Von Anna-Katharina Dehmelt
Im Dezember 2020 wurde von der Universität Basel eine Studie zur Politischen Soziologie der Corona-Proteste vorgestellt.[1] Sie stützte sich auf 1150 ausgefüllte Fragebögen von Menschen in Deutschland und der Schweiz, die an Corona-Protesten beteiligt waren. Sie wurden unter anderem nach ihrer Zustimmung zu Sichtweisen befragt, die nach Meinung der Autor:innen anthroposophischem Denken entspringen[2] – ansonsten waren Anthroposoph:innen gar nicht Gegenstand der Untersuchung. Das Ergebnis fassen die Autoren, die ihre Studie selbst nicht für repräsentativ halten, so zusammen: Zwar kann man keine eindeutigen rechten Neigungen feststellen, „allerdings handelt es sich klar um eine Bewegung, die nach rechts offen ist und über ein beträchtliches immanentes Radikalisierungspotential verfügt“. Der Blogger Oliver Rautenberg gibt das Ergebnis am 11.1.2021 so weiter: „Die Teilnehmer kämen eher von links, tendierten aber nach rechts – darunter seien auch Anthroposophen.“ Am 25.2.2021 heißt es dann bei ihm: „In der Tat haben einflussreiche Anthroposophen sich seit der Pandemie als Querdenken-Funktionäre in Szene gesetzt und die Gefahren durch rechtsextreme Querdenker ignoriert, geleugnet oder relativiert.“ Und am 7.5.2021: „Die Anthroposophie erscheint mit ihren Ansichten von Impfungen bis Alternativmedizin, von der Betonung persönlicher Freiheiten bis zur gleichzeitigen Ablehnung staatlicher Eingriffe als esoterischer Arm der Querdenken-Bewegung.“[3] Damit ist das Narrativ für die nächsten Monate gesetzt. Die in sich außerordentlich differenzierte anthroposophische Bewegung mit ihren Waldorfschulen, Mediziner:innen und Kliniken sowie Bauernhöfen und Demeter-Siegeln hat sich seither immer wieder der Unterstellung zu erwehren, per se in Fundamentalopposition zu den Corona-Maßnahmen zu stehen, also ein Hort des „Querdenkertums“ und nach rechts orientiert zu sein.[4]
Am 21.11.2021 strahlt das ZDF eine Folge der Wissenschaftsshow mit der Journalistin Mai Thi Nguyen-Kim aus, in der es um die biologisch-dynamische Landwirtschaft und ihre Präparate geht.[5] Oliver Rautenberg hat nach eigenen Angaben an dieser Folge mitgeschrieben.[6] Inhalt der Sendung? Ob Demeter das bessere Bio sei. Nguyen-Kim durchwandert auf der Suche nach einer Antwort die vorliegenden Studien. Dabei findet sie durchaus positive Ergebnisse, jedoch nicht für die Wirksamkeit der biologisch-dynamischen Präparate.[7] Abschließend fragt sie rhetorisch: Aber die Präparate „schaden doch nicht? Doch, das schadet, das schadet dem Bio-Landbau. Unwissenschaftliche Methoden im Öko-Landbau verhindern einen Ausstieg aus der konventionellen Landwirtschaft. Denn wenn man versucht, in Harking-Studien Rechtfertigungen für die 100 Jahre alten Theorien eines selbsternannten Hellsehers über kosmische Energie, homöopathische Kackhörnchen und Darmkamillen zu finden, dann wird Bio nie mit konventioneller Landwirtschaft mithalten können.“[8] Die Pointe: Gentechnik in der Landwirtschaft sei sowieso die viel bessere Lösung. Es bleibt ein übler Nachgeschmack: Wird hier der biologisch-dynamische Landbau schlecht gemacht, um die Grüne Gentechnik zu stärken?
