Herr Häfner, wie haben Sie die Idee der Sozialen Dreigliederung kennengelernt und was hat Sie an ihr begeistert?
Ich bin ja 1956 geboren und aufgewachsen in den 60er und 70er Jahren. In der Zeit meiner Pubertät war halb Deutschland auf der Straße – auch ich habe mir die Haare wachsen lassen, trug Stirnband, vielfach geflickte Jeans und protestierte gegen den Vietnamkrieg, gegen die Regierung, gegen den Kapitalismus, war ein hochpolitischer Mensch. Ich habe mir, als ich noch Schüler war, alle politischen Gruppen von rechts bis links angeschaut, bin da einfach hingefahren, weil ich dachte, dass da bestimmt Leute sind, von denen ich was lernen kann. Aber dort bekam ich das Gefühl: Das ist alles 19. Jahrhundert, alles nicht das, was ich suche. Bis ich dann auf das Internationale Kulturzentrum Achberg (INKA) aufmerksam gemacht wurde und dorthin fuhr. Das INKA war damals eine Gedankenschmiede für gesellschaftliche Fragen auf anthroposophischem Hintergrund, an der u.a. Peter Schilinsky, Joseph Beuys und Wilfried Heidt beteiligt waren und wo die Funken nur so flogen. Wilfried Heidt lud mich gleich zum Essen ein und dann saßen wir da von mittags bis nachts, sprachen ohne Ende, und ich fühlte, ich bin geistig zu Hause angekommen. Ich hatte einen Ort gefunden, wo man in politischen Fragen ganz ähnlich dachte wie ich, nämlich nicht: Freiheit gegen Sozialismus – mit dem Slogan Freiheit oder Sozialismus wurde damals ja sogar der Bundestagswahlkampf geführt –, sondern: Wie können Freiheit, echte Demokratie und tiefe Sozialität realisiert werden? Endlich fand ich Menschen, die so dachten, schon präziser als ich, und dafür viel klarere Begriffe hatten. Also fragte ich: Was steckt dahinter? Heidt gab mir Die Kernpunkte der sozialen Frage von Rudolf Steiner. Damit begann eine lebenslange Beziehung nicht nur mit diesem Buch, sondern auch mit diesem Menschen, Rudolf Steiner, und ein lebenslanges Forschen und Arbeiten mit diesen total lebendigen Ideen und der Frage: Wie finden sie den Weg in die Wirklichkeit?
Sie haben sie damals auf Anhieb als lebendige Ideen auffassen können, und so sind sie Ihnen auch entgegengebracht worden?
Da habe ich jetzt etwas idealisiert (lacht). So spannend diese Überwindung des Gegensatzes von Kapitalismus und Sozialismus ist, habe ich mich doch zunächst über die Neigung lustig gemacht, alles in drei teilen zu wollen. Als Gegensatz entwickelte ich 5-, 7-, und 12-Gliederungen und fand die erst mal genauso evident. Je mehr ich aber den Menschen und die Gesellschaft untersuchte, desto mehr fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich glaube, die Dreigliederung versteht man sowieso völlig falsch, wenn man sie nominalistisch versteht, dann wird es eine Dreiteilung. Die Dreigliederung muss man auf einer anderen Ebene verstehen. Sie ist etwas zutiefst Lebendiges, etwas Systemisches. Es ist da nicht an eine Gliederung im Sinne einer Teilung gedacht, sondern daran, wie lebendige Prozesse aus verschiedenen Quellen hervorgehen und in verschiedenen Bereichen ihrer Eigen-Gesetzmäßigkeit nach je eigene Formen bilden können.
Der Ansatz, wie man Sozialismus und Kapitalismus zusammenbekommt, liegt darin, dass sie in verschiedene Bereiche gehören. Wie ist das genau?
