Julian Eimert, wie arbeiten Sie mit Jugendlichen und was macht den Zauber des Ansatzes von interAKUT aus?
Wir gestalten Übergänge für Jugendliche aus der Jugendhilfe, wenn es akut wird, also wenn sie zum Beispiel nicht mehr in einer Wohngruppe betreut werden können. Besonders ist, dass wir individual-pädagogische Einzelbetreuungen von Jungen zwischen zehn und achtzehn Jahren anbieten, die im Rahmen von Reiseprojekten unterwegs stattfinden. Wichtig sind uns dabei feste Regeln, eine deutlich erkennbare Tagesstruktur und ein positives Menschenbild. Hinzu kommt, dass wir die Jugendlichen in einer naturnahen Umgebung betreuen, die ihnen hilft, sich zu regulieren.
Warum der Naturkontakt? Brauchen diese „schwierigen“ Jugendlichen nicht eher eine gute Form von „Kultur“, die sie wieder einfängt?
Die Natur ist der Raum, in dem viele meiner Jugendlichen erstmals wieder sie selbst sein können. Sie wirkt entschleunigend, klärend und strukturierend. Ein Zeltplatz mit klaren Aufgaben kann oft mehr bewirken als ein gut designter Gruppenraum mit Sofa. Zudem bekommen die Jungen durch unseren Ansatz auch mit einer bestimmten wertschätzenden Form von Kultur in Berührung, die nicht vom äußeren Raum abhängig ist.
Warum sind Sie Pädagoge geworden – und nicht etwa Pilot oder Dachdecker?
Ursprünglich wollte ich tatsächlich Pilot werden, aber dafür fehlten mir einige Voraussetzungen. Entscheidend für die Pädagogik war ein Gespräch mit meiner Mutter, als ich etwa 16 Jahre alt war. Sie sagte zu mir: „Werde doch Erzieher, dann kannst du beruflich machen, was du eh den ganzen Tag tust.“ Ich war nämlich damals Gruppenleiter bei den Pfadfindern und beim Kinder- und Jugendzirkus Ubuntu aktiv. Die Idee, diese Erfahrungen mit einer fachlichen Ausbildung zu verbinden, hat mir eingeleuchtet. Einige Zeit habe ich in Berlin Pantomime und Jonglage studiert, um meine künstlerische Seite weiterzuentwickeln.
Erleben Sie Pädagogik auch als Kunst – als Erziehungskunst?
Unbedingt. Pädagogik braucht Fingerspitzengefühl, Kreativität und Ideenreichtum – vor allem, um herausfordernde Situationen in eine gesunde Richtung zu lenken. Gerade bei den Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, geht es oft um existenzielle Fragen: Wie wird ein Alltag überhaupt lebbar? Wie wird ein Mensch wieder handlungsfähig? Die Kunst besteht darin, nicht mit Druck zu arbeiten, sondern mit Sog – also nicht zu sagen: „Das darfst du nicht?“, sondern herauszufinden: „Was willst du?“
Wie genau funktioniert das? Beobachten Sie die Jugendlichen zunächst, um die Quellen ihrer Begeisterung zu erkennen?
Genau. Wir arbeiten mit freiberuflichen pädagogischen Fachkräften, die viel Zeit mit dem Kind oder dem Jugendlichen verbringen können – mehr als etwa in klassischen Wohngruppen. Jeder Pädagoge bringt seine eigenen Interessen mit in die Arbeit: Jonglage, Musik, Modellbau, Handwerk – und genau darüber entsteht oft ein erster Zugang. In den ersten ein bis drei Tagen zeigt sich meist sehr schnell, was die Jugendlichen interessiert. Auch wenn jemand anfangs alles verweigert, setzen wir auf den gemeinsamen Alltag und Vorbildwirkung: Der Pädagoge streicht zum Beispiel einen Zaun, und nach wenigen Minuten fragt der Jugendliche: „Darf ich auch mitmachen?“ – selbst wenn er vorher komplett dichtgemacht hat.
Das heißt, die Vorbildfunktion ist entscheidend. Müssen Ihre Pädagoginnen und Pädagogen also besonders reif oder sogar „erleuchtet“ sein?
Im Gegenteil. Wir suchen Menschen, die das Leben selbst schon intensiv erlebt haben – inklusive Krisen. Menschen, die wissen, wie sich Überforderung anfühlt, die aber trotzdem oder gerade deshalb in schwierigen Momenten Zuversicht ausstrahlen. Denn viele unserer Jugendlichen sind hochsensibel und bindungstraumatisiert. Sie spüren sofort, wenn ihr Gegenüber ängstlich ist – dann kippt die Situation, und das Kind übernimmt die Kontrolle, weil es das aus seinem Überlebensmodus kennt. Deshalb brauchen wir Erwachsene, die innerlich stabil sind, Verantwortung übernehmen und klare Strukturen bieten – nicht autoritär, sondern als sichere Leitplanken im Tagesablauf.