Knapp drei Wochen später, am 7.12.2021, beschäftigt sich eine Folge der ZDF-Satiresendung Die Anstalt im Mittelteil mit Anthroposophischer Medizin.[9] Am folgenden Tag treffen sich der verantwortliche Redakteur der Sendung, Dietrich Krauss, und Oliver Rautenberg, der auch bei dieser Sendung beteiligt war[10], zu einer Nachlese.[11] Neben den nun schon bekannten Behauptungen stellen die Gesprächspartner vor allem zwei Punkte ins Zentrum: Zum einen vermuten sie – wie übrigens auch für viele Verschwörungstheorien typisch – viel Geld im Hintergrund der anthroposophischen Bewegung, mit dem eine Unterwanderung des Wissenschaftsbetriebes und ein anderer Wahrheitsbegriff implementiert werden solle, zum anderen werden sie nicht müde zu betonen, dass zum Beispiel anthroposophische Medikamente gegen Krebs „rein aus hellseherischen Eingebungen, die Rudolf Steiner gehabt haben will“, entstanden seien und die biologisch-dynamischen Präparate „auf völlig wirren Gedanken eines Hellsehers“ fußen.[12]
Viele Menschen, die sich in diesen Dingen besser auskennen, waren empört über solche Darstellungen. Ja, es gibt Personen, die sich der Anthroposophie verbunden fühlen und gleichzeitig am rechten Rand des gesellschaftlichen Spektrums anzusiedeln sind. Aber es sind wenige, vermutlich weniger als in der Gesamtgesellschaft – empirische Daten dazu gibt es aber nicht. Ja, die Zusammensetzung der biologisch-dynamischen Präparate und ihre rein auf das Äußere beschränkte Schilderung klingt zunächst einmal befremdlich.[13] Aber Zusammen- und Herstellung sind durchaus erklär- und verstehbar. Ja, Rudolf Steiner hat sich auch auf Hellsichtigkeit als Erkenntnisquelle berufen. Aber er hat immer auch darauf hingewiesen, man solle überprüfen, was er vorbringt. Rationalität soll in der Anthroposophie gerade nicht vermieden, sondern gesteigert werden. Warum ist die Idee eines erweiterten Wissenschaftsverständnisses eigentlich so bedrohlich?
Und welche Rolle spielt eigentlich dieser Oliver Rautenberg, der uns nun schon mehrfach begegnet ist?
Ein Leben für den Kampf auf Twitter
Viel gibt er nicht von sich preis. Er ist Kaufmann[14] – wobei fraglich ist, wie viel Zeit ihm für diesen Beruf bleibt: Auf Twitter, wo ihm mittlerweile rund 30 000 Accounts folgen, hat er seit März 2019 77 000 Tweets abgesetzt. Das sind im Schnitt 60 Tweets am Tag. Er sieht sich selbst als Journalist[15] und seinen seit 2013 bestehenden Anthroposophie.Blog als sein journalistisches Projekt.[16] Zum Anthroposophie-Kritiker ist er durch eine negative Erfahrung nach der Geburt seines zweiten Kindes in einer anthroposophischen Klinik geworden.[17] Zuvor hatte er sogar eine anthroposophische Tagesmutter[18] und eine Zeitlang hat er sich für Die Grünen engagiert.[19] In Videos mit ihm erlebt man einen ganz gemütlich wirkenden Mann in den Vierzigern, der seine Einwände gegen Anthroposophie sehr ernsthaft vorbringt. Schriftlich ist manchmal auch ein gewisser Humor zu erkennen, zum Beispiel, wenn bei der Cookie-Bestätigung auf seinem Blog steht: „Bei Ahriman! Ich akzeptiere!“ Er bezeichnet sich selbst als Esoterikexperte[20] und behauptet, die rund 350 Bände der Steiner-Gesamtausgabe nahezu vollständig gelesen zu haben. Ist das glaubwürdig? „Ich habe die Gesamtausgabe gelesen, zum größten Teil. Steiner ist Rassist. Keine Debatte.“[21] Dass man aufgrund einzelner Steiner-Zitate zu dieser Schlussfolgerung kommen kann – zugegeben. Aber nach Lektüre der kompletten Gesamtausgabe?
Sein Anthroposophie.Blog – Wirres aus der Welt der Anthroposophie – Rudolf Steiner, Demeter, Weleda, Waldorfschule & Co. enthält relativ kurze, als Einführung gedachte, allerdings äußerst tendenziöse Texte. „Biologisch-dynamische Landwirtschaft ist eine pseudowissenschaftliche, esoterische Wirtschaftsweise, die auf den Ideen des Hellsehers Rudolf Steiner basiert“, heißt es dort zum Beispiel, und der Artikel über die Waldorfschulen enthält vier extrem abwertende Zitate – und sonst nichts.[22] Eine ernsthafte Beschäftigung mit Anthroposophie oder gar ein Verständnis selbst einfachster Zusammenhänge und Grundbegriffe der Anthroposophie ist nicht zu erkennen. Das ist vielleicht auch etwas viel verlangt von jemandem, der von sich sagt: „Sorry, Philosophie ist nicht meins.“[23] Dementsprechend klingt bei Oliver Rautenberg Anthroposophie so: „… kurz gesagt sollen höhere Verdünnungen [bei homöopathischen Medikamenten] auf höher entwickelte Auren oder Ätherleibe des Körpers wirken. Das heißt, man erwirbt alle sieben Jahre eine neue Aura, die kommt quasi zu der anderen dazu, da gibt’s den Ätherleib, den Astralleib, das Ich, und noch sieben bis neun andere, und das verspricht man sich als Wirkung.“[24]
Die Beiträge im Blog prangern oft Missstände wie Mobbing, Gewalt oder sexuellen Missbrauch an Waldorfschulen an.[25] Das ist völlig berechtigt. Allerdings werden diese Fälle nie in ein Gesamtbild eingeordnet und zu den vielen anderen Waldorfschulen in Beziehung gesetzt, an denen es diese Missstände nicht gibt. Stattdessen wird im gleichen Ton skandalisiert, dass ein Hamburger Schulverlag in Rautenbergs Augen unkritisch in die Waldorfpädagogik einführt, von einem Dozenten in einem Waldorflehrer-Seminar gesagt wird, dass er hellsichtig sei oder in den Tagesthemen deren Name getanzt wird.[26] Rautenberg zeigt sich empört – auch wenn dazu eigentlich gar kein Anlass besteht. Die Schlagzahl der Blogbeiträge hat allerdings in letzter Zeit stark abgenommen, seit dem 24.9.2021 gab es nur noch vier neue Einträge. Vielleicht ist alles gesagt.