Das war eine wirklich epochale Tat von Rudolf Steiner, der ja bis dahin eher als philosophischer Kopf, geistiger Lehrer und Vortragsredner bekannt war. Dieser Mann widmete sich gegen Ende des Ersten Weltkrieges plötzlich ganz der Heilung des sozialen und politischen Lebens, weil sonst die Menschheit auf einen Abgrund zusteuere. Das erste Mal formulierte Rudolf Steiner die Idee der sozialen Dreigliederung 1917. Warum? 1917 traten die USA in den Ersten Weltkrieg ein und Präsident Wilson verkündete seine 14 Punkte. Damit begann ihr Aufstieg zur Weltmacht – und die Idee, dass die ganze Welt nach ihrem westlichen System und unter ihrer Führung gut und erfolgreich werden sollte. 1917, im gleichen Jahr, kam Lenin nach Russland. Nach Oktoberrevolution und Sieg der Bolschewisten folgte der Aufbau des Sozialismus – ebenfalls mit globalem Anspruch. Die Welt riss in zwei Teile. Mit der Zeit wurde der Graben zwischen Ost und West immer tiefer. Sie entwickelten sich auseinander. Der Kapitalismus glaubt: Wenn jeder nur seinem Eigennutzen folgt, entsteht das größtmögliche Glück für alle. Der Sozialismus dagegen schafft jedes Privatinteresse und -eigentum ab. Er sieht gerade hier den Keim des Bösen. Alles wird zentral, staatlich von oben geplant. Die zwei menschlichen Grundpole, Freiheit und Sozialorientierung, beide berechtigt, wurden zu Gegensätzen erklärt und auseinandergerissen. Das zerriss den Menschen, die Gesellschaft, die Geschichte. Der Mensch ist eben nicht frei oder sozial, er ist beides, ein freies und soziales Wesen. Ohne andere Menschen, die sich um uns kümmern, für uns sorgen, könnten wir überhaupt nicht leben. Auch ohne Freiheit können wir nicht leben, denn dann verlieren wir unser Menschentum. Wie also kann Gesellschaft sich so entwickeln, dass nicht entweder das eine oder das andere Platz hat, sondern dass beides sich in Korrespondenz miteinander entwickeln kann?
Das gelingt durch Dreigliederung des sozialen Organismus, also dadurch, dass man begreift, dass Freiheit vor allem zu tun hat mit dem geistigen Wesen des Menschen, seiner Persönlichkeit, seinen Fähigkeiten, also mit all dem, was in der Gesellschaft Kultur ist, Wissenschaft, Kunst, Religion. Da muss absolute Freiheit herrschen. Und dass gleichzeitig das Soziale mit dem zu tun hat, dessen wir bedürfen – dass wir darauf angewiesen sind, dass unendlich viele Menschen für uns tätig sind, damit wir Kleidung haben, Essen, ein Dach über dem Kopf, und wir umgekehrt soviel als möglich für andere tun. Das heißt: am wirtschaftlichen Pol der Gesellschaft ist die Geschwisterlichkeit das tragende Fundament, weswegen Wirtschaftsleben nach diesem Gesichtspunkt organisiert sein muss, genauso wie das Geistesleben nach dem Gesichtspunkt der Freiheit.
Das sind jetzt erst zwei Bereiche. Was ist der Dritte?
Das ist das Rechtsleben. Hier geht es um das Verhältnis von Mensch zu Mensch – nicht zu den Göttern oder zu Ideen, nicht zur Erde. Man könnte hier darauf hinweisen, dass ja auch wir Menschen dreigliedrig sind – nehmen wir nur unsere drei Seelenfähigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens. Unter einem bestimmten Gesichtspunkt könnte man sagen: Damit der Mensch sich selbstständig im Denken entwickeln kann, braucht es ein Freies Geistesleben; damit er in Austausch und Verbundenheit mit dem Ganzen sein Wollen entwickeln kann, braucht es eine brüderliche Wirtschaft. Im Handeln schreiben wir uns in den Weltzusammenhang ein. All unser Tun hat Folgen über uns hinaus. Wir brauchen und wir geben: Hier sind wir in der Sphäre, die Rudolf Steiner in der Dreigliederung als das Wirtschaftsleben bezeichnet hat. Wirtschaft ist Konsumption und Produktion. In ihr geht es um das Soziale, das Mit- und Füreinander. Das schließt die Pflanzen, die Tiere, das Ganze mit ein. Gehen wir jetzt vom Denken und Wollen zum Fühlen, dann kommen wir in unsere Mitte. Auch in die Mitte zwischen oben und unten. Hier geht es um Empfindung, Resonanz, Relation. Wenn ich anfange, nicht nur mich zu fühlen, sondern wirklich den anderen – dann bilde ich die Brücke, die Verbindung zum anderen. Dann lebt der Andere in mir und ich im Anderen. Aus dieser Urgeste entsteht das Rechtsleben der Gesellschaft, kommen Bürger- und Menschenrechte, die Demokratie. Hier ist die Gleichheit aller die zentrale Maxime.
Steiner hat in der Ausgestaltung dieser Idee sehr viele konkrete Vorschläge gemacht, die auch teilweise als Rezepte aufgefasst wurden. Sie haben aber vorhin gesagt, es ist eigentlich ein Prozess. Was meint denn das?