Also arbeiten Sie mit einer Kombination aus Klarheit und Begeisterung?
Ja. Es geht um verlässliche Rituale und klare Strukturen, die aber nicht starr wirken, sondern wie ein wohltönender Akkord: harmonisch, verlässlich und sinnvoll. Diese Mischung aus Lebendigkeit und Sicherheit ist zentral – gerade für Jugendliche, die zuvor oft zahlreiche Betreuungsinstitutionen „gesprengt“ haben. Mit diesem Ansatz gelingt es uns häufig, wieder Vertrauen und Stabilität herzustellen.
Sie bieten Reiseprojekte an, die nicht dauerhaft ausgerichtet sind. Warum funktioniert dieser Ansatz für die Jungen besser als ein stabiler, fester Ort?

Unsere Stabilität entsteht durch Beziehung, nicht durch Bindung. Wir sagen den Kindern ganz klar: „Ihr bleibt nicht für immer bei uns.“ Das kommunizieren wir täglich. Stattdessen entsteht eine temporäre Beheimatung über die gemeinsame Reise – vom Bauernhof zum Campingplatz zur Ferienwohnung. Dieses In-Bewegung-Bleiben entlastet auch die soziale Umgebung. Denn je länger manche Jugendliche an einem Ort bleiben, desto schneller verfallen sie in alte Muster: Stehlen, Sachbeschädigung oder versteckte Aggression. Die Konstante bleibt der sogenannte Intensivpädagoge – unsere „Pflegeperson auf Zeit“.
Das heißt, Rituale geben Rhythmus und strahlen auch ein temporäres Zuhause aus?
Richtig. Wir arbeiten unter anderem mit dem Ritual des „Fotoalbums“: Jeden Freitag reflektieren wir gemeinsam die Woche, mit Fotos, um Selbstwirksamkeit zu stärken – „Was habe ich geschafft?“ statt „Was lief schief?“. Wir haben Kartoffeln geerntet und davon Bilder gemacht, die wir jetzt Revue passieren lassen, das sind Erfolgserlebnisse für die Jungen und die Betreuungspersonen. Unser Ansatz ist positive Pädagogik. Wir hatten zum Beispiel einen elfjährigen Jungen mit starker Impulsstörung. Wenn er tritt oder schlägt, dann reagieren wir auf die Handlung, sagen nichts Verurteilendes über seinen Wesenskern. Kein „Wirf nicht den Stein“ oder gar „Du bist schlecht!“, sondern: „Leg‘ den Stein hin!“ Das ist ein positiver Ansatz, der sich über viele Jahre hinweg bewährt hat.
Sie haben einmal ein Tiny House mit einem Jugendlichen gebaut, richtig?
Ja, am Anfang unserer Tätigkeit: Der Junge hatte schon mehrere Betreuungen durchlaufen, keine war stabil. Vom Jugendamt kam der Hinweis: „Der Junge muss in die Nähe der Geschäftsstelle – er ist vorbestraft, aber noch keine 18.“ Man dachte an forensische Unterbringung. Ich habe mit einem kleinen Team – ein Theaterpädagoge, ein Jugendpsychologe, ein Dachdecker und ein Erzieher waren dabei – neun Monate lang mit ihm ein Tiny House gebaut. Wir haben nach dem Prinzip gearbeitet: „Du musst nicht mitmachen, aber zusehen.“ Er durfte unter Aufsicht Werkzeuge benutzen. Klar, da flog auch mal ein Akkuschrauber. Aber wir haben ihn nicht bestraft, sondern gesagt: „Reparier ihn und bau weiter!“ Am Ende schenkte ich ihm den Akkuschrauber in einem grünen Metabo-Koffer, er war so stolz darauf! Diese Erfahrung hat ihn geprägt. Heute ist er Friseur ohne Schulabschluss, aber mit Erfolg. Wir sind oft nur ein Baustein, aber ein wichtiger.
Warum sind es fast immer Jungen, die Sie betreuen?
Wir haben uns bewusst auf Jungen spezialisiert, weil dort ein Riesenbedarf ist. In vielen Wohngruppen gehen sie unter – Mitarbeiter sind überfordert, es fehlen Strukturen, Personal, Zeit. Unser Ansatz ist exklusiv, fast familienanalog: Zwei, drei Personen betreuen rund um die Uhr, individuell und mit voller Aufmerksamkeit.