Aber auf Twitter geht es weiter, oft mit Links auf alte Blogbeiträge. Menschen, die ihm widersprechen oder Dinge tun, die ihm missfallen, werden umgehend angegangen, manchmal könnte man fast sagen: gejagt. Als die Volkshochschule Bonn einen Kurs zu den biologisch-dynamischen Präparaten anbietet, weist Rautenberg wiederholt darauf hin, dass es sich „um eine unwissenschaftlichen (sic) Methode aus der Anthroposophie handelt“, verweist auf die VHS-Richtlinien und verlangt Stellungnahmen der VHS, des VHS-Verbands und sogar der Bonner Oberbürgermeisterin Katja Dörner.[27] Einer Person, die nach Gründen für Vorwürfe an die Waldorfpädagogik fragt, wird beschieden: „Eine einfache Internetsuche hilft bereits weiter. Die Waldorfschule unterrichtet nach dem Hellseher und Okkultisten Rudolf Steiner. Der Unterricht basiert u.a. auf Vorstellungen von Reinkarnation und Karma. Eine esoterische ‚Alternativpädagogik‘ aus der Anthroposophie.“[28] Und eine Frau, die berichtet, dass ihre Urgroßmutter mit Homöopathie vielen Menschen das Leben gerettet habe, wird zurechtgewiesen: „Nein, das hat sie nicht.“[29]
Über seinen journalistischen Hauptgegenstand äußert sich Oliver Rautenberg so: „Wie kann man den selbstbenannten Hellseher, diese rassistische und antisemitische Witzfigur noch lächerlicher machen, als er das selbst schon tat?“[30] Oder: „Die Anthroposophie in Deutschland ist verrottet bis ins Mark.“[31] Irritierend daran ist weniger, dass er das so sieht, sondern dass er mit solchen Äußerungen bei etablierten Medien als Experte angesehen wird. Die weithin sichtbare Befangenheit Rautenbergs müsste eigentlich jeden seriösen Journalisten abschrecken.
Skeptische Netzwerke
Das ließe sich nun noch lange fortsetzen, würde aber zu keinen neuen Einsichten führen. Oliver Rautenberg hat sich offenbar ein aufwändiges Hobby gesucht. Oder ist es gar kein Hobby? Warum tut er das und was will er erreichen? In welchem Kontext stehen seine Aktivitäten?
Ein Blick ins Impressum seiner Website hilft weiter. Dort lesen wir: „Oliver Rautenberg, C/o GWUP e.V.“. Die GWUP e.V. ist die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften und bildet zusammen mit der Giordano-Bruno-Stiftung (GBS) das Zentrum der deutschen Skeptikerbewegung (siehe dazu auch das Interview mit Harald Walach in diesem Heft).
