„So antisemitisch war Steiner“ – das Urteil steht bereits in der Überschrift fest. Mit erheblichem Empörungsgestus hat der so angekündigte Artikel seinen Platz in einem aktuellen Spiegel-Extra zum Thema Antisemitismus gefunden (Spiegel extra / Spiegel Geschichte 3/2021, zeitweilig auch im Bezahlbereich auf Spiegel online).
Die Belege für diese These sind allerdings dürftig: Autor Christoph Gunkel baut seinen Text vor allem auf ein Zitat des 27-jährigen Steiner, das in der Tat eine grobe Abschätzigkeit gegenüber dem Judentum zum Ausdruck brachte: Das Judentum habe keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens mehr, so Steiner in einem kurzen Text von 1888, dass es sich noch erhalten habe, sei “ein Fehler der Weltgeschichte”. Einer solchen Bemerkung lassen sich heute vor dem Hintergrund des Holocaust leicht exterminatorische Ambitionen unterlegen, die Steiner allerdings mit Sicherheit ferngelegen haben. Seine Äußerung blieb denn auch im weiteren Werk singulär, es gibt nirgendwo sonst Vergleichbares, was sich auch nur annähernd als diskriminierend oder gar bedrohlich gegenüber dem Judentum lesen ließe. Gunkel muss deshalb schon sämtliche Anthroposophie-Basher der letzten Jahre zusammenzitieren, das Rassismus-Thema neu aufmischen und natürlich die gegenwärtig so gern gescholtene „Esoterikerszene“ beschwören, damit daraus eine gefährlich aussehende Mischung entsteht. Flugs werden Querverbindungen zu den Corona-Protesten konstruiert, wo auch Anthroposophen dabei waren und wo „antisemitische Symbole wie der ‚Judenstern‘ gezeigt wurden“, wie Gunkel etwas ungelenk formuliert.
Mit Vertretern der anthroposophischen Seite hat er nicht gesprochen. Selbst Kritiker werden von ihm nur so zitiert, dass sie das vorgefertigte Konzept bestätigen. So hatte sich der im Artikel als Kronzeuge erwähnte Michael Blume, Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg, beispielsweise in einem Interview durchaus differenziert zu Steiner geäußert. Er nehme wahr, „dass wir bei Steiner zum Thema Judentum und Antisemitismus verschiedene Phasen haben, wo er durchaus unterschiedliche Aussagen vertreten hat. Da nur einzelne Aussagen rauszupicken, würde ihm nicht gerecht.“ Genau das aber macht Gunkel. Dass Steiner etwa auch im Rahmen eines Vereins zur Abwehr des Antisemitismus aktiv war? Alles nur Tarnung.
Es lässt sich so manches über Steiners Verhältnis zum Judentum diskutieren: dass er zum Beispiel die Idee einer jüdischen Staatsgründung skeptisch sah und dass er sich (bei seltenen Gelegenheiten) als Anhänger der Assimilationstheorie äußerte. Antisemitismus sieht anders aus. Dennoch beschäftigt man sich auch auf anthroposophischer Seite historisch-kritisch mit Steiners Verhältnis zum Judentum – Ralf Sonnenberg im Jahrbuch für Antisemitismusforschung vor allem und auch in seinem 2009 herausgegebenen Sammelband Anthroposophie und Judentum. Das einzubeziehen hätte das Konzept dieses Spiegel-Artikels jedoch nur gestört.
Vor allem aber die heutige Praxis von Anthroposophie und Waldorfpädagogik will so gar nicht zu dem beschworenen Feindbild passen. Längst gibt es anthroposophische Projekte, Kulturzentren und Zeitschriften auch in Israel. Und wie würde der Spiegel-Autor wohl – wenn er denn davon gewusst hätte – die Tatsache einordnen, dass das pädagogische Modell eines angeblichen Antisemiten heute ausgerechnet in Israel zum Exportschlager geworden ist? 200 Kindergärten, 35 Schulen und sieben Ausbildungseinrichtungen arbeiten inzwischen in dem kleinen Land auf Grundlage von Steiners Waldorfpädagogik, zu einem großen Teil sogar in enger Kooperation mit dem staatlichen Schulwesen. So antisemitisch war Steiner …
Dr. phil. Jens Heisterkamp ist Co-Autor der 2008 erschienenen Studie: Frankfurter Memorandum. Rudolf Steiner und das Thema Rassismus, als Printausgabe oder als Download.