Demeter in der Zeitendämmerung

Zeitschrift info3, Ausgabe Juni 2025: Demeter im Wandel
Foto: Demeter

Ueli Hurter, Vorstand am Goetheanum und Leiter der Sektion für Landwirtschaft in Dornach, sieht die biodynamische Bewegung und Demeter gefordert, sich grundlegend neu aufzustellen. Seine Vorstellung dazu: Gemeinschaften formen, über die Hofgrenzen hinaus. Damit könnte der Öko-Pionier wieder zur gesellschaftlichen Avantgarde werden.

Von Ueli Hurter

Wir stehen in einer Zeitendämmerung. Eine Zeit, die wir mitgeprägt haben, ist am Verdämmern. Eine neue, noch unbekannte Zeit beginnt aufzudämmern. Die Zeit, die in der Biobranche seit den 1970er Jahren zu einem kontinuierlichen Aufbau geführt hat, scheint zu vergehen. Nach der langen Inkubationszeit seit dem Landwirtschaftlichen Kurs 1924 kam es ab den 1970er Jahren zur Entwicklung einer breiten, vielfältigen ökologischen und biodynamischen Bewegung mit vielen jungen Menschen, die aus der Stadt aufs Land drängten. Die Höfe waren soziale Labore. Innovativ wurden Hofgemeinschaften, Ausbildungen und Forschung in die Welt gestellt. Um Gründergestalten herum, die an der Schnittstelle von assoziativer Wirtschaft und biodynamischer Landwirtschaft ihr Lebensthema fanden, entstand in Deutschland und einigen anderen Ländern der Biofachhandel. Verarbeiter, Läden, Regionalverteiler, Importeure blühten auf. Mit der Gründung von Demeter-International im Jahr 1997 konnte Demeter seine Stärke als weltweite Markengemeinschaft festigen. Die Marke wurde Schrittmacher unter den diversen Biolabeln, Avantgarde in Qualitätstiefe und Qualitätsbreite – und zunehmend attraktiv für breitere Bevölkerungsschichten. Alle Kennzahlen gingen kontinuierlich nach oben, bis sie dann nach dem Boom am Anfang der Covid-Zeit wieder stark abgeknickt sind.

Wenn wir deshalb von der Bio-Krise sprechen, trifft das die Situation nur halb. Diese Entwicklung ist Teilaspekt einer größeren, komplexeren Umwertung in der Gesellschaft. Die Biodynamiker waren in den fünf Jahrzehnten von 1970 bis 2020 Teil einer gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik, die der Soziologe Blühdorn als die sozio-ökologische Transformation bezeichnet. Ihm zufolge ist bei stetig steigendem Wohlstand und weiterer Individualisierung gleichzeitig eine kontinuierliche Verbesserung der sozialen und der ökologischen Parameter (Boden, Wasser, Luft, Energie, Klima) möglich. Dieses öko-emanzipatorische Projekt ist mittlerweile offenbar gestoppt. Nun beherrscht mehr und mehr ein anderes Narrativ die Kommunikation. Es spricht gegen eine inklusive Gesellschaft, gegen eine weitere Individualisierung, gegen ökologische Anstrengungen. Das charakterisiert die postmoderne Krise. Das Alte trägt nicht mehr und das Neue stellt sich als bedrohlich dar.

In einer solchen Zeitendämmerung ist es normal, sie als Krise zu erleben. Jede Branche, jede Organisation, jeder Verband wird durch diese Krise gehen müssen. Die Frage ist nur: Können wir die Krise als Chance sehen und nutzen? Kann es zu einer heilsamen Katharsis kommen? Nehmen wir die Herausforderung an, trauern wir nicht nur über die vergangene Zeit? Versuchen wir die neue Zeit zu verstehen, versuchen wir ihre positiven Aspekte zu entdecken, legen wir unseren Kern frei, damit aus dem vor über 100 Jahren gepflanzten Wurzel-Stock der Biodynamik neue Triebe ausschlagen können? Was kann an diesen neuen Trieben blühen?

Durchstoßen zum Du

Ein Kernaspekt des biodynamischen Impulses liegt darin, dass ein persönliches Verhältnis errungen werden soll (und kann) zu den Lebewesen und den Lebensprozessen auf dem landwirtschaftlichen Betrieb. Dies ist eine genuine Quelle für die Arbeit an und mit der Erde. In ein persönliches Verhältnis treten heißt, so nahezutreten, dass man Du sagen kann. Du ist tiefer und direkter als Es. Wenn die Bäuerin oder der Bauer beispielsweise durchstoßen kann zum Du des Kompostes und er ihr zeigt, wann der Umschlagpunkt von Abbau zu Aufbau ist, dann hört sie hinein in die tiefen Bassstimmen der Hof-Symphonie und kann mit der Verwendung von verschiedenen Reifegraden die oberen Stimmen der Kulturen gezielt fördern. Wenn ich durchstoße zum Du der feineren atmosphärischen Nuancen in meinem Weinberg, beispielsweise erkenne, wie sich diese auswirken auf den Feuchtigkeitsfilm auf den Blättern, dann kann aus dieser Intimität höhere Qualität dank weniger Pilzbefall resultieren. Wenn ich durchstoße zum Du des Stieres, dann habe ich Zugang zum Wesen der Herde und ich kann sie ruhiger und gesünder über die Weiden führen. Bei alldem geht es um eine Agronomie, die zur Landbaukunst wird. Sie bringt weniger Kosten durch direkteren Lebensbezug und auch höhere Qualität durch feinere Beobachtung. Aber nicht nur. Dahinter steht die Freundschaft. Es geht um ein tieferes Verständnis, ein Verständnis jenseits der kausalen Rationalität, ein Verständnis, welches das unbegreifliche Mysterium würdigt. Es geht um ein selbständiges spirituelles Verhältnis zur Du-Welt, zur Wesenswelt des Hofes, der Erde und des Kosmos.