Die GWUP hatte im Jahr 2021 2100 Mitglieder und 2400 Abonnenten der hauseigenen Zeitschrift Skeptiker – Zeitschrift für Wissenschaft und kritisches Denken.[32] Mit den Parawissenschaften meint die GWUP „Aberglaube, Esoterik, Okkultismus und Pseudowissenschaft“.[33] Dabei denkt man konkret an Astrologie, Homöopathie, Hellsehen oder Wasseradern.[34] Das primäre Tätigkeitsgebiet ist aber die „Pseudomedizin“.[35] Die Zeitschrift Skeptiker beschäftigt sich zudem auch mit Verschwörungstheorien oder untersucht die gesundheitlichen Folgen neuerer technischer Entwicklungen. Man sieht sich selbst als „Informationsdienstleister. Wenn es uns nicht mehr gäbe, würde ein wichtiger Akteur der öffentlichen Meinungsbildung wegfallen, vor allem im Bereich Pseudomedizin.“[36] Und in der „Corona-Krise ist die GWUP ein vielgefragter Ansprechpartner für Journalisten und Ratsuchende, wenn es um Verschwörungsmythen, Fake News und medizinische Heilsversprechen geht.“[37]
Für das Netzwerken in der Welt der Medien und auch der Politik[38] hat man sich gut ausgestattet. Zum Recherchieren steht die Online-Enzyklopädie Psiram (früher Esowatch) zur Verfügung.[39] Man schult sich für den Umgang mit „Wissenschaftsleugnern“.[40] Das Informationsnetzwerk Homöopathie (INH), ein Gremium der GWUP mit weiteren Unterorganisationen, geht wie eine umgekehrte Lobbyorganisation aggressiv gegen Homöopathie vor.[41] Kürzlich hat man zur Nachwuchs-Gewinnung einen Preis ausgeschrieben. Die Aufgabe: Bei einer Studie zur Wirksamkeit einer homöopathischen Behandlung sollte die Unwissenschaftlichkeit nachgewiesen werden.[42] – Ähnlich, nur breiter aufgestellt, ist das Online-Recherche-Magazin Medwatch[43], das zum Beispiel das Heilpraktiker-Gesetz angreift und für seine Arbeit von der GWUP 2019 einen Preis erhielt. Der Gründer von Medwatch, Hinnerk Feldwisch-Drentrup, ist seit Sommer 2022 Redakteur bei der FAZ, er schreibt dort über Gesundheit, Wissenschaft und China. Am 15.8.2022 erschien von ihm ein langer Artikel gegen Anthroposophie und Homöopathie unter Verwendung der mittlerweile sattsam bekannten Narrative. Auch Oliver Rautenberg kommt darin vor.
Nach außen gibt sich die GWUP großzügig und fortschrittsorientiert. Innen scheint es anders auszusehen, das berichten jedenfalls die GWUP-Aussteiger Edgar Wunder und Timm Grams (der nichts mit der Ex-Homöopathin Natalie Grams zu tun hat, die ebenfalls bei den Skeptikern aktiv ist[44]).[45] Dort wird ein fundamentalistischer Materialismus bzw. Naturalismus praktiziert und mit missionarischem Eifer vertreten. Wer nicht mitzieht oder Zweifel anmeldet, für den wird es schwierig. Auf der Website hält man sich über die eigenen weltanschaulichen Grundlagen eher bedeckt, wenn auch der GWUP-Chefideologe Martin Mahner mehrere Arbeiten zum Thema Naturalismus veröffentlicht hat.
Materialismus als Religionsersatz
Für die Weltanschauung ist eher die Giordano Bruno Stiftung zuständig.[46] Ihr Vorstandssprecher und Mitgründer Michael Schmidt-Salomon vertritt einen Evolutionären Humanismus, der einladend daherkommt, vor allem weil er den Menschen und die Aufklärung ins Zentrum stellt. Im Hintergrund steht dann aber doch ein streng reduktionistischer Materialismus, bei dem Schmidt-Salomon viel Mühe verwendet hat um zu zeigen, dass auch er Entwicklung und emergente Phänomene zulässt – der aber die Bahnen rein materieller Grundlagen letztlich doch nicht verlässt.[47] Und so ist auch der Mensch doch nur Ergebnis evolutionärer Zufälle. Wikipedia fasst den Evolutionären Humanismus des Michael Schmidt-Salomon so zusammen: „Programmziel ist eine säkulare Weltanschauung auf naturwissenschaftlicher Basis, die die Religion in sozialen und persönlich-spirituellen Belangen ersetzen soll.“ Damit verbunden ist eine ausgeprägte Religionskritik. Anfang dieses Jahres hat Schmidt-Salomon ein Säkulares Jahrzehnt ausgerufen, in dem beispielsweise alle religiös begründeten Gesetze vom Embryonenschutz bis zum Friedhofszwang aufgehoben werden sollen.[48] Gefordert wird ein weltanschaulich absolut neutraler Staat. Die gerne zur Patin gerufene Offene Gesellschaft hat dann für ihn aber schnell Grenzen. Zwar soll niemand aufgrund seines Glaubens oder Unglaubens diskriminiert werden. „Als Humanisten respektieren wir selbstverständlich jeden Menschen als Menschen. Doch manche Überzeugungen und Handlungen haben keinen Respekt, keine Wertschätzung, verdient. Wir dürfen nicht übersehen, dass die Glaubensüberzeugungen vieler tief religiöser Personen menschenverachtende Praktiken legitimieren (etwa die Diskriminierung von Frauen und Homosexuellen) und/oder auf unsinnigen, längst widerlegten Annahmen über die Welt beruhen (etwa der Vorstellung, die Menschheit sei das intendierte Ziel einer planvollen ‚Schöpfung‘, was den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie diametral widerspricht). Solch inhumane oder unsinnige Überzeugungen zu respektieren, käme einem Verrat an den Idealen von Humanismus und Aufklärung gleich.“[49] In den Augen der GBS unsinnige Überzeugungen schaden also der Offenen Gesellschaft? Poppers diesbezügliches Toleranzparadox ist da wesentlich großzügiger.
