Einhundert Begegnungen

Blick auf die Zeltstadt zum 100. Todestag Steiners in Stuttgart. Foto: Silke Mondovits/Info3

Das Festival zu Steiners einhundertstem Todestag in der Stuttgarter Innenstadt war ein großangelegter Raum der Begegnung: unter Freunden, unter Seelenverwandten und mit der ganz normalen Welt der Großstadt.

Es braucht nicht nur ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen, sondern es braucht zunächst einmal Kinder, damit überhaupt ein Dorf entstehen kann. Ähnlich verhält es sich mit der Anthroposophie und ihrem Gründer Rudolf Steiner. Hätte es ihn nicht gegeben, wären vielfältige Praxisimpulse, die das Antlitz des 20. und 21. Jahrhunderts prägen, nicht möglich gewesen. Wes Geistes Kind und welch vielseitige Persönlichkeit er war, wurde vom 28. bis 30. April auf dem Stuttgarter Schlossplatz in einem großen Fest erkundet.

Mein Plan, die Veranstaltung vor allem in Begegnungen auf mich wirken zu lassen, geht voll auf: Bereits im Zug nach Stuttgart treffe ich auf Wolfgang Müller, der pünktlich zum Jubiläum sein neues Buch Das Rätsel Rudolf Steiner herausgebracht hat. Wir sind uns noch nie vorher persönlich begegnet, aber Steiner bringt uns leibhaftig zusammen. In unserem Gespräch über die Zukunftsfähigkeit der Anthroposophie berichtet Wolfgang Müller, wie er persönlich zur Anthroposophie gefunden hat und was er an ihr schätzt: die Erkenntnis der Verbundenheit, der Einbettung des Menschseins in größere Zusammenhänge – eine Art „Weltbeleuchtungsfähigkeit“, weil eben erst aus diesem größeren Bild unser Dasein verständlicher und lesbarer wird. Aber auch ihre Aufgaben bleiben nicht unbenannt: die Anthroposophie sei stark von der Sprache und dem Denken des 19. Jahrhunderts geprägt, die letzten einhundert Jahre habe sie zu wenig auf eine Aktualisierung ihrer Denkansätze verwendet und so viele Jahre verschlafen. Nach Gesprächen über ost- und westdeutsches Denken verabschieden wir uns, um uns später in der Szenerie des Schlossplatzes wieder zu sehen.

Mitten in der städtischsten Innenstadt Stuttgarts, das bekanntlich ein urbaner Talkessel ist, in dem viel zu Vieles gedrängt seinen Platz zu finden versucht, haben die Anthroposophische Gesellschaft und andere Organisationen diverse Zelte, Bühnen und Food-Trucks aufgebaut. Es sind buchstäblich Massen an Menschen, die sich über die drei Tage durch die Schlossstraße wühlen und wie Insekten in die Zelte und vor die Bühne gelockt werden. Der satte Geruch der Demeter-Burger, Klänge von der Hauptbühne, Gedanken, die aus der Steiner-Leseperformance, wo Lieblingsstellen aus seinen Werken gelesen werden, nach außen dringen, bewegen die Menschen zum Innehalten und Staunen. Besonders beliebt im Einfangen der Aufmerksamkeit ist das Zelt des Wassers, wo das Strömungsinstitut Herrischried seine Kollektion an faszinierenden Wasserspielen aufgebaut hat. Oder haben Sie schon einmal mitten im Strudel der Menschen eine wunderschön gedrehte Wassersäule erschaffen? Der Fluss der Menschen und der Fluss des Wassers bieten einen guten Einstieg in das Wirken Steiners.

Geradezu erschlagend ist das Angebot, nomadengleich lassen sich die Menschen von Zelt zu Zelt treiben. Ob im Zelt der Gesundheit, im Zelt der Berufsorientierung, der Bewegungskünste, der Kleinkindpädagogik, überall gibt es etwas zu entdecken oder wiederzuerinnern. Monika Elbert, Generalsekretärin der Anthroposophischen Gesellschaft, hat ein erleichtertes Lächeln auf den Lippen, weil die Veranstaltung nach so viel Mühen der Vorbereitung doch auf positive Resonanz stößt. Ihre Mitstreiter Sebastian Knust und Matthias Niedermann, die als Dream-Team die Veranstaltung maßgeblich auf die Beine gestellt haben, sehen deutlich müder aus als gewohnt, wirken aber auch beseelt von der Dimension des Festes. „Viele Menschen aus Stuttgart waren dankbar, dass auf dem Schlossplatz ein harmonisches und friedvolles Geschehen stattfinden konnte, wo sonst eher Demos, Gewalt, Alkohol die Atmosphäre prägen. Ich glaube, es hat es eine große, auch über die Veranstaltung hinauswirkende Bedeutung, wenn drei Tage lang eine Atmosphäre des Miteinanders und gegenseitigen Respektes herrscht“, resümiert Monika Elbert.

