In einem Zeitalter, dessen Perspektive weitgehend auf das sinnlich Erfahrbare fokussiert ist, hat Rudolf Steiner den bewussten Blick zum Raum über uns geöffnet. Er zeigte, wie oben und unten, wie Geistiges und Stoffliches zusammenhängen und gab dem alten Satz neuen Sinn, dass Materie nie ohne Geist und Geist nie ohne Materie ist.
Während die menschliche Zivilisation ihre größten Triumphe in der Erforschung materieller Vorgänge verzeichnet, hat Steiner das Prinzip des Lebendigen neu erschlossen; er zeigte, dass Leben mehr ist als komplizierte Stofflichkeit. Auf den Spuren Goethes skizzierte er Wege eines Verstehens, in dem das Denken selbst zum Organ lebendigen Anschauens werden kann.
Angesichts einer Welt, die immer mehr in die Mechanisierung zu geraten droht, erneuerte Steiner den Begriff der Seele, aber nicht als naiv-romantisches Relikt, sondern als wesenhaftes Spektrum des Inneren, das von den körpergebundenen Empfindungen über Gefühle und Gedanken bis zu geistigen Erkenntnissen reicht – und von einem souveränen Ich geführt wird. Seele als eigenständiges Weben zwischen Körper und Geist.
Steiner war lebenslang ein Streiter für die menschliche Freiheit und ihre Würde
Im Gegensatz zu einer Weltsicht, die den Menschen und sein Verhalten auf biochemische und neuronale Vorgänge reduziert, hat Steiner die Kategorie des Geistes erneuert: Geist als in sich selbst bestimmtes Bewusstsein, sowohl als Wirkprinzip in den Dingen wie auch als Vermögen, über das begrenzte Subjekt hinauszugehen; Gleiches erkennt Gleiches im Erkennen-Können von übersubjektiv Gültigem in der Welt.
Steiner war lebenslang ein Streiter für die menschliche Freiheit und ihre Würde, für Selbstbestimmung und Selbstentwicklung. Er hat philosophisch-wissenschaftliche und äußerlich-gesellschaftliche Zwänge zurückgewiesen. Er hat sich kritisch mit anderen Ansichten auseinandergesetzt und Impulse, die er als berechtigt ansah, leidenschaftlich verteidigt. Er liebte eine gewisse Polemik gegen alles konventionelle Denken und begeisterte sich vorbehaltlos, wo immer sich Menschen anschickten, Grenzen zu überschreiten. Der Sinn für das Individuelle und Einzigartige prägte seinen Blick für die Zeit und gab seinem eigenen Wirken die Richtung.
Gleichzeitig wurde er nicht müde, uns an unsere Verbundenheit als Menschen untereinander zu erinnern, an den Zusammenklang der Vielheit unter dem Vorzeichen einer umfassenden, geistigen Einheit der Menschheit. Er wollte das soziale Leben mit Mut machenden Impulsen neu erwärmen und betrat, als die Not besonders groß war, sogar die Arena des Politischen. Seine Ideen über das Soziale inspirieren bis heute.
Steiner hat klargemacht, dass wir als Individuen im Grunde nie allein agieren, sondern dass wir immer in Verbindung mit höheren Geistern und Wesen stehen. Er warnte auch vor dem möglichen Einfluss von negativen geistigen Mächten. Angesichts allgegenwärtiger Vereinseitigungen wies er Wege der Mitte.
Auf Steiner gehen unzählige Anregungen zurück, unser inneres Leben zu pflegen und zu entwickeln. Er zeigte Übungen zur Sammlung und Meditation, die gerade in herausfordernden Zeiten zu innerer Ruhe verhelfen können, aber auch zu einer Erweiterung unserer Empfänglichkeit für das Geistige in der Natur führen. Als einer der ersten setzte er das innere Wachstum in der Prioritätenliste des modernen Lebens ganz nach oben. Er zeigte, wie wir im Denken und Handeln das Nur-Persönliche immer wieder übersteigen können in Richtung eines Allgemein-Menschlichen.
Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits wurde wieder durchlässig
Steiner hat in erstaunlich konkreter Weise die Spanne des menschlichen Lebens über Geburt und Tod hinaus erweitert. In vielen Darstellungen schilderte er die Verbindung zwischen Lebenden und Toten, die bleibende Präsenz der Verstorbenen über das irdische Leben hinaus. Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits wurde wieder durchlässig. Auch die Schätze des Religiösen erschloss er auf neue Weise. Seine zeitgemäße Interpretation des Prinzips von Reinkarnation und Karma erweiterte den Horizont unseres Menschseins unabsehbar.
Die Natur, die heute meist nur als toter Mechanismus gilt, hat er neu verzaubert. Er machte die Eigenwesenheiten von Pflanzen, Insekten und Tieren, aber auch die Beseeltheit der Elemente wieder erlebbar und denkbar. Die ganze Erde ist ihm ein von Geist durchzogener, wirklicher Organismus, als dessen Teil sich zu fühlen er einlud.
Seine Mission erhielt den Namen Anthroposophie, weil Steiner dem Menschen einen Sinn bis in kosmische Zusammenhänge hinein zutraute. Er ließ menschliche Entwicklungsziele weit über das physisch Sichtbare hinaus ahnen. Trotz aller Probleme und trotz aller Katastrophen sah er in der Evolution von Erde und Mensch einen Grund für Zuversicht.
Steiner war ein Mensch, der sich verausgabte und verzehrte. Er ließ in seinem Forschen und Lehren, in seinem Gestalten und Impulsieren nie nach, auch wenn ihm heftige Widerstände und herbe Niederlagen entgegenkamen. Er sah überall Potenziale der Entwicklung, auch wenn seine Versuche oft scheiterten und Neuanfänge nötig wurden.
Er hat sich unermüdlich um Fragen und Bedürfnisse gekümmert, die an ihn herangetragen wurden, und dadurch auf vielen Gebieten unendlich viel Hilfreiches ermöglicht: für die Pädagogik, für die Landwirtschaft, für die Medizin und für so vieles mehr. Er stieß die Türen weit auf für die kommende Zeit eines neuen Bewusstseins und eines praktisch werdenden Geistes.
Er hat die Menschen geliebt. Und er hat noch so Manches geben wollen. Sein Werk wirkt weiter wie ein Keim, von dem auch hundert Jahre nach seinem Tod nach allen Seiten hin lebensvolle Triebe wachsen. Danke für alles, lieber Rudolf Steiner!
Dieser Beitrag stammt aus der Zeitschrift info3, Ausgabe März 2025.