Es ist eben keine Ideologie, kein Parteiprogramm, keine Liste von Spiegelstrichen, die man abhakt, und dann ist die Dreigliederung da. Gesellschaft ist ohnehin nie fertig, sie entwickelt sich. Wir lernen gemeinsam. Um diesen Prozess geht es. Nach innen geht es um einen Sinneswandel: Ich muss mein Denken so erweitern, dass das Geistige darin Platz hat, mein Fühlen so, dass die anderen darin Platz haben, mein Wollen so, dass ich in Verbundenheit und Einklang mit dem Ganzen handle. Für die Gesellschaft heißt das: wir müssen sie von Grund auf verändern. Nehmen wir nochmal das unserer derzeitigen Wirtschaftsordnung zugrunde liegende Prinzip, dass der größte Nutzen für alle entsteht, wenn jeder Einzelne seinen Eigennutzen verfolgt. Doch wenn jede/r nur an sich denkt und die Verantwortlichkeit für das Ganze verliert, zerstören wir die Erde, das Klima, das Soziale und am Ende uns selbst. Wenn wir aber in der Wirtschaft statt Eigennutz, Konkurrenz und Profit Zusammenarbeit anstreben, Win-Win-Situationen, die für uns und für das Ganze gut sind – dann kommen wir ins Gesunde, wird es für uns, die anderen und die Erde gut.
Ist es nicht sehr unwahrscheinlich, dass man ein geschwisterliches Wirtschaftsleben demnächst einführen könnte?
Im Gegenteil: Die Menschen sind heute viel weiter als die Verhältnisse! Ich glaube, dass es relativ einfach wäre, neue Regeln einzuführen. Ich bin sogar überzeugt, dass die meisten Menschen sich das unbewusst wünschen. Aber wie? Den Menschen fehlen heute überzeugende Ideen und Zukunftsbilder.
Welches wären denn die entscheidenden Schrauben, an denen zu drehen wäre?
Ich nenne drei Schrauben, an denen ich selbst zur Zeit tätig bin – einfach, weil ich sie für die drei wichtigsten halte.
Da ist erstens die Eigentumsfrage. Wir folgen seit dem alten Rom einer falschen Eigentumsvorstellung. Dabei definieren wir Eigentum so, dass es mir das Recht gibt, über eine Sache frei zu verfügen, alle anderen von ihrer Nutzung auszuschließen und alle Früchte, die daraus hervorgehen, erneut mein Eigentum zu nennen. In bestimmten Bereichen ist das sinnvoll. Aber der Eigentumsbegriff wurde so sehr ausgeweitet, dass heute alles, zum Beispiel auch lebendige Natur, Bodenschätze, Unternehmen, Erfindungen, Rechte oder unsere Kommunikationsräume als Eigentum gehandhabt wird. Aber wie ist das bei der Natur, dem Wasser, dem Silizium oder dem Internet? Wem gehört das denn? Heute werden Dinge zu Waren gemacht, die es gar nicht sind – das hat dramatische Folgen für die ökologische und soziale Situation der Menschheit und des Planeten. Der Marxismus antwortete auf die Probleme beim Eigentum an Produktionsmitteln platt mit der Abschaffung des Privateigentums. So ging es vom Regen in die Traufe. Auch die Freiheit war dahin. Bloße Negation hilft nicht. Vielmehr gilt es, jenseits der zwei bisherigen Konstruktionen Privateigentum oder Staatseigentum völlig neue Formen zu entwickeln, besonders was unser Verhältnis zum Boden, zur Erde, zu den Pflanzen, aber auch zu Unternehmen oder anderen Menschen betrifft.
In diese Richtung gehen ja auch die Bestrebungen der Stiftung Verantwortungseigentum.
Genau. Das ist eine aktuelle Initiative aus dieser Idee – sie will eine ganz neue Regelung: Unternehmen in Verantwortungseigentum gehören quasi sich selbst. Sie sind soziale Organismen. Die Eigentümer können sie nicht verkaufen oder vererben, wohl aber an Fähige weitergeben. Auch die Entnahmen sind nicht unbeschränkt. Da sind wir schon auf dem Weg. Inzwischen arbeiten wir an weiteren Aspekten der Eigentums-Frage: Wem gehört, was unter der Erde ist? Wem, was im Meer ist? Auf dem Mond? Im All? Wem gehört der Himmel? Wem die Nacht? Wenn wir da nicht bald zeitgemäße Lösungen entwickeln, liegt hier der Anlass zu künftigen Kriegen und Konflikten, genau wie heute schon beim Zugang zu Erdöl, Wasser oder Uran. Wir brauchen sachgerechte, menschheitlich und sozial verantwortliche Regelungen, bevor es zu spät ist.
Welche ist die zweite Schraube?
