Bei der Vielzahl von brisanten Themen wie Krieg, Klimawandel und Identitätssuche gerät manchmal aus dem Blick, dass wir alle diese Spannungsfelder überwiegend durch Medien wahrnehmen. Vielleicht täuscht der Eindruck, dass wir eine Zunahme an Krisen haben, weil eigentlich ein anderes Phänomen dahintersteckt: eine wirkliche Krise der Medien. Sind vielleicht weniger die Augen das Problem als die Brille?
Unsere Welt wandelt sich in den letzten Jahrzehnten stark. Die Medien, der Journalismus, die öffentliche Debatte wollen uns diese komplexe Welt verständlich machen. Allerdings – so die These dieses Textes – verschlimmbessern sie die Situation eher als zu helfen. Um nur ein paar Probleme beim Namen zu nennen: Die Masse der Nachrichten, Beiträge und Meldungen hat so zugenommen, dass sie kaum noch zu bewältigen ist. Abstumpfung, Falschinformationen und Mediensucht sind nur einige der Folgen. Die Konzentration der Besitzverhältnisse im Medienbereich auf wenige Technologie- und Medienkonzerne macht auch Nicht-Marxisten klar, dass die ökonomische Dimension Einzug in den Medienbereich gehalten hat. Jede Meldung, jeder Post, jeder Artikel wird letztlich in quantitativen Größen gemessen. Angeblich geht es um Qualität, Recherche, Resonanz, aber diese müssen am Ende in der Zahl (Einschaltquote, Aufrufe, Verkaufszahlen) aufgehen. Hier täte etwas mehr Dreigliederung gut: Mediale Inhalte sind Kultur- und Geistestatsachen, sie sollten nicht als wirtschaftliche Waren angesehen werden. Weil sie das immer mehr werden, entstehen aber fragwürdige Folgeeffekte, die vom ursprünglichen Sinn von Medien wegführen: die Wirklichkeit darzustellen, zu informieren, zur Meinungsbildung anzuregen – also zum selbstständigen, wachen Mitdenken. Stattdessen sind die ökonomisch orientierten Medien dem Netzwerkeffekt verfallen: Mehr Nutzer ziehen mehr Nutzer an, was den Wert des Mediums weiter steigert. Wenn mehr Menschen eine bestimmte Nachrichtenwebsite besuchen, steigt deren Werbewert, was wiederum mehr Einnahmen für die Website bedeutet. Wer in dieser sogenannten Aufmerksamkeitsökonomie die Nase vorn hat, dem geht es auch in der Ökonomie der harten Währungen gut.
Mediale Polschmelze
Durch diese Effekte steigen Medien mehr und mehr in Kampagnen ein, die sich hochschaukeln und selbst verstärken. Was einmal Aufmerksamkeit gebündelt hat, wird so lange verbreitet, bis die Aufmerksamkeit wieder abebbt. Auch gegen die Anthroposophie konnte man in den letzten Jahren eine kampagnenhaft anmutende mediale Breitseite beobachten. Denkt man den aktuellen Status Quo der Medien mit, hat diese Kritik nur zu einem gewissen Teil mit einer sachlichen oder weltanschaulichen Fragestellung zu tun, vielmehr ist sie ein Ergebnis der Suche nach Aufmerksamkeitspotenzialen. Unterschiedlichkeit ist hier entscheidend: je abweichender eine Person, eine Gruppe oder Szene ist, umso mehr eignet sie sich zum Erzeugen von Aufmerksamkeit.
