Anthroposophie 2125 – kommt da noch was?

Anthroposophie 2125 - Kommt da noch was?
Your rainbow panorama. © ARoS Kunstmuseum

Vor einhundert Jahren überließ Rudolf Steiner die Anthroposophie ihrem irdischen Schicksal. Eine Bestandsaufnahme und erste Versuche, ihre Zukunft an den Zeithorizont zu malen.

Rudolf Steiner hat selbst gesagt: Nach einhundert Jahren geht jeder geistige Impuls durch eine Metamorphose und muss sich erneuern. „Man erkennt die Intensität eines Impulses, den der Mensch ins geschichtliche Werden hineinlegt, auch in seiner Wirksamkeit durch drei Generationen, durch ein ganzes Jahrhundert hindurch.“ Diese hundert Jahre hat die Anthroposophie nun hinter sich und fürwahr: es ist Beachtliches entstanden. Die vielfach bewährten Praxisfelder Waldorfpädagogik, Demeter-Landwirtschaft, Anthroposophische Medizin, ethisches Bankwesen, aber auch Kulturimpulse wie die Eurythmie, soziale Dreigliederung, die Christengemeinschaft, die Freie Hochschule in Dornach. Sie alle haben sich etabliert und breiten sich weltweit immer mehr aus. Rudolf Steiner sei der einzige Idealist, der den Praxistest bestanden habe, schrieb Iris Radisch in der Zeit. Aber sind die anthroposophischen Impulse auch nachhaltig in der Welt verankert? Trägt ihr Geist auch noch weitere hundert Jahre? Klar ist: Ohne Metamorphosen wird es nicht gehen. Wie kann die Anthroposophie zukunftsfähig werden, ohne ihren Kern zu verleugnen?

Eine geistige Bestandsaufnahme

Der Geist ist zweifelsohne die Hauptzutat des anthroposophischen Kuchens. Geist meint aber nicht nur intellektuelles Denken und meditative Zustände: Es geht um eine lebendig gelebte Erkenntnis des Ganzen. Eine schöne Formulierung dafür findet Steiner in dem Vortrag „Die Hygiene als soziale Frage“ vom 7. April 1920: „Das Geistige ist nicht etwas, was sich in einzelne Teile auseinanderlegt wie das Materielle, sondern das Geistige ist etwas, … was wie ein Organismus sich ausbreitet. Und wie ich einen Menschen nicht betrachten kann, indem ich bloß seine fünf Finger betrachte und ihn sonst zudecke, so kann ich auch geisteswissenschaftlich nicht eine Einzelheit betrachten, ohne dass dasjenige, was ich in dieser Einzelheit als Geistig Seelisches wahrnehme, mich zu einer Ganzheit führt.“ Aber was ist das Ganze? Nicht nur das mit bloßen Augen Wahrnehmbare jedenfalls, und selbst räumlich spielt noch das Fernste mit in die Gestalt der Dinge hinein. Steiner wurde nicht müde, das Wirken konkreter kosmischer Kräfte im Irdischen, im Menschen, in Tieren und Pflanzen zu bestimmen. Das Wirken der kosmischen Kräfte gehört ebenso zum Ganzen wie die Erkenntnis der Verbundenheit aller Dinge, wie Gerhard Stocker, Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, betont: „Wir Menschen stehen demnach nicht in subjektiver, staubkornkleiner Vereinzelung in der objektiven, unendlich weiten Welt, sondern sind in allem, was sich in uns entwickeln lässt, zum Schaden oder zum Nutzen, mit der Welt verbunden.“ Die Erkenntnis dieser Allverbundenheit kann aber nicht durch ein bloßes Zusammentragen wie in einer Enzyklopädie oder durch vernünftelnde Verstandesakrobatik erreicht werden. Vielmehr geht es um das Erleben der Vielfalt des Ganzen mit Haut und Haaren, also dem ganzen Organismus. Steiner sagt in dem gleichen Vortrag: „Derjenige, der Geisteswissenschaft nur intellektualistisch betreibt, das heißt, der sich nur Notizen macht: es gibt einen physischen Leib, Ätherleib, Astralleib, Ich, ein wiederholtes Erdenleben, ein Karma und so weiter … der treibt nicht im Ernst Geisteswissenschaft, denn er verpflanzt die Denkweise, die er sonst hat, nur auf dasjenige, was ihm in der Geisteswissenschaft entgegentritt. Das Wesentliche bei der Geisteswissenschaft ist, dass sie seelisch erlebt werden muss.“ Diese Erkenntnis des Ganzen, bis ins Spirituelle hinein, bildet den Kern der Anthroposophie.

