Neulich bin ich 70 Jahre alt geworden und habe mit meiner Familie, mit Kindern und Enkeln ein schönes Fest gefeiert. Ich erfreue mich relativ guter Gesundheit, bin dank Kieser-Training und Nordic Walking recht fit und noch klar im Kopf. Also meistens.
„70?“, sagen die Leute, „da ändert sich doch nichts, ist doch nur eine Zahl … Ich finde, Sie sehen jünger aus … Auf die nächsten 70 Jahre!“ Und so weiter. Sicher gut gemeint. Mich beeindruckt die Zahl. „Unser Leben währet 70 Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s 80 Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.“ So heißt es im Psalm 90,10 nach Luther. Seit längerem achte ich beim Überfliegen der Todesanzeigen in der Tageszeitung vor allem auf den Geburtsjahrgang. Die Einschläge kommen näher. Was sagt die Statistik? Die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt in Deutschland belief sich 2020 für Männer auf 78,5 und für Frauen auf 83,4 Jahre. Mein Vater wurde 81, meine Mutter 97 Jahre alt. Manche sagen, dann wirst du 89, die Mitte dazwischen. Dann hätte ich also noch 19 Jahre. Allerdings: Meine beiden Brüder sind mit 70 und 76 Jahren gestorben. Scheint auch keine verlässliche Regel zu sein.
Jeden Abend trete ich noch einmal vor die Haustüre und wende meinen Blick zum Himmel. Neulich wurde mir bewusst, dass ich auch das Firmament nicht mehr sehen werde, wenn ich tot bin. Die Sterne werden für mich erlöschen. Da wurde ich traurig. Ausgerechnet der Himmel! Die Mitmenschen, die Natur, die Kunst, ok, klar, aber der Himmel!? Nicht nur ich werde sterben, sondern die ganze Welt, wie ich sie kenne, wird für mich untergehen. Selbst zum Lesen und Schreiben fehlt dann die Grundlage. Ja, sicher, ich kenne tröstende Aussagen über das Sterben und das Nachtodliche. Aber wissen?
Habe ich Angst vor dem Tod? Ich bin mir nicht sicher. Manchmal, wenn ich darüber nachdenke, sehr, manchmal gar nicht. Das Wissen um meine Endlichkeit macht das Leben kostbar. Ich empfinde große Dankbarkeit gegenüber der wunderschönen Welt und den vortrefflichen Menschen. Die Wunder der Natur berühren mich viel tiefer als früher. Wie oft wird es mir noch vergönnt sein, meinen geliebten Herbst zu erleben?! Ich fühle Liebe zu Menschen und freue mich, wenn sie sie annehmen – und wenn ich geliebt werde. Ich spüre die Qualitäten von Licht, Wärme und Kälte auf meiner Haut, den rauschenden Regen, den leise fallenden Schnee und sage, ja, ich habe alles, was man sich wünschen kann. Und das wird dann alles vorbei sein. Endlichkeit schafft Dankbarkeit. Ich lebe zunehmend in der Er-Innerung, im Ge-Danken.
Der Tod ist uns unverzichtbar. In der neuen Morgenstern-Romanserie von Karl-Ove Knausgaard erscheint nicht nur ein neuer Stern am Himmel, der alles verändert; nach und nach wird auch klar, dass niemand mehr stirbt. Eine subtil entwickelte Horrorvorstellung!
Wilhelm Schmid, ein Philosoph, der sehr lebenspraktisch denkt, schreibt ganz am Ende seines Buches Mit sich selbst befreundet sein sinngemäß: Wir wissen nicht, was nach dem Tode ist. Da wir es aber nicht wissen, kann ebenso gut etwas sein wie nichts sein. Dann beschreibt er, dass es für den einzelnen Menschen dennoch entscheidend ist, mit welchen Gedanken und Vorstellungen er persönlich auf den Tod zugeht. Für mich sind das auch Rudolf Steiners Gedanken dazu. Wenn ich nicht akut todkrank bin, ist die ohnehin nicht beantwortbare Frage, wann ich sterben werde, nicht so wichtig. Als mein Bruder mit 70 Jahren gestorben war, sprachen wir bei Tisch darüber, dass das doch viel zu früh sei. Da sagte mein damals zehnjähriger Sohn: „Jeder Mensch stirbt am Ende seines Lebens.“ So ist es.
Dieser Beitrag stammt aus der info3-Ausgabe Juni 2025.