Vor der Bühne, wo von Eurythmie bis Rap-Musik alles Mögliche geboten wird, spreche ich mit Michael Schmock, der schon vor einigen Jahren als Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft die Vision eines Steiner-Jubiläums auf dem Schlossplatz aus der Taufe hob. In der Mitte der Gesellschaft sollte das Steiner-Jubiläum stattfinden, ganz nach anthroposophischer Tradition. Trotzdem hätten einige ihn für verrückt erklärt, so ein Unterfangen im Herzen Stuttgarts umsetzen zu wollen. Aber es ist geglückt, trotz aller Hürden der Bürokratie und Finanzierung, resümiert er erleichtert in meine Richtung, während er an einer Zigarette zieht.

Sollte es der Anthroposophie gelingen, so in der Mitte der Gesellschaft anzukommen und wahrgenommen zu werden wie hier in Stuttgart, braucht man sich um ihre Zukunft keine Gedanken zu machen. Abends lausche ich luftigem Swing-Jazz im Stadtpalais, wo die Ausstellung Anthroposophie – Stuttgart. Waldorf. Globuli noch bis 21. September die Spuren der Anthroposophie in Stuttgart aufsucht. Noch später am Abend wird mit einigen Festival-Mitwirkenden in einer stimmungsvollen Bar über die Potenziale von Mensch und Maschine philosophiert. „Was ist der Mensch?“ schwebt also über dem Anlass des Festes, über der Frage „Wer war Rudolf Steiner?“

Zu den menschlichen Begegnungen kommen für Manche noch spirituelle Begegnungen hinzu: Im eigens errichteten Zelt der Spiritualität, einer improvisierten Zeltkirche, nehme ich am Sonntagmorgen an der Menschenweihehandlung teil. Der Andrang ist groß, bei schönem Frühlingssonnenschein finden längst nicht alle Platz. Aliki Kristalli von der Christengemeinschaft Stuttgart führt durch die Handlung. Draußen erwacht der Schlossplatz, erste Spaziergänger:innen flanieren über den Platz, Security-Männer poltern unsanft durch die Gassen zwischen den Zelten, erste Klänge dringen von der Kulturbühne zu uns herüber. Und in all dem findet in aller Seelenruhe die Menschenweihehandlung statt mit einer flammenden Predigt von Tom Tritschel, der als Kernbotschaft mitbringt: Frieden entsteht erst, wenn Vielfalt statt Trennung herrscht. Zugespitzt: „Entweder haben alle Recht oder keiner“, was er Werner Küppers vom ebenfalls angerollten Omnibus für direkte Demokratie oder wahlweise Jesus im Tempel abgelauscht haben will.

Mittlerweile hat sich eine schöne Festivalstimmung breit gemacht und das Ganze könnte gut und gerne noch eine Woche weitergehen. Den Organisator:innen ist der Kraftakt zwar anzusehen, aber sie wirken befreit und hingegeben an den Charme der Szenerie, dem man sich schwer entziehen kann. „Vielfalt lieben“ lautet das Motto der Veranstaltung, was schon durch die Auswahl des Settings geglückt ist: Wie Anthroposophie und ihre Praxisfelder inmitten der Stuttgarter Allerwelts-Innenstadt ihren Platz einnehmen, ohne dabei aufdringlich zu sein, macht Hoffnung für die Bewahrung und Förderung des anthroposophischen Impulses in den nächsten hundert Jahren. Davon weiß auch das Lied, das wir in der Menschenweihehandlung zum Abschluss singen: „Siehe, wie das Korn in dunkle Erde fällt / Wie es leise sinket in das Herz der Welt.“ Dort heißt es am Ende: „Liebe wird zum Keim, der still die Welt erneut.“ Es bleibt dabei: Die wichtigsten Begegnungen finden wohl – nicht nur hier in Stuttgart – im Stillen statt. ///

Ein Text aus der Ausgabe 5/2025 der Zeitschrift info3.

Über den Autor / die Autorin

Alexander Capistran

Alexander Capistran studierte Philosophie in Berlin, an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues und an der Universität Witten/Herdecke. Er
arbeitet als Organisationsentwickler bei Gravitage.org und als
Publizist, lebt bei Dresden und promoviert über die Philosophie der
Mobilität. Seit Januar 2021 ist er Mitarbeiter in der info3-Redaktion.