Eine neue Mystik

Eine Quelle der spirituellen Erneuerung für die Anthroposophie könnte in der Entwicklung einer neuen Mystik liegen. In der geistigen Erfahrung, in der geistigen Praxis selbst würde so die Kraftquelle für die nächsten einhundert Jahre liegen. Gershom Sholem schrieb im Zusammenhang mit jüdischer Mystik, dass in dem Moment, wo eine Religion oder Weltanschauung gestiftet wird, sie am weitesten weg von der Mystik sei. Das ist etwas erklärungsbedürftig. Im Moment der Stiftung ist eine geistige Substanz ganz unmittelbar erlebbar. Wer Rudolf Steiners Vorträge erleben durfte oder ihm persönlich begegnen konnte, war sicherlich unmittelbar von seiner Präsenz eingenommen. Der Nachhall dieser Schaffenszeit trug viele Jahrzehnte, aber nach und nach verstarben alle, die direkten Kontakt zu Steiner hatten. Für Scholem beginnt in diesem Moment der Höhenflug der Mystik. Ganz im Sinne des Wortes, das vom griechischen myeín (Augen und Mund verschließen, um eines Geheimnisses inne zu werden) stammt, ermöglicht die Mystik, das nicht mehr unmittelbar erlebbare Geheimnis aus der Tiefe herauszuführen. Wer eine mystische Erfahrung macht, betet nicht irgendwelche Verse herunter oder behängt sich mit religiöser Litanei, sondern dringt in den inneren Kern einer Weltanschauung ein und wird ihres Geheimnisses inne.

Für die Anthroposophie wäre es ein Segen, wenn ihr Inneres, die geistige Erfahrung des Ganzen, in mystischen Erfahrungen erneuert und verlebendigt werden würde. Wie aber entstehen solche esoterischen Momente der Einweihung? Verordnen und erzwingen lassen sie sich wohl kaum. Vielleicht am ehesten durch Graswurzel-Spiritualität, also durch Erlebnisse im Kleinen, charismatische Begegnungen im Alltag mit anthroposophischen Menschen, die das Geheimnis lebendigen Geisteslebens im Alltag spürbar werden lassen.

Vor der eigenen Tür kehren

Übung gehört zu jedem spirituellen Weg dazu, auch zur Anthroposophie. Neben Meditation, Lektüre und den bekannten Nebenübungen sollte ein wichtiges Moment zur geistigen Praxis der Anthroposophie hinzukommen: kritische Reflexion, auch Schattenarbeit genannt. Die Auseinandersetzung mit den eigenen blinden Flecken bis hin zu Verfehlungen ist eine Grundbedingung für jede Weltanschauung, die in der heutigen Welt voller Trauma und Empfindlichkeiten eine Rolle spielen will. Diskussionen um Rassismus-Vorwürfe bei Steiner oder um die Wissenschaftlichkeit anthroposophisch inspirierter Praktiken werden ebensowenig verschwinden wie die kritische Beurteilung politisch-gesellschaftlicher Äußerungen der anthroposophischen Szene. Damit sollte ein offener, selbstkritischer Umgang gepflegt werden, wie er in den letzten Jahren bereits gut anlief. Der Verweis auf tiefer liegende Qualitäten, wie die Menschenfreundlichkeit, die ökologisch-ganzheitliche Sichtweise oder die Kraft des Denkens verleiht eine Souveränität im Umgang mit Vorwürfen, sodass keine zu defensive Taktik entstehen muss.