Was ist das eigentlich für eine Gesellschaft, die überhaupt solche schwierigen Biografien erzeugt?
Familiäre Netzwerke, die in anderen Ländern solche Kinder auffangen würden, fehlen hier oft. In vielen Kulturen leisten Dorfgemeinschaften oder Großfamilien diese Arbeit. In Deutschland übernimmt das die Jugendhilfe, aber sie kann familiäre Strukturen nicht komplett ersetzen.
Nehmen Sie alle Fälle auf oder sind manche zu schwerwiegend?
Wichtig ist mir zunächst: Wir nehmen Menschen auf, keine Fälle! InterAKUT ist spezialisiert auf Hochrisikoklientel, ja. Aber was mich interessiert, ist der Mensch hinter dem Verhalten. Durch Gutachten und andere Mechanismen verhindern wir, dass wir Jugendliche betreuen müssen, die wir nicht mehr händeln können. Das kann im Einzelfall vorkommen, hier ist nur noch eine Unterbringung in einer forensischen psychiatrischen Einrichtung vorgesehen.
Wann ist für Sie eine Betreuung geglückt?
Ich erinnere mich an einen Jungen, der schon SEK-Einsätze verursacht hatte. Schwer traumatisiert, Eltern geistig behindert. Ich habe ihn mit meinem Team aus einer geschlossenen Einrichtung abgeholt. Bei der vierten Anbahnung mit einer Pflegefamilie wollte er nicht aus dem Auto steigen – nicht mal sein Bezugsbetreuer konnte ihn bewegen. Ich habe ihn mit viel Fingerspitzengefühl, Bewegung, kleinen Tricks und einem Handstandwettbewerb mit dem Sohn der Pflegefamilie erreicht. Seine einzige Frage war: „Baut der Pflegevater mit mir einen Roboter?“ Der Vater sagte: „Habe ich noch nie gemacht, aber wir kriegen das zusammen hin.“ Das war ein Gänsehautmoment. Der Junge hat sich später bedankt: „Danke, dass du mir die Chance gegeben und mich aus dem Auto gekriegt hast.“ Für mich war das eine Sternstunde. Da hat alles, was ich je gelernt habe, zusammengewirkt.
Gibt es etwas, das Pädagog:innen von diesen Jugendlichen lernen können?
Ja – Zuversicht. Die Jungen kommen meist hoffnungslos zu uns, ihre Ursprungsfamilien sind oft Orte, wo soziale Wärme kaum vorhanden ist, Überforderung herrscht – gewissermaßen die Orte im sozialen Organismus, wo die Sonne selten oder nie hinscheint. Dass all diese Hoffnungslosigkeit doch nicht das Ende bedeuten muss, sondern viel Lebenswille und Kreativität dahinterstecken, ist erhebend für unsere Pädagog:innen. Durch unseren Ansatz erleben die Jungen Selbstwirksamkeit, Kraft und Begeisterung, das wirkt ansteckend. Ein Kollege sagte mal nach einem Baumhausbau mit einem Jugendlichen: „Ich erlebe hier die beste Zeit meines Lebens.“ Viele erleben ihre eigene Kindheit neu. Diese Energie berührt und beflügelt uns alle.
Spielen Spiritualität und Anthroposophie eine Rolle in Ihrer Arbeit?
Ja, auf jeden Fall. Viele unserer Mitarbeitenden empfinden ihre Arbeit als tief sinnstiftend. Die Vorstellung, dass wir aus einer geistigen Motivation heraus handeln, vielleicht sogar karmisch verbunden mit diesen Kindern, stärkt unsere Haltung. Ich glaube, dass wir für die Kinder da sind, für die es sonst niemanden mehr gibt. Und das ist unsere Aufgabe: „Ich begleite dich ein Wegstück und du hast die Möglichkeit, durch Vorbildwirkung und durch meine innere, eigene Geisteshaltung zu wachsen und zu lernen, ein eigenes, freies Erwachsenenleben auf der Erde führen zu können.“ Die Anthroposophie ist für mich als Gründer von interAKUT wichtig, aber keine Methode, sondern eine innere Haltung. Ich sehe im Kind ein werdendes, individuelles Wesen mit eigener Biografie.
Blicken Sie eher mit Dankbarkeit oder mit Stress auf Ihre herausfordernde Arbeit?
Mit Dankbarkeit: ich möchte den Menschen danken, die sich auf diese herausfordernde Arbeit einlassen. Zwei, drei Monate, rund um die Uhr, mit vollem Engagement. Für diese Menschen will ich einstehen und sie willkommen heißen in unserem Netzwerk. ///
Ein Interview aus der Ausgabe Juni 2025 der Zeitschrift info3