Auch die GBS hat ihre Ableger, die gezielt für bestimmte Zwecke gegründet wurden. Kürzlich erst wurde der Zentralrat der Konfessionsfreien neu belebt, und das säkulare Jahrzehnt wird nur möglich dank[50] von der GBS initiierten Institutionen wie dem Hans Albert Institut oder dem Humanistischen Pressedienst (HPD), wo unter dem Schlagwort „Anthroposophie“ zahlreiche Texte im Stil Rautenbergs zu finden sind.[51]
Keine Verbote?
Schaut man sich das ganze Netzwerk an, so begegnen einem immer wieder dieselben Namen. Martin Mahner, Michael Schmidt-Salomon und neuerdings Nikil Mukerji auf der philosophischen Ebene, als Internet-Aktivisten dann Bernd Harder und die GWUP selbst, Udo Endruscheit für das Informationsnetzwerk Homöopathie INH, Matthias Meisner vom Volksverpetzer und der TAZ, Ludger Wess, Felicitas Bergmann, Katharina Nocun … Man kennt sich, unterstützt sich und zitiert sich, und so kursieren immer wieder die gleichen Geschichten. Was die Anthroposophie betrifft, ist zumeist Oliver Rautenberg der Lieferant[52], und vor dem Hintergrund des oben Beschriebenen erscheint er fast wie ein Agent der Skeptiker-Szene in Sachen Anthroposophie. „Das okkult-magische Weltbild der Anthroposophie ist ebenso unbekannt, wie es anti-aufklärerisch und wissenschaftsfeindlich ist. Und das ist gefährlich für unsere Gesellschaft“, heißt es auf seiner Website, und damit vertritt er genau die Linie von GWUP und GBS. Die nämlich sind in Sachen Anthroposophie selbst gar nicht so aktiv[53]. Für die nächste Skeptiker-Konferenz im Jahr 2023 hat man nun allerdings ausdrücklich zum Einreichen von Papieren zum Thema Anthroposophie aufgerufen.[54]
Aber verbieten will Oliver Rautenberg die Anthroposophie und ihre Ausläufer in Pädagogik, Medizin und Landwirtschaft nun doch nicht. Darauf angesprochen, antwortet er: „Ich will also die Anthroposophie und ihre ‚Lebensfelder‘ (Waldorfpädagogik, Demeter, Alternativ-‚Medizin‘) #vernichten? Ich rufe noch nicht einmal zu einem ‚Verbot‘ oder Boykott auf. 😉 Hängt die Anthroposophie so sehr am Geldhahn des Staates, das (sic) ohne Förderung ihr Ende droht?“[55] Obwohl der Zwinkersmiley eigentlich anderes vermuten lässt, folgen 16 Belege aus eigenen Tweets: „Glauben kann man nicht verbieten. Sollte man auch nicht. Aber man könnte die staatliche Förderung von außerwissenschaftlicher Esoterik überdenken, überprüfen.“[56] Der Skeptiker-Kolumnist Michael Scholz fordert, den Zulassungsprozess homöopathischer Medikamente, die Finanzierung durch die Krankenkassen und die Apothekenpflicht aufzuheben.[57] Und „warum zum Beispiel muss der Staat esoterische Waldorfschulen bezahlen?“[58] Aber ist damit das Ziel wirklich erreicht? Bernd Harder teilt im Blog der GWUP am 14.9.22 mit: „Das ist aber keine Frage des ‚Wordings‘, sondern von Überzeugungen. Distanziert man sich ohne Wenn und Aber von Quatsch wie ‚Ätherleib‘ und ‚Geistkörper‘ – oder nicht?“[59]
Was tun?
