sozialen Medien benutzt und bei jeder Gelegenheit unreflektiert Rudolf Steiner überstülpt.
So werden alle historischen Wochenschau-Aufnahmen in den visuellen Rahmen eines Instagram- Accounts eingebettet, damit der Smartphone-Benutzer wie durch ein vertrautes Fenster in die damalige Zeit hineinschauen kann. Steiners eigene Aussagen erscheinen auf dem Display eines Handys, Zeichentrickaufnahmen geben dem Film den Touch eines Comic-Streifens und eine ständig bewegte Kamera lässt keine Sekunde kontemplativer Ruhe aufkommen, wie sie doch viele Texte von Steiner ausstrahlen.
Anthroposophie als Marketing-Gag
Alles ist auf ultradynamischen Zeitgeist gebügelt und dabei scheut man auch vor regelrechten Fehlinformationen nicht zurück. So reduziert Marlis Jahnke, eine Spezialistin für Online-Kommunikation, Steiners Nietzsche-Rezeption auf den Ehrgeiz eines cleveren „Marketing-Strategen“, der mithilfe des damals berühmten Denkers seine eigene „Marke“ aufgebaut hätte. Steiner habe sich mit dem Namen des „Star-Philosophen“ nur geschmückt, ihn geschickt mit seinem verknüpft, um mehr Aufmerksamkeit zu erringen: „Heute würde man das einen RePost nennen“ so Jahnke, „das kann man machen, aber wenn man auf die Algorithmen guckt, dann ist das nie so erfolgreich, als wenn man einen originären eigenen Post hat.“
Steiner war also nicht originell, sondern ein gewiefter Plagiator und Werbeprofi, der sich gerne mit fremden Federn schmückte. Unterschlagen wird, dass er sich in seinem Buch „Friedrich Nietzsche – Ein Kämpfer gegen seine Zeit“ durchaus kompetent mit dem Philosophen auseinandergesetzt und ihn keineswegs nur zur Steigerung von Aufmerksamkeit missbraucht hat.
Alles ein bisschen zu schief und zu flach
Im Film kommen noch zahlreiche andere Schieflagen vor, etwa wenn der Politikwissenschaftler Maurice Schuhmann zur Theosophie nichts anderes zu sagen weiß, als dass aus ihr neo-satanische Sekten, Ron Hubbards Scientology sowie die okkulten Irrlehren des SS-Chefs Heinrich Himmler hervorgegangen seien. Wieviel Anregungen die Theosophie, außer für Steiner, auch für namhafte KünstlerInnen wie Hilma af Klint, Wassily Kandinsky, Piet Mondrian, James Joyce, Henry Miller, Alexander Skrjabin und William Butler Yeats bereithielt, wird einfach unterschlagen.
Insgesamt hat man bei der Doku das Gefühl, dass es sich eher um eine Auftragsarbeit handelt, als dass sich die Filmemacherin Anna Pflüger wirklich mit der Anthroposophie beschäftigt hat. Und wegen dieses fehlenden inneren Bezuges gestaltet sich das Ganze auch eher zu einem Parforce-Ritt durch Steiners Biographie, wobei besonders viel Zeit auf dessen „wilde“ Berliner Jahre verwendet wird. Hier gelingen durchaus ein paar berührende Momente, wie auch bei der Schilderung von Steiners aufopferungsvoller Arbeit als Hauslehrer bei der jüdischen Familie Specht, deren Sohn behindert war.
Kratzen an der Oberfläche
Doch Mittelpunkt der Doku ist keineswegs Steiners weitläufiges esoterisches Gedankengebäude, das immerhin 90 Prozent seines Werkes ausmacht, sondern die „Praxisfelder“ Waldorfpädagogik, biodynamische Landwirtschaft und anthroposophische Medizin. Aber auch hier wird manches verkürzt dargestellt, so sagt etwa der Anthroposophie-Forscher Helmut Zander: „‘Pseudowissenschaft’ ist der tödliche Vorwurf gegen die anthroposophische Medizin. Und man kann das, glaube ich, verstehen, weil vieles, was in der anthroposophischen Medizin passiert, mit unseren wissenschaftlichen Methoden nicht nachweisbar ist.“ Dass sich die von Steiner konzipierte Heilkunst als eine „komplementäre Medizin“ versteht, die gerade alternative und schulmedizinische Methoden kombinieren will, bleibt außen vor.
So bleibt bei dem einerseits so coolen „Influencer“ Steiner doch immer ein dunkler Fleck haften, der ihn am Ende eher als umtriebigen Plagiator ausweist, denn als einen ernsthaften spirituell Suchenden. In rastloser Manier streift der Film nur Oberflächen und dringt nie wirklich in die spirituellen Tiefen von Steiners Werk vor. Man ahnt, dass die Autorin wohl geradezu vor der Lektüre anthroposophischer Werke zurückgeschreckt ist, in denen es – wie es einmal raunend heißt – von Engeln, Mythen und Göttern wimmelt.
Altbekanntes und ein Lichtblick
Doch die spannende Frage, wie man etwa Begriffe wie Reinkarnation, Karma, Ätherleib, Astralleib, Steiners Engel, Erzengel und Elementarwesen als Bildsprache für zeitgenössische spirituelle Erfahrungen vermitteln könnte, bleibt unbeantwortet. Der Zuschauer bekommt hierzu nur vorwiegend kritische Kommentare der altbekannten Anthroposophie-Experten Helmut Zander und Ansgar Martins zu hören, die man aber bereits alle kennt.
Interessanter fallen die Bemerkungen des Leiters des Steiner-Archivs in Dornach, David Marc Hoffmann, aus. Dieser berichtet am Schluss, dass Steiner wohl an Krebs gestorben sei, was die anthroposophische Community lange zu verbergen suchte, weil sich ja ein „Eingeweihter“ selbst heilen könne: „Ich finde das läppisch bis skandalös, dass darüber nicht gesprochen werden durfte“, so Hoffmann, „das zeigt, in welchem Maß das eine im negativen Sinne Weltanschauungsgesellschaft war. Wir alle sterben und auch Rudolf Steiner muss an etwas sterben – und das ist auch richtig so.“
Geheimakte Rudolf Steiner ist bis zum 24. Juni 2025 in der arte-Mediathek abrufbar.