Souverän und unbequem

Ein Biografie zu Renate Riemeck

Von Ulrich Kaiser

Wie in einem Okular zeigt sich in Renate Riemecks Biografie die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Zugleich wird hier ein Mensch sichtbar, der den Impulsen dieser Geschichte nicht einfach folgt, sondern entschieden Einfluss auf sie zu nehmen versucht. Renate Riemeck will mitgestalten aus dem heraus, was sie trotz der Katastrophe des Krieges an Werten und Idealen in dieser Geschichte entdeckt. Aus der Erfahrung des Krieges, der ihre Jugend und Studienzeit prägt, wird sie zur Pazifistin. Auf die Erfahrung der Diktatur antwortet sie mit dem unbedingten Wert der Meinungsfreiheit. Jede obrigkeitliche Haltung – auch davon gibt es noch viel im Nachkriegsdeutschland – ist ihr zuwider. Aber man hat Angst vor dem Kommunismus. Jede neutrale Haltung, die sich nicht auf die Verteidigung des Westens versteift, wird schnell mit dem Kommunismus gleichgesetzt.

Riemeck ist von einem pädagogischen Impetus durchdrungen. Sie studiert Geschichte, wird bald Lehrerin, schließlich Dozentin und Professorin. Die Werte und die positive Kraft, die sie vermittelt, entnimmt sie der deutschen Geschichte und Literatur. An die Sprache Luthers oder Schillers will sie anschließen, sieht aber auch in einer zeitgenössischen Kinderbuchautorin wie Tami Oelfken wertvollen Lesestoff