You never farm alone!

Komplementär zur intimen forscherischen Präsenz für das Du der Welt gilt: Du bist nicht allein, wenn du Landwirtschaft machst. Aber die Gemeinschaften, zu denen Du gehörst, die zu Dir gehören, siehst Du noch nicht unmittelbar. Sie sind verborgen, verborgen in Anstellungsverhältnissen unter Kollegen, verborgen in Erbschaftsverhältnissen was das Landeigentum betrifft, verborgen in Marktmechanismen was die Produkte betrifft, vielleicht verborgen in Glaubenssätzen was die spirituelle Dimension der Landarbeit betrifft.

Es ist jetzt Zeit, diese Gemeinschaften sichtbar zu machen. Und das heißt, sie zu denken, sie zu fühlen und sie zu wollen. Es gilt, jede dieser überkommenen Selbstverständlichkeiten in eine Frage zu verwandeln, zum Beispiel die: Ist die Erbschaft in der Familie die richtige Art, das Landeigentum von Generation zu Generation weiterzugeben? Dann gilt es denkerisch diese Frage zu bearbeiten, das Thema zu beforschen. Wenn dann Lösungsvarianten erarbeitet werden, die ganz unkonventionell sind, dann gilt es die Sache im Herzen zu prüfen. Und dann gilt es, die neue Gemeinschaft wirklich zu bilden, menschlich, juristisch, finanziell. Und so ist es mit allen diesen Gemeinschaften: Erst wenn wir sie besonnen und aufrichtig frei bilden, können sie die verborgenen Verhältnisse ablösen und einen neuen sozialen Boden bilden.

Gemeinschaftsbildung ist Arbeit, erfordert intensive Gespräche, kann ermüdend sein. Ja, der Prozess und schließlich die Gemeinschaft selbst bringen auch Unsicherheit, erfordern Offenheit, können überfordern. Aber die Gemeinschaft bringt vor allem Freude, Vertrauen, Sicherheit und Resilienz. Es geht um die Bildung von Neuland im Sozialen. Dabei werden nicht nur Höfe am Leben erhalten. Entwurzelten Menschen in den Städten wird realer Boden unter die Füße gegeben. Die Not in den Seelen vieler Zeitgenossen in den Ballungszentren ist nicht minder groß als die Not der einsamen Bauern auf dem Land. Wie könnten wir sinnvoll existieren als Erdenmenschen ohne Erde? Jede und jeder isst, was die Erde hervorbringt. Alle leben wir seelisch von der Natur. Hier ist ein Quellpunkt für die Gemeinschaftsbildung um, an und für einen Hof und seine Erzeugnisse.

An die runden Tische!

Für den überregionalen Handel ist die Aufgabe nach dem Preisniveau im Lichte der neuen Zeit zu untersuchen. Die Bauern bekommen zu wenig und gleichzeitig sind die Preise für die Konsumenten zu hoch. Direktvermarktung wie etwa Solidarische Landwirtschaft ist ein Modell. Für gut gefüllte Regale in urbanen Läden braucht es andere Ansätze. Der runde Tisch ist das Urbild der assoziativen Wirtschaft. Produzenten, Verarbeiter, Händler, Ladner, Endverbraucher sitzen an so einem runden Tisch. Die anonymisierende Wertschöpfungskette, die keiner überblickt (erstaunlicherweise!), wird da ins Rund gebogen. Mit einiger Übung entsteht ein gemeinsames Bild. An diesem kann sich der Common-sense, der Gemeinsinn entwickeln. Es ist nicht die unsichtbare Hand, die die Wirtschaft steuert, sondern die Einsicht der Akteure.

Wie transferieren wir dieses Wunschbild in ein wirksames Leitbild für das tatsächliche wirtschaftliche Handeln? Braucht es Leitlinien wie den Preisaufschlag für belegbare Ökosystemdienstleistungen? Wird Schönheit, werden offene Stalltüren für Kinder und der Blick zu den Sternen auf den Ladenpreis drauf gerechnet?

Die hier skizzierten drei neuen Triebe am 100 Jahre alten Demeter-Stock können zum Austausch anregen – mit forscherischer Gesinnung, die die Du-Qualität des Gegenübers sucht. Eine Entdeckung und mutige Gestaltung der Gemeinschaften um und für die Höfe. Die Bildung von Prototypen für preistransparentes Wirtschaften zwischen Acker und Teller. Eine Aufgabe für den Teil der transformationsbereiten Gesellschaft. ///

Der Autor ist Leiter der landwirtschaftlichen Sektion am Goetheanum in Dornach/Schweiz.

Dieser Text erschien in der Ausgabe 6/2025 der Zeitschrift info3. Hier abonnieren und keine Ausgabe mehr verpassen – auch als E-Paper per App erhältlich!

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