Ein Feld, das bisher wenig Beachtung findet, und das proaktiv angegangen werden sollte, ist das patriarchale Moment innerhalb der anthroposophischen Bewegung. Nicht nur in Bezug auf eine starke Stifterfigur, auch an vielen anderen Punkten zeigt sich das Patriarchale: In anthroposophischen Verbänden, Unternehmen, selbst bis in die Waldorfpädagogik hinein sind häufig charismatische Führungspersonen anzutreffen, die bis ins Kleinste hinein den Lauf der Dinge bestimmen. Von jemandem, der das patriarchale Thema in der Szene bearbeiten wollte, wurde mir von massivem Gegenwind berichtet. Hier ist noch Aufklärungsarbeit zu leisten, und warum nicht auch an dieser Stelle selbstbewusst auf eine höhere Ebene gehen: der Mensch als Ganzer hat auch seine Schwachstellen, er ist ein komplexes und ambivalentes Wesen, das auch unvollkommen ist. Wer Anthroposoph ist, ist ein Mensch in Entwicklung, daher sollte er oder sie dankbar für die Anlässe zur Selbsthinterfragung sein. Nur muss man das Feedback auch hören können.

Ausgangspunkte in ein neues Jahrhundert

Ich wünsche der Anthroposophie, dass sie nicht als Kontrastfolie und Zufluchtsort gegenüber dem modernen, technischen, schnellen Leben fungiert. Zu leicht wäre es, mit gefilzten Mützen und bunter Wollkleidung ein Leben in Siedlungen mit organischer Architektur aus schwerem Holz zu führen, die Kleinkinder mit Bernsteinketten behängt, wo immer als erstes das Tradierte, was in der Szene immer schon so gemacht wurde, in Stellung gebracht wird – ein Klischee, das immerhin weitgehend überwunden ist. Ich wünsche mir, dass Anthroposophie mit neuen Ansätzen und Entwicklungen wilde Verbindungen eingeht. Warum nicht zur „Church of Interbeing“ in Berlin gehen und gleichzeitig Eurythmie unterrichten? Warum nicht Blockchain-Startups gründen und die Mysteriendramen von Steiner lesen? Dafür müsste aber eine modulare Anthroposophie entstehen, die nicht als festgefügtes Gebilde wirkt, sondern als etwas, deren Angebote einzeln angesteuert werden können, ohne dass sich ein Habitus entwickelt, der von A bis Z anthroposophisch durchgeformt ist.

Sie werden sagen, dieses festgefügte Gebilde gäbe es ja gar nicht; aber ich zähle jetzt nicht die unzähligen Situationen auf, die mir den „All-Inclusive“-Charakter des anthroposophischen „Clubs“ vor Augen geführt haben: für jeden Lebensbereich haben wir die eine anthroposophische Lösung. Wirkliche Offenheit für benachbarte Ansätze wie Interbeing (Charles Eisenstein) oder Integrale Spiritualität nach Ken Wilber, für fernöstliche Ansätze und persönliche Entwicklungswege ist nötig. In diesem Sinne verstehe ich auch Monika Elbert, Generalsekretärin der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, wenn sie als Aufgabe der Anthroposophie benennt, „uns in beweglichere Formen zu wagen und uns mit den Fragen der Welt tiefer noch zu verbinden, ohne den Wesenskern der Anthroposophie, die geisteswissenschaftliche Forschung, zu verlieren.“

Dafür müsste die Quelle aber rein bleiben und zu einem Jungbrunnen werden. Eine in der Tiefe verlebendigte Anthroposophie, die ich mit mystischer Erfahrung im Bunde sehe, könnte die Quelle sein, aus der ungewöhnliche Formen emporsprudeln. An diesen Formen, die durchaus klein und unspektakulär sein können, zeigte sich vielleicht seit jeher das höchste Potenzial der Anthroposophie. Wie ein Tongefäß, das erdacht und geformt wird, aber erst im Ofen seine endgültige Form und Beschaffenheit erhält, erscheint das Wesen der Anthroposophie in den verästelten Wirkungen des Alltags. ///

Dieser Beitrag stammt aus info3 März 2025.

Über den Autor / die Autorin

Alexander Capistran

Alexander Capistran studierte Philosophie in Berlin, an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues und an der Universität Witten/Herdecke. Er
arbeitet als Organisationsentwickler bei Gravitage.org und als
Publizist, lebt bei Dresden und promoviert über die Philosophie der
Mobilität. Seit Januar 2021 ist er Mitarbeiter in der info3-Redaktion.