Die Bekämpfung von Anthroposophie und ihrer Praxisfelder in Blogs und auf Twitter sowie in Zeitungen und Fernsehsendungen hat sich in der Corona-Zeit in einer Weise gesteigert, die man sich noch 2019 – dem Jubiläumsjahr der Waldorfpädagogik mit viel positiver Medienresonanz – nicht vorstellen konnte. Was zunächst als eine Vielzahl einzelner Angriffe erschien, wirkt zunehmend wie eine gut koordinierte Aktion mit klaren Motiven. Zwar äußern sich die Skeptiker religiösen Menschen gegenüber tolerant, aber der ganze Zwischenbereich zwischen reinem Glauben und hartem Materialismus – idealistische Philosophie, Erste-Person-Perspektive, Goetheanismus und aufgeklärte Spiritualität – soll vorgeblich um der Offenen Gesellschaft willen seiner gesellschaftlichen Geltung verlustig gehen. So wird entgegen aller Toleranz ins Lächerliche gezogen, was man selber nicht versteht oder verstehen will und was dem selbst praktizierten harten Materialismus nicht entspricht. Gegen solche Angriffe ist nicht leicht anzukommen, auch wenn die Kampagne der Skeptiker mit recht billigen Mitteln geführt wird – Twitter und die Blogosphäre sind auch auf anderen Gebieten eher ein Abgrund des Geisteslebens als dass sie Dialog und Verständigung förderten. Aber es handelt sich doch um eine tiefgreifende Auseinandersetzung, die man durchaus als Kultur- oder Geistes-Kampf bezeichnen kann und die nicht im Internet bleibt, sondern von dort in Leitmedien, öffentlich-rechtliche Fernsehsendungen und Politik schwappt.
Es geht dabei um mehr als um die Interessen der Anthroposophie als einer weltanschaulichen Minderheit. Es geht um die Grundlagen unseres Lebens und der Gesellschaft. Wollen wir den Menschen als Produkt der Materie ansehen, der auch nur durch Materie – Stoffe in Medikamenten – erreichbar ist? Wollen wir eine Gesellschaft, in der nur noch in placebo-kontrollierten und randomisierten Studien nachgewiesene Effekte zur Grundlage von Entscheidungen werden? Wollen wir eine Denkpolizei, die an der Grenze zwischen materialistischer Naturwissenschaft und sogenannten Parawissenschaften steht und niemanden durchlässt? Wollen wir eine Kultur, in der nur das Äußere zählt und innere Beobachtungen und Erfahrungen wertlos werden?
Anthroposophie vertritt ein vielschichtiges Menschenbild, in dem Menschen einen materiellen Körper besitzen und zudem Seele und Geist, sie sieht den Menschen als freies, individuelles und schöpferisches Wesen an, das sich auf vielfältigsten Wegen ständig entwickelt. Es wäre gut, unter dem Dauerbeschuss nicht den Kopf einzuziehen, sondern selbstbewusst einzutreten für eine Wirklichkeit, von der die Materie nebst der auf sie gerichteten Naturwissenschaft ein wichtiger, aber eben nur ein Aspekt ist. Anthroposophie will auch Rationalität nicht abschaffen – aber ausdehnen. Sie plädiert für eine wirklich offene Gesellschaft ohne Denkverbote. Anthroposophie ist vielleicht bisweilen schwer und gelegentlich auch gar nicht zu verstehen, aber sie macht keine Vorschriften, sondern will vielmehr jeden Menschen zur Befreiung seiner besten Kräfte einladen.
Vor dem Hintergrund dieser Vielfalt könnte die anthroposophische Bewegung lauter werden und die Grundlagen der anthroposophischen Geistesströmung aktiver vertreten. Die Skeptiker-Bewegung hat dank bester Vernetzung in Journalismus und Politik derzeit eine starke mediale Präsenz – dennoch dürfte sie kaum größer sein als die anthroposophische Szene. Die sollte sich nicht als diskriminierte Minderheit fühlen, sondern als Bewegung mit einem starken Beitrag zur Bewältigung der gegenwärtigen Krisen – auch wenn ihr das derzeit wirklich sehr schwer gemacht wird. Als Alternative bliebe nur, sich aus dem öffentlichen Diskurs und der öffentlichen Teilhabe ganz zu verabschieden. Aber eine Anthroposophie in der Defensive wäre ein herber gesellschaftlicher Verlust. Deshalb dürfte es auch weiterhin darauf ankommen, die Anthroposophie als Beitrag zu einer besseren Welt zur Sprache zu bringen.
