Anthroposophie als Sprachspiel und Lebensform

Anthroposophie als Sprachspiel
© Rudolf Steiner Archiv, Dornach

Im geistigen Leben gibt es immer wieder unerwartete Beziehungen, bei denen unterschiedliche Ansätze sich gegenseitig beleuchten und sogar verstärken können. Unser Autor unternimmt einen solchen Versuch.

Der heutige Blick vor allem der Medien auf Anthroposophie ist durch die Berufung auf Wissenschaft bestimmt: Die Lehre Rudolf Steiners gilt dort meist als eine esoterische Weltauffassung, die dem heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstand widerspricht und daher mit großer Skepsis betrachtet wird. Zwar werden Waldorfpädagogik, bio-dynamische Landwirtschaft und anthroposophische Medizin gelegentlich in ihren Qualitäten hervorgehoben, aber auch auf ihnen lastet oft der Verdacht, esoterisch, das heißt nicht wissenschaftlich fundiert zu sein.

Um diese einseitige und oft auch polemische Trennung von „Esoterik“ und „Wissenschaft“ aus einer anderen Perspektive zu betrachten, wollen wir in diesen Überlegungen die Spätphilosophie von Ludwig Wittgenstein anschauen, der dazu einiges Bedenkenswertes gesagt hat.

Spiritualität bei Wittgenstein

Nur wenige wissen, dass der große österreichische Philosoph ein tief spiritueller Mensch war, der neben seinem logischen Scharfsinn auch Mythen und religiöse Schriften für lebenswichtige Kulturgüter hielt. Wittgenstein trug zeitlebens Leo Tolstois Erläuterungen zu den Evangelien bei sich, die er für ein „herrliches Buch“ hielt, das ihn im Ersten Weltkrieg „geradezu am Leben erhalten“ habe.[1] Er studierte auch die Schriften des Mystikers Angelus Silesius und bekannte einmal sogar, selber mystische Erfahrungen gemacht zu haben: diese bestünden daraus, darüber zu staunen, dass die Welt existiert und aus dem Gefühl, absolut geborgen zu sein.[2]

Für Wittgenstein besaß die moderne Wissenschaft keineswegs eine überlegene Deutungshoheit, denn „wir fühlen, dass selbst wenn alle wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unser Problem noch gar nicht berührt ist.“ [3]

Dass Religion, Mystik und Mythologie keine überholten Erklärungsmuster der Welt sind, wurde Wittgenstein ab 1929 klar, als er sich kritisch mit dem Werk The Golden Bough des schottischen Religionswissenschaftlers James Georg Frazer auseinandersetzte. Dieser hatte die Geschichte in die drei Stadien von Magie (Aberglauben), Religion (Glauben) und Wissenschaft (Wissen) eingeteilt und behauptet, dass nach dem heutigen Stand der Wissenschaft die älteren mythologischen Weltbilder obsolet geworden wären. Doch Wittgenstein konterte, dass beispielsweise auch unsere moderne Grammatik eine Form des „Aberglaubens“ darstelle, die etwa im Gebrauch von Substantiven alle Welt in Objekte „einfriert“, egal ob es sich um feste, fließende oder flüchtige Substanzen handelt. Allein diese „gleichmachende Gewalt“ unserer Sprache, aber auch schon ihre Annahme, dass Zeichen tatsächlich etwas Reales beschreiben, seien ebenfalls „eine Art Magie“, was uns aber nicht mehr bewusst sei.[4] Auch die Annahme Frazers, dass zum Beispiel Phänomene wie die Sonne, das Feuer, das Gewitter, Tod, Geburt und Sexualität nach ihrer wissenschaftlichen Erklärung ihren Geheimnischarakter verlieren würden, hielt Wittgenstein für falsch. Das Staunen über diese Phänomene sei kein Anzeichen einer früheren „primitiven“ Geisteshaltung, sondern eine bis heute anhaltende, wertvolle Fähigkeit des Menschen.[5] Wittgenstein entwickelte während der kritischen Lektüre von Frazer die Grundlagen für seine Spätphilosophie, die nicht mehr – wie noch sein Tractatus logico-philosophicus – von einer Abbildtheorie der Sprache ausging, sondern alle Zeichensysteme, auch die von Mythos, Kunst und Religion, als „Sprachspiele“ definierte, die in verschiedene „Lebensformen“ eingebettet sind. Innerhalb solcher „Sprachspiele“ könne man die Bedeutung einzelner Zeichen nur im Kontext mit den anderen bestimmen: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“.[6]