Die Hitzigkeit, die dabei am Werke ist, kann man Polarisierung nennen. Allerdings hat diese wenig mit Polaritäten zu tun, denn eigentlich handelt es sich um das Aufeinanderprallen von Gegensätzen. Gegensätze sind starr und festgeschrieben, Polaritäten hingegen lebendig und dialogbereit. Medial wird eine Gegensätzlichkeit festgeschrieben, zum Beispiel zwischen rechts und links, zwischen wissenschaftlich und verschwörungstheoretisch oder zwischen Impfbefürworterinnen und Impfgegnern. Diese wird dann auf der Jagd nach Aufmerksamkeit gesteigert und künstlich am Leben gehalten, um mehr Reaktionen zu erzeugen. Bei aller Hitzigkeit ist das ein abgekartetes, kaltes Spiel; Polarkälte sozusagen. Die Gegensätze stehen in keiner fruchtbaren Spannung zueinander. Wer einmal in einer medialen Schublade ist, kommt selten unbeschadet wieder heraus. Demgegenüber sind Polaritäten wie Interesse: Wo ein wirkliches Interesse am Anderen des Anderen wirkt, kommen Polaritäten in Wallung, anverwandeln sich die Polaritäten und ein Drittes entsteht aus ihnen. Auf die Polarisierung will eigentlich die Lösung folgen, nicht die Verhärtung. Wir brauchen eine mediale Polschmelze! Aber wo sind Lösungen verhärteter Debatten in Sicht, solange die Medienwelt an ihrer Klärung gar kein Interesse hat? Wie könnte eine den Menschen in seiner Entwicklung unterstützende Journalismus- und Medienkultur aussehen? Was können wir dafür tun?
Goethes Medien
Bei Goethe entdeckte Rudolf Steiner die Begriffe Polarität und Steigerung und reicherte sie selbst mit seiner originellen Interpretation an: Alles Materielle hat einander widerstreitende Pole, so wie die Erde einen Nord- und Südpol hat. Diese Polaritäten nehmen durch Entwicklung neue Formen an, die zu höherer Komplexität, Bewusstheit und Schönheit führen – das ist die Steigerung. Der Geist kann die innere Verbindung zwischen den Formen verstehen und gestalten, wirkt selber steigernd. Er sieht die Gesetzmäßigkeiten, die zwischen Blatt, Blüte und Frucht wirken, obwohl ihre logische Verbindung dem ungeübten Auge nicht offensichtlich ist. Hätten wir es hier mit unveränderlichen Gegensätzen zu tun, könnte keine Entwicklung stattfinden. Die Polaritäten sind offen für Entwicklung.
Übertragen auf die Frage der Medien heißt das: Selbst wenn sehr unterschiedliche Interessen und Weltanschauungen in der Öffentlichkeit miteinander um die Gunst der Menschen buhlen, sollten sie offen füreinander bleiben, sich der medialen Festschreibung entziehen und dazu einladen, sich vom Anderen verwandeln zu lassen. Donald Trump, der ein mexikanisches Restaurant aufmacht oder Christian Drosten, der zu Impfschäden forscht? Das wären wirkliche Steigerungen!
Um aus der kalten Logik der festgeschriebenen Gegensätze auszubrechen, können unkonventionelle Ansätze hilfreich sein. Medien im Sinne warmer Polaritäten würden ihrer Leser-, Hörer- und Zuschauerschaft Möglichkeiten der Steigerung anbieten, also die Polaritäten, die in ihr selber liegen, zur Entfaltung bringen. Je mehr Polaritäten ein Magazin, ein Podcast, ein soziales Medium in sich versammeln und halten kann, ohne in festschreibende Shitstorms und Kampagnen hineinzugleiten, umso menschlicher und entwicklungsfördernder kann es sein. Je umfassender die Menschen die Spannung der Polaritäten wahrnehmen und in neue Formen verwandeln können, desto menschlicher und schöpferischer werden sie. Der Mensch wird so selbst zum Medium für Entwicklung. Machen wir die Medien menschlicher, werden die Menschen vielleicht zu Medien für Entwicklung von Welt und Geist – die für Goethe natürlich eins waren, oder besser: Polaritäten der einen Substanz, die sich in der Welt verzweigt und höhere Einheiten kreiert. ///
Ein Text aus der Ausgabe Oktober 2023 der Zeitschrift info3.
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