Fußnoten
[1] www.soziologie.philhist.unibas.ch/de/forschung/forschungsprojekte/politische-soziologie-der-corona-proteste – Link zur Studie auf dieser Website ganz unten
[2] S. 35ff
[3] www.Anthroposophie.Blog – Einträge unter den genannten Daten
[4] Die Vorwürfe wurden durch eine zweite, von der Heinrich-Böll-Stiftung in Auftrag gegebene Studie der selben Autoren mit dem Titel Quellen des „Querdenkertums“ in Baden-Württemberg im November 2021 erneuert und viel zitiert – allerdings steht die neue Studie vor allem in Bezug auf die befragten Anthroposophen statistisch auf außerordentlich wackligen Beinen, siehe dazu den Kommentar von Jens Heisterkamp www.info3-verlag.de/blog/umstrittene-studie-anthroposophie-als-quelle-des-querdenkertums
[5] www.zdf.de/show/mai-think-x-die-show/maithink-x-folge-05-100.html
[6] Tweet am 29.7.22: „Ich weiß, ich habe an der Folge mitgeschrieben.“ Bei Tweets geben wir den Wortlaut so weit an, dass man den Tweet über die Suchfunktion finden kann. Die Abrufe waren am 17.10.2022.
[7] Hier irrt sie; siehe dazu die umgehende Stellungnahme von Demeter e.V. www.demeter.de//stellungnahme/zdf-neo-sendung-maithink-x. Siehe dazu auch den Beitrag Wissenschaftliche Studien in diesem Heft
[8] Harking ist eine unwissenschaftliche Vorgehensweise, die hier unterstellt, aber nicht belegt wird. Siehe dazu die Sendung ab Minute 23’16 sowie die Demeter-Stellungnahme dazu.
[9] www.zdf.de/comedy/die-anstalt/die-anstalt-vom-7-dezember-2021-100.html
[10] Tweet am 26.9.22: „In dieser Satiresendung hier war ich übrigens der ‚Stichwortgeber‘.“
[11] www.mediathek-hessen.de/hauptnavigation/fraport/index.php?ka=1&ska=medienview&idv=24388 (dort ist das Datum falsch angegeben, es muss sich um den 8.12.21, nicht um den 8.11.21 gehandelt haben)
[12] Zum Beispiel Minute 15 oder 17. In Minute 50’15 wird unterstellt, Steiner habe in der Nacht den Vortrag für den nächsten Tag geschrieben, weil er bereits Geld dafür bekommen habe. (Steiner hat seine Vorträge allerdings nie aufgeschrieben.) Minute 51’14: „Wenn Emil Molt ihm Geld gegeben hat für eine Arbeiterschule, dann hat er das gemacht.“
[13] Nguyen-Kim in ihrer Sendung ab Minute 10‘20
[14] www.medwatch.de/alternativmedizin/interview-anthroposophie-ist-mythos
[15] Zahlen und Berufsangabe werden auf Twitter-Profilen angezeigt. Abruf am 17.10.2022
[16] www.mediathek-hessen.de/hauptnavigation/fraport/index.php?ka=1&ska=medienview&idv=24388 Minute 2
[17] www.medwatch.de/alternativmedizin/interview-anthroposophie-ist-mythos/
[18] Tweet am 20.9.2022: „Spannend, wir hatten auch eine anthroposophisch inspirierte Tagesmutter.“
[19] Tweet am 24.1.2021: „Für die bin ich jahrelang auf die Straße gegangen.“
[20] www.mediathek-hessen.de/hauptnavigation/fraport/index.php?ka=1&ska=medienview&idv=24388 Minute 39‘12
[21] Tweet am 17.8.2022. Am 17.9.2021 hatte er sie erst zur Hälfte gelesen: „ich habe die halbe Gesamtausgabe gelesen.“ Eine gewaltige Leistung!
[22] Auf www.Anthroposophie.Blog unter den entsprechenden Stichworten
[23] Tweet am 17.9.2021
[24] www.mediathek-hessen.de/hauptnavigation/fraport/index.php?ka=1&ska=medienview&idv=24388 Minute 21‘30
[25] Blogeinträge vom 26.11.2021, 4.12.2020, 14.5.2019 oder 13.2.2019. Kürzlich berichtete das Magazin Zeit Verbrechen über Missbrauch an der Waldorfschule in Schwäbisch Gmünd.
[26] Blogeinträge vom 17.9.2020, 3.9.2020 und 2.6.2020
[27] Tweet am 14.9.2022 sowie unter den Tweets der VHS Bonn vom 12., 15. und 18.9.2022
[28] Tweet am 10.10.2022
[29] Tweet am 6.10.2022. Diese Abfertigungen dürften auch der Grund sein, aus dem es nie zu dem von Oliver Rautenberg angeblich gewünschten Dialog kommt. Tweet vom 12.8.2022: „Kein Twitter-Anthroposoph ging jemals auf irgendeine Kritik ein.“
[30] Tweet am 17.7.2022
[31] Tweet am 21.8.2022
[32] www.gwup.org/ueber-uns-uebersicht/gwup-geschichte
[33] Skeptiker 3/2022 S. 143
[34] www.gwup.org/ueber-uns-uebersicht/was-wir-wollen
[35] Skeptiker 3/2022 S. 131
[36] Skeptiker 3/2022 S. 131
[37] Skeptiker 2/2020 S. 97
[38] Man denke an die Ankündigung von Gesundheitsminister Lauterbach vom 6.10.2022, der prüfen will, ob die Homöopathie als Satzungsleistung der Krankenkassen gestrichen werden kann. Sie wurde medial flankiert von einem Interview mit dem GWUP-Vorstandsmitglied Nikil Mukerji im Tagesspiegel. Und bereits am 16.9.2022 hatte Mai Thi Nguyen-Kim getwittert: „Breaking News aus informierter Quelle: Auf #Homöopathie-Abzocker kommen schwere Zeiten zu, Maßnahmenpaket schon dieses Wochenende. Zu spät und doch Halleluja“, bevor sie dann am 18.9.2022 in ihrer Show die aufsehenerregende HomöopaTea-Aktion startete.
[39] Dort ist auch die Anthroposophie vertreten. Beim entsprechenden Stichwort ist allerdings der längste Abschnitt den Bekleidungsgewohnheiten gewidmet – www.psiram.com/de/index.php/Anthroposophie
[40] www.youtube.com/watch?v=HMa44DyzE84 Dort wird der Zuschauer auf fünf von „Wissenschaftsleugnern“ gerne angewandte rhetorische Strategien aufmerksam gemacht: Ein Einzelfall wird verallgemeinert, es werden unmögliche Erwartungen und Verschwörungstheorien formuliert, falsche Experten werden gehört und eine falsche Logik angewandt. Dass auch Skeptiker diese Strategien gerne anwenden, dürfte bereits deutlich geworden sein.
[41] www.netzwerk-homoeopathie.info – siehe dort die vielen offenen Briefe und Eingaben an den politischen Bereich und www.netzwerk-homoeopathie.info/wer-wir-sind-was-wir-wollen-warum-wir-da-sind
[42] www.netzwerk-homoeopathie.info/der-studierendenwettbewerb-von-inh-und-gwup-ist-entschieden Bei der Preisverleihung erklärt Norbert Aust: „Nun gut, dass keine von den [24] Einreichungen zu dem Schluss kam, dass diese Studie nun die Homöopathie belegt. Na gut, wer uns gegoogelt hätte, hätte herausbekommen können, dass man mit diesem Ergebnis mit Sicherheit keine Aussicht auf den Preis gehabt hätte.“ www.youtube.com/watch?v=gFdTkQn63Yw, Minute 9‘11
[44] www.gwup.org/who-is-who/1807-natalie-grams
[45] Zeitschrift für Anomalistik 2021/1, S. 69ff
[46] Zur erstaunlichen Benennung nach dem als Ketzer verbrannten, im Grunde aber tief spirituellen Renaissance-Philosophen und -Theologen siehe www.giordano-bruno-stiftung.de/leitbild/stiftungsname
[47] www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/ist-naturalismus-notwendigerweise-reduktionistisch
[48] www.youtube.com/watch?v=r5U9wnRWhlk
[49] www.giordano-bruno-stiftung.de/leitbild/10-fragen-antworten
[50] Im Video Minute 11’25 und www.giordano-bruno-stiftung.de/verbindungen
[51] www.hpd.de/schlagworte/anthroposophie
[52] So auch für Pia Lamberty und Katharina Nocun in ihrem eben erschienenen Buch Gefährlicher Glaube, laut S. 257
[53] Immerhin durften bei der Giordano Bruno-Stiftung Baden-Württemberg Oliver Rautenberg und der Waldorfkritiker André Sebastiani am 7.9.2019 einen langen Abend über Anthroposophie und Waldorfpädagogik reden: www.youtube.com/watch?v=omGEjxINuWY. Und GWUP-Vorstandsmitglied Nikil Mukerji gibt unter https://www.gwup.org/who-is-who/1977-nikil-mukerji als eine seiner Aktivitäten an: “Indoktrination und Bekehrung nichtsahnender Esoteriker”.
[54] www.gwup.org/infos/nachrichten/2346-skepkon-2023-call-for-papers
[55] Tweet am 6.9.22
[56] Tweet am 15.8.22
[57] onkelmichael.blog/2022/09/22/leseverstandnis-in-homoopathischen-dosen
[58] www.mediathek-hessen.de/hauptnavigation/fraport/index.php?ka=1&ska=medienview&idv=24388 Minute 43‘43
[59] https://blog.gwup.net/2022/09/14/waldorfpaedagogik-wenn-der-astralleib-umgeworded-wird