Mehr als ein „Spiel“

Doch was hat dies alles mit der Anthroposophie zu tun? Ist es nicht zu oberflächlich, sie hier einzureihen und ebenfalls als bloße Ansammlung von „Sprachspielen“ abzutun? Bei näherem Hinsehen könnte dieses Konzept vielleicht helfen, Steiners oft esoterische Begrifflichkeiten besser zu dechiffrieren. „Sprachspiel“ meint ja nichts Leichtgewichtiges, sondern dass Bedeutung nur in einem weitläufigen Spiel von Verbindungen hervortritt, die überhaupt erst Sinn erzeugen. Wenn Steiner zum Beispiel von „Engeln“ und „Elementarwesen“ spricht, macht es wenig Sinn, nach empirischen Beweisen dafür zu fragen, weil eben ein Zeichen für Wittgenstein nur insofern Sinn hat, „als es ein Glied in einem System ist, ein Zug in einem Spiel. Die Bedeutung eines Zeichens gewinnt Tiefe erst durch die Dichte von Bezügen und den Bezug zu einer Lebensform.“[7] So wie Wittgenstein bei einem indigenen Schöpfungsmythos, der die Abstammung aller Menschen aus einer „Schlange“ erklärt, nicht vorschnell den Kopf schüttelt, sondern fragt, wie dies im weiträumigen Kontext gemeint sei, so müsste auch bei den Imaginationen Steiners verfahren werden.[8] Wir hätten also die Bedeutung etwa von Begriffen wie „Engel“, „Elementarwesen“, „Luzifer“, „Ahriman“ und „Michael“ erst einmal zu erkunden, indem wir die zahlreichen Stellen in Steiners Gesamtwerk in Beziehung zueinander setzen, wobei sich zeigen würde, dass diese „Sprachspiele“ immer mit einer „Lebensform“ verbunden sind. So könnten wir etwa herausfinden, dass eine „Lebensform“, die von geistigen Wesenheiten in der Natur spricht, nicht „abergläubisch“ sein muss, sondern damit eben ein ganz anderes Verständnis von Natur zum Ausdruck bringt. Sie würde zum Beispiel mit „Gnomen“ und „Sylphen“ eher eine beseelte und ganzheitliche Natursicht bekräftigen, und nicht eine materialistische, die nur von rein chemischen Kräften in der Erde ausgeht.

Steiner gefiel es, die feinen Interaktionen zwischen Luft, Licht, Wasser, Blättern und Wurzelwerk als Prozesse von lebendig gedachten Wesen zu beschreiben, wie es auch viele indigene Kulturen tun, die im Übrigen wesentlich weniger Umweltsünden begangen haben als wir.[9] Und vielleicht verdanken wir ja gerade solchen anthroposophischen „Sprachspielen“ auch die hochwertige Qualität der Bio-Produkte und den mitfühlenden Umgang der entsprechenden Landwirte mit Tieren, Pflanzen und der Erde.

Luzifer, Ahriman, Atlantis

Ähnliches könnte für andere „Sprachspiele“ Steiners gelten, etwa seine Umkreisung des „Bösen“ durch die mythologischen Figuren „Luzifer“ und „Ahriman“.[10] Statt hier von unwissenschaftlichen Phantasien zu reden, wäre es sinnvoller, den gesamten Kontext dieser Sprachbilder zu erkunden, in dem sie dann plötzlich eine überraschende Kontur gewinnen könnten. Man müsste dann nicht mehr generalisierend von einem „Bösen“ sprechen, das dualistisch einem „Guten“ gegenübersteht, sondern könnte zu einem eher dialektischen Verständnis von machtvollen Energien kommen, die uns ja bis heute beunruhigen. „Luzifer“ zum Beispiel verkörpert für Steiner feurig-kreative Kräfte, die einerseits wichtig für die freie Ich-Entwicklung sind, aber auch zu Hybris und Wahn entarten können, was etwa zu religiösem und ideologischem Fanatismus führen kann. „Ahriman“ dagegen meint etwas Verhärtetes, Mechanisch-Unbeseeltes, das zwar die moderne Naturwissenschaft ermöglichte, aber auch machtvoll über unsere Köpfe hinweg regieren kann, wie es vielleicht bald eine entfesselte KI-Technologie vermag. Gemäß der diesbezüglichen „Sprachspiele“ Steiners käme es nicht darauf an, diese Mächte zu dämonisieren, sondern sie in einer gesunden Balance zu halten, vielleicht auch inspiriert von Paracelsus, wonach allein „die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“[11]