Das zweite zentrale Thema ist die Demokratiefrage. Wie lässt sich Gesellschaft so weiterentwickeln, dass wir jede Form von Macht überwinden, der Mensch also nicht mehr Objekt fremden Wollens ist, sondern jeder Mensch sich als gleichwertiger Mitgestalter erleben kann? Können Selbstbestimmung und Selbstverwaltung den Boden eines künftigen Rechtslebens bilden? Denn eigentlich kann heute nur noch das als Recht gelten, woran jeder davon betroffene Mensch die Möglichkeit hatte, mitzuwirken. Also braucht es eine Weiterentwicklung der Demokratie – von partizipativer, deliberativer Demokratie, Bürgerbeteiligung, Bürgerräten bis hin zu direkter Demokratie: Wir wollen nicht mehr nur die Stimme an politische Parteien oder Persönlichkeiten abgeben müssen, sondern auch in Sachfragen unmittelbar entscheiden können!
Auch hier gibt es eine sehr konkrete Initiative, nämlich Mehr Demokratie, die Sie initiiert haben und deren Vorstandssprecher Sie lange waren.
Mich hat diese Frage schon als Schüler beschäftigt, als wir das Grundgesetz durchgenommen haben, in dem von Wahlen und Abstimmungen die Rede war – da fiel mir auf, dass es auf Bundesebene gar keine Abstimmungen gab. Das hat mich aufgerüttelt und ich habe angefangen nachzuforschen. Als mir das Ergebnis klar vor Augen stand, gründete ich nach mehreren Vorstufen die Organisation Mehr Demokratie, die kürzlich auch durch ihren Einsatz für Bürgerräte wieder bekannt geworden ist. Wir konnten die Republik von Grund auf ändern und erreichen, dass es heute zumindest in allen Gemeinden und Bundesländern Instrumente direkter Beteiligung gibt.
Und die dritte Schraube?
Das ist die Schraube, von der ich meine, dass sie aktuell mit jedem Tag wichtiger wird. Hier liegt mein gegenwärtiges Hauptarbeitsfeld und ich kann noch am wenigsten von Ergebnissen sprechen. Ich spreche vom Geistesleben. Denken wir nur an die Corona-Zeit, die fehlende offene Debatte auch zu Ukraine oder Palästina, an die Verfolgung und Sanktionierung unkonventioneller Gedanken, Personen, Medien, Professorinnen, das Verbot von Veranstaltungen, die neue wachsende Enge im Denken und Sprechen. Vor allem geht es hier auch um die Frage: Wie können wir den Materialismus und Reduktionismus im Denken überwinden? Wie wieder zu einer echten Freiheit des Geistes und der Wissenschaft kommen? Wie diese schreckliche Verengung des Denkens überwinden, die alles nur von seiner Außenseite, seiner materiellen Erscheinung, seiner Vergangenheit her beschreibt und die glaubt, die ganze Wirklichkeit durch Zählen, Messen, Wiegen und Systematisieren erfassen zu können. Und damit das Wesentliche – Lebendige, Seelische, Geistige, Spirituelle – leugnet. Das bedeutet, dass wir eine Wissenschaft des Lebendigen und des Spirituellen entwickeln müssen, gerade auch in den Sozialwissenschaften. Dazu gehört auch, dass das Denken, Schulen und Universitäten, Wissenschaft und Kunst nicht vom Staat bestimmt werden, auch nicht von wirtschaftlichen Interessen, sondern von der Freiheit für Fragen und der Suche nach Wegen zu adäquaten Antworten. Wir brauchen neue, nicht staatlich bestimmte, sondern freie, selbstverwaltete Formen. Dann wird auch Universität wieder etwas Lebendiges und werden Medien wieder interessanter.
Das waren jetzt drei Schrauben, eine fürs Wirtschaftsleben, eine fürs Rechtsleben und eine fürs Geistesleben. Wann haben Sie denn verstanden, dass es drei Glieder sind und nicht fünf oder sieben oder zwölf?
Das war ein Prozess immer tieferen Verstehens – und es wächst immer weiter. Heute ist es mir klar wie die Sonne, und trotzdem bin ich damit nicht zu Ende. Eigentlich sind die drei Glieder ja eines, tief verbunden – und zugleich sind es eben diese drei. Das ist wie mit der Trinität im Christentum. ///
Gerald Häfner, Jahrgang 1956, studierte Germanistik, Sozialwissenschaften, Philosophie und Waldorfpädagogik in München, Bochum und Witten. Er war Mitbegründer der Partei Die Grünen und Gründer sowie viele Jahre Vorstandssprecher von Mehr Demokratie. Zwischen 1987 und 2002 war er dreimal Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 2009 bis 2014 saß er im Europäischen Parlament. Seit 2015 leitet er die Sozialwissenschaftliche Sektion am Goetheanum in Dornach/Schweiz.
Ein Artikel aus der Septemberausgabe 2024 der Zeitschrift Info3.
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