Interview: Jens Heisterkamp
Herr Herbig, woher kommen eigentlich die anthroposophischen Monatstugenden?
Rudolf Steiner hat die zwölf Tugenden zunächst von Helena Blavatsky übernommen, die für die theosophische Bewegung ja eine prägende Figur war. Von ihr stammt auch die Zuordnung zu den Tierkreiszeichen. Steiner hat diesen Zusammenhang bestätigt und Ergänzungen vorgenommen, wie sich jede Tugend im Laufe eines Monats verwandeln kann zu einer anderen.
Für den Februar heißt es beispielsweise: Schweigsamkeit wird zur meditativen Kraft. Was hat es mit dieser Metamorphose einer Tugend auf sich?
Ich erlebe es so, dass es wie bei allen Dingen ist, die man übt, ähnlich wie beim Üben einer Sprache oder auch beim Autofahren – irgendwann stellt sich ein Effekt ein. Zuerst nimmt man hier die Schweigsamkeit als Thema ins Zentrum der Aufmerksamkeit, und im Zuge anhaltender Übung, durch die Nächte hindurch, auch durch lange Zeiträume hindurch, wird mir dann die Metamorphose mit Hilfe meines eigenen tieferen Wesens und mit Hilfe der geistigen Welt geschenkt. Das „mache“ ich dann nicht, sondern aus der Schweigsamkeit heraus taucht irgendwann die meditative Kraft auf.
Nun ist das bei dieser Metamorphose ja noch recht naheliegend. Wie sieht es dagegen mit einem schwierigeren Beispiel aus: In der Übung für den August soll Mitleid zu Freiheit werden – wie ist das zu verstehen?
Wenn ich es bei Klienten mit Konfliktpartnern zu tun habe, dann rege ich oft dazu an, sich auch in das jeweilige Gegenüber hineinzudenken: Wie erlebt sich dieser andere Mensch, mit dem ich ein Problem habe? Was hat er für Engstellen, wo ist er weit? Wenn das ein Stück weit gelungen ist, hat es immer zu mehr Freiheit geführt. Ich glaube es geht darum, dieses Mitleid nicht nur in einem abstrakten Sinne zu üben, sondern in konkreten Fällen, die mir entgegenkommen. Gleichzeitig darf man Mitleid nicht verwechseln mit einem Sich-Verlieren im Leid des Anderen. Wir üben diese Tugenden übrigens auch immer mal wieder für einen Jahresdurchgang in einer regelmäßigen Meditationsgruppe, die ich seit vielen Jahren in meiner Praxis anbiete.
Wie sehen denn da Ihre Erfahrungen aus, wenn Menschen mit dem Begriff „Tugend“ konfrontiert werden – entstehen da auch Abwehrreaktionen?
Es gibt da beides: einige fühlen sich abgestoßen, andere aber stürzen sich intensiv hinein und sind manchmal auch furchtbar kritisch mit sich selbst. Viele Menschen haben ja ohnehin ständig einen Perfektionsanspruch nebenher laufen – das gilt übrigens auch für mich selbst – und dann soll man auch noch Tugenden üben! Aber jede Art von Übereifer führt da nicht weiter. Ich rege vielmehr dazu an, mehr spielerisch damit umzugehen, zu experimentieren oder zu beobachten – bin ich vielleicht schon Menschen begegnet, in denen die ein oder andere Tugend auffallend lebt? Oder wo sie vielleicht im Gegenteil auffallend fehlt? Und so kann man allmählich versuchen, selbst einmal etwas spielerisch zu probieren, was mit Tugenden zu tun hat. Was könnte beispielsweise Geduld für eine Bedeutung haben in meinem Leben? Oder Ausdauer? Wobei ich den Eindruck habe: Genauso wie man sich nicht auf den Begriff „Tugend“ fixieren sollte, sollte man sich auch nicht auf die Worte der einzelnen Qualitäten fixieren. Ein Beispiel dazu: Eine der Tugenden bei Steiner heißt „Opferkraft“ – ein belasteter, sehr leicht misszuverstehender Begriff. Da habe ich es als hilfreich erlebt, den einzelnen Begriff in Wortfelder hinein zu erweitern: in diesem Falle etwa Schenk-Kraft oder Hingabefähigkeit. Ich komme dann immer mehr dazu, Tugenden als grundlegende Menschseins-Qualitäten zu verstehen.
Wie kam es dazu, dass Sie sich selbst intensiver mit den Monatstugenden Rudolf Steiners beschäftigt haben?
Mitte der 1990er Jahre hat mir jemand das Büchlein von Herbert Witzenmann über die Tugenden geschenkt. Das zu lesen ist nicht immer ganz einfach, aber ich habe doch gemerkt, jeder Satz baut da auf dem anderen auf und durch die Art, wie der Autor das Thema erarbeitet hat, entwickelte ich eine Liebe zu dem Thema. Ich habe dann auch begeistert damit begonnen, die einzelnen Tugenden Monat für Monat zu üben. Wobei man natürlich auch vielfach bemerkt, wie man zunächst scheitert. Es hat dann im Laufe der Jahrzehnte immer wieder Phasen gegeben, wo ich das Thema losgelassen habe, dann aber auch immer wieder in Gruppen damit gearbeitet habe – und die Liebe ist immer geblieben, mal mehr im Vordergrund, mal mehr im Hintergrund.
Die zwölf Monatstugenden nach Rudolf Steiner
21. Dezember bis 21. Januar:
Mut wird zur Erlöserkraft
21. Januar bis 21. Februar:
Verschwiegenheit wird meditative Kraft
21. Februar bis 21. März:
Großmut wird zu Liebe
21. März bis 21. April:
Devotion wird zur Opferkraft
21. April bis 21. Mai:
Gleichgewicht wird zu Fortschritt
21. Mai bis 21. Juni:
Ausdauer wird zu Treue
21. Juni bis 21. Juli:
Selbstlosigkeit wird zu Katharsis
21. Juli bis 21. August:
Mitleid wird zu Freiheit
21. August bis 21. September:
Höflichkeit wird zu Herzenstakt
21. September bis 21. Oktober:
Zufriedenheit wird zu Gelassenheit
21. Oktober bis 21. November:
Geduld wird zu Einsicht
21. November bis 21. Dezember:
Gedankenkontrolle / Beherrschung der Zunge wird zu Wahrheitsempfinden
Wie zeigen sich denn die Wirkungen des Umgangs mit diesen Tugenden?
Da muss man eigentlich die Menschen um einen herum fragen (lacht). Ich habe schon den Eindruck, dass diese Übungen tiefgreifende Prozesse auslösen, die vielleicht sogar über mehrere Inkarnationen hin wirksam sind. Wobei da natürlich Vorsicht angeraten ist: man hat ja vielleicht in dem einen Leben einen ganz anderen Auftrag gehabt, war vielleicht einmal ein sehr geduldiger Mensch und im gegenwärtigen Leben passt das zunächst nicht mehr in das, was man sich für diese Inkarnation vorgenommen hat.
Haben Sie eine Monatstugend, die Sie besonders gernhaben?
Ja, aber dann ist natürlich die Frage, hat man da eine Nähe zu einer Tugend, die man irgendwie schon beherrscht, oder eher zu einer anderen, die man noch nicht so gut kann! (lacht) – Also, womit ich mich persönlich sehr herumgeschlagen habe ist die Sache mit der Höflichkeit, die Übung für den September. Ich habe Höflichkeit immer als etwas eher Altbackenes empfunden. Aber wenn ich diese Tugend in der Beschreibung von Herbert Witzenmann lese, wie er so schön die Höflichkeit als die Achtung vor dem Wesen des anderen Menschen beschreibt, dann finde ich dazu einen Zugang. Und zugleich kenne ich natürlich – gerade aus meiner Erfahrung als Psychotherapeut kann ich das sagen – auch eine falsche Höflichkeit. Jede Tugend kann übertrieben werden und dann ist sie nicht mehr echt, oder sie kann in einer völlig unangemessenen Situation eingesetzt werden.
Sie meinen, wenn man einer Kontroverse aus dem Weg gehen will und stattdessen auf Höflichkeit setzt?
Genau. Teilweise habe ich auch in meinen Gruppen die Tendenz bemerkt, im Blick auf die Tugenden Problematisches auszublenden. Mir persönlich etwa war es nie eine große Schwierigkeit, die Zufriedenheit zu üben, ich habe mich sogar gewundert, dass das überhaupt eine Tugend sein soll. Nicht etwa weil ich immer zufrieden bin, sondern weil es ja selbstverständlich ist, sich das zu wünschen. Aber man kann die Tugend der Zufriedenheit, die zur Gelassenheit wird, nicht absolut setzen: Nein, manchmal ist es wichtig, wirklich unzufrieden zu sein mit manchen Zuständen, die verbesserungsbedürftig sind. Da kann man gerade aus der Unzufriedenheit heraus in seine Kraft zur Veränderung kommen.
Haben Sie einen abschließenden Rat zum Üben für uns?
Ich möchte die Leserinnen und Leser dazu anregen, es einfach auszuprobieren und es aber nicht unbedingt alleine zu machen. Tun Sie sich doch mit anderen zusammen, treffen Sie sich einmal im Monat und probieren Sie es ein Jahr lang aus und sprechen Sie über das, was Sie an sich selbst und anderen erleben. Man kann das auch schon gut zu zweit machen!
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Klaus Herbig wurde 1972 in Edenkoben/Pfalz geboren. Er studierte Psychologie in Bonn und Mainz, die Zusatzausbildung in Psychotherapie schloss sich in Bochum an. Seit 2009 hat er eine eigene Praxis in Zürich. Er gibt Seminare in Spiritueller Psychologie, Meditation und Sozialkunst und publiziert auch zu diesen Themen.
Dieser Beitrag stammt aus der info3-Ausgabe Januar 2025.