Als ein weiteres „Sprachspiel“ von Rudolf Steiner könnte man seine vielfältigen Äußerungen zu „Atlantis“ sehen, die für seine Kritiker besonders anstößig sind, weil sie jeder wissenschaftlichen Evidenz zu widersprechen scheinen. Doch unter dem Blick von Wittgensteins Spätphilosophie sollte man zunächst einmal auf die Annahme verzichten, dass dieses Wort ein klar definiertes Zeichen für eine genau lokalisierbare Realität darstellen muss. Im Gewebe der zahllosen Umkreisungen, mit denen sich Steiner „Atlantis“ annähert, würde man bald verstehen, dass es sehr viele Schattierungen dieses Begriffes gibt, deren Gemeinsamkeit zum Beispiel daraus besteht, dass Kulturen der Urzeit nicht so „primitiv“ waren, wie wir lange geglaubt haben. „Atlantis“ könnte dann zu einer Chiffre werden für eine von Steiner bereits erkannte, hohe spirituelle Geistigkeit sehr früher Kulturen, deren animistisches Weltbild unsere moderne Subjekt-Objekt-Spaltung noch nicht kannte. Archäologische Ergebnisse deuten ja auf so etwas hin, etwa die bis zu 10 000 Jahre zurückreichenden Kultbauten der Megalithkultur (zum Beispiel Göbekli Tepe), die Höhlenmalereien von Chauvet oder die „schamanischen“ Kunstwerke aus Höhlen der Schwäbischen Alb, die vor 40 000 Jahren hergestellt wurden.[12] All dies hat nichts direkt mit „Atlantis“ als einem versunkenen Kontinent zu tun, aber Steiner wollte eventuell mit diesem Denkbild an „versunkene“ spirituelle Schätze der Menschheitskultur erinnern.

Anthroposophie als Lebenselixier

Vermutlich ist eine solche Deutungsweise manchen Anthroposophen nicht genug, weil sie Steiner als hellsichtigen Eingeweihten sehen, der echte „geistige Tatsachen“ geschaut hat, die nicht in Frage gestellt werden sollen. Aber es fragt sich, ob nicht langsam auch eine unorthodoxere und entspanntere Annäherung an seine Themen stattfinden sollte. Wittgensteins Vorschlag, neben wissenschaftlichen Diskursen auch mythologische und spirituelle Texte als „Sprachspiele“ zu entschlüsseln, scheint mir dafür ein geeigneter Zugang zu sein. Und Steiner selbst hat ja eine offene Annäherung an sein Werk durchaus begrüßt, etwa wenn er seine Texte nicht als absolute Wahrheiten verstanden wissen wollte, sondern als „geistigen Lebenssaft, Lebenstrank, Lebenselixier“, als „Anfeuerungsmaterial für die Seele“.[13] Ganz ähnlich argumentierte Wittgenstein bei einer Beschreibung des Lebens eines Apostels, wenn er vorschlug, diese nicht nach Kriterien von „wahr und falsch“ zu beurteilen, sondern einfach zu fragen, wie sie auf uns wirkt. Der Leser müsse selber sehen, ob diese Lebensbeschreibung „sein eigenes Leben auflockert“, wie er sich zu ihr „tätig“ verhält, das heißt, ob sie ihn drängt, wie jener Apostel zu leben – oder auch nicht.[14]

Vielleicht kann durch solche hermeneutischen Vorschläge Wittgensteins die Anthroposophie auch ein wenig „aufgelockert“ werden, was mir gerade in diesem Jubiläumsjahr zum 100. Todestag Steiners durchaus sinnvoll erscheint. ///


[1] Kurt Wuchterl/Adolf Hübner: Wittgenstein, Rowohlt Monographien, Reinbek 1986, S. 64

[2] Wilhelm Baum: Ludwig Wittgenstein und die Religion, Philosophisches Jahrbuch, 1979 (86. Jahrgang), 280, vgl. https://philosophisches-jahrbuch.de/wp-content/uploads/2019/03/PJ86_S272-299_Baum_Ludwig-Wittgenstein-und-die-Religion.pdf

[3] Ebd. S. 276

[4] Marco Brusotti: Wittgenstein, Frazer und die „ethnologische Betrachtungsweise“, De Gruyter: Berlin, 2014, 76f, S. 91f

[5] Ebd. 59, S. 276

[6] Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Suhrkamp Verlag: Berlin, 2003, §43

[7] Marco Brusotti, a.a.O. 80, S. 87

[8] Marco Brusotti, a.a.O. S. 364

[9] Vgl. Rudolf Steiner: Die Welt der Elementarwesen, hrsg. und kommentiert von Almut Bockemühl, Dornach 2005, S. 26-37

[10] Rudolf Steiner: Das Mysterium des Bösen, Zehn Vorträge, ausgewählt und herausgegeben von Michael Kalisch, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1993, S. 79ff

[11] Dieses Zitat stammt aus den Septem Defensiones von Paracelsus, sieben Verteidigungsreden von 1538, mit denen er den Vorwürfen seiner Gegner entgegentrat.

[12] Vgl. Der Löwenmensch: Tier und Mensch in der Kunst der Eiszeit, hrsg. vom Ulmer Museum, Thorbecke-Verlag Sigmaringen 1994, 45, S. 107-112

[13] Ulrich Kaiser: Der Erzähler Rudolf Steiner. Studien zur Hermeneutik der Anthroposophie, Info3 Verlag Frankfurt/Main 2020, S. 71

[14] Marco Brusotti: Wittgenstein, Frazer und die „ethnologische Betrachtungsweise“, a.a.O. 34f

Dieser Beitrag stammt aus info3 März 2025.

Über den Autor / die Autorin

Rüdiger Sünner

Rüdiger Sünner lebt als Filmemacher, Musiker und Autor in Berlin.

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