Von Kevin Reindl-Hammel
Dunkelheit, ein Kind betritt die Bühne. Es ist die Hauptfigur des Abends und stellt uns die Frage: „Warum seid ihr hier? Ich meine, warum gehen Leute ins Theater?“ Mit dieser Fragestellung wird es uns am Ende des Stückes wieder konfrontieren und sich als ein Wesen präsentieren, das auch durch Rudolf Steiner gesprochen hat. Aber beginnen wir am Anfang.
Mit Die Erziehung des Rudolf Steiner brachte das Schauspiel Stuttgart am 12. Oktober 2024 ein Auftragswerk des Theaterkollektivs Dead Center auf die Bühne. Das britisch-irische Duo Ben Kidd und Bush Moukarzel verbindet dabei historische Ereignisse mit einem Spiel aus Fakten und Fiktion – ein Markenzeichen ihrer Werke.
Die Handlung entwickelt sich um eine junge Familie, die kürzlich nach Stuttgart gezogen ist. Der Vater (Philipp Hauß) ist Arzt, die Mutter (Therese Dörr) noch auf dem Weg der Selbstfindung. Das Kind (Flinn Naunheim) besucht die Waldorfschule. Die Familie trifft im Laufe des Stücks auf die Schwester des Vaters (Mina Pecik) und ihren Partner (Felix Strobel), einen „Querdenker“. Aus diesen Begegnungen entwickeln sich unterschiedlichste Konflikte, an welche Lebensstationen Rudolf Steiners anknüpfen. Zudem spielt das Stück auf mehreren Ebenen: die Erziehungs- und Beziehungskonflikte junger Eltern, der Kontext der Waldorfschule und der Anthroposophie und Szenen aus Rudolf Steiners Leben. Diese Ebenen wechseln teilweise sehr schnell und es kommt zu Überlagerungen. Dazwischen werden Fragestellungen aus der Anthroposophie eingestreut.
Der Abend wird von dem Kind, das sich als Flinn und später als Rudolf Steiner in einer neuen Inkarnation vorstellt, geleitet, wodurch die Grenze zwischen Realität und Fiktion sehr früh verschwimmt. Die ausgeklügelte Bühnentechnik unterstützt diesen Effekt. Eine leere schwarze Bühne wird von einem Spiegel halbiert. Während das Kind vor dem Spiegel agiert, spielt das Geschehen im Spiegelbild dahinter. Menschen erscheinen und verschwinden, interagieren mit ihm, doch es bleibt immer allein – ein vereinfachtes, aber eindrucksvolles Bild einer uns umgebenden geistigen Welt.
Die Stärke der Handlung wird durch die schauspielerische Leistung des Ensembles unterstrichen, die durchweg überzeugend ist. Dabei zeigt sich besonders in den Szenen, welche aus den alltäglichen Routinen ausbrechen, was das Ensemble leisten kann. Ein besonders kluger Griff ist die Besetzung Steiners durch ein Kind. Dadurch hat es von Anfang an die Sympathie des Publikums auf seiner Seite.
Die Herausforderung der Inszenierung besteht in der untrennbaren Durchmischung von Fakten und Fiktion. Eine fast schon groteske Szene spielt sich ab, als der rauchende Emil Molt dem kleinen Jungen (alias Rudolf Steiner) vorschlägt eine Schule zu gründen. Aber doch bitte ohne diese „interessanten“ Ideen wie Atlantis und Co. Er wüsste ja, es gebe sonst Probleme mit den Behörden und außerdem verschrecke es die Leute. Steiner willigt ein, aber nur unter gewissen Bedingungen, unter anderem muss ein Bild von ihm in der Schule aufgehängt werden. Die ganze Szene ist so slapstickhaft, dass man sie gar nicht ernst nehmen kann. Aber gleichzeitig zeigt sich hinter dem Humor die heute verbreitete Kritik, projiziert in damalige Vorgänge.
Ja, Steines Vater war Bahnwärter, seine Tante starb früh und er hatte, nach eigenen Aussagen, diesbezüglich schon als Kind hellseherische Wahrnehmungen. Aber die Reinkarnationstheorie knapp erklärt als eine schlichte Wiederholung eines bereits früheren Lebens? Wo bleibt da einer der Kerngedanken der Reinkarnation, die Entwicklung? Die verübte Gewalt des Vaters am Kind als vorgeburtlichen Wunsch des Kindes? Dazu die Anthroposophie als eine „Idee, dass wir in die Vergangenheit zurück müssen um die Gegenwart zu verstehen“? Da entsteht die Frage, was hier von der Anthroposophie wirklich verstanden wurde. Genauso die metaphysische Öffnung am Ende durch ein höheres Wesen, das offenbar Rudolf Steiner nur als ein Sprachrohr verwendet hat. Braucht es das?
Trotz dieser Schwierigkeiten besticht das Stück durch seine freilassende Art der Inhalte. In dieser offenen Form wird auch der Bezug der Querdenker-Szene zur Anthroposophie thematisiert. Es entwickelt sich ein Dialog darüber, was es bedeutet anders zu denken, insbesondere über die Sehnsucht der Menschen nach der Wahrheit und dem „Blick auf das Dahinter“. Der Verweis darauf, dass diese verborgenen Wahrheiten als Einfallstor für Fake News und Desinformationen dienen können, geschieht ohne anzuklagen, assoziativ und frei. Aber auch die zwischenmenschlichen Momente und das Behandeln von Daseinsfragen sind eindeutige Stärken des Stückes.
Das Publikum erlebt einen Abend, der die Erziehung eines Kindes, das Dasein als Eltern und die Herausforderungen des Alltags thematisiert und zugleich ein Lob auf die Kunstform des Theaters und ihre technischen Möglichkeiten ist. Wird der Abend spielerisch verstanden, lässt er Raum für eigene Gedanken und unterhält durch seine humorvolle Art. Möchte ich aber wirklich bewegt und ergriffen werden, hat es dieses Stück leider nicht geschafft. Womit wir wieder bei der anfänglichen Frage wären: Warum bin ich hier? Und warum gehe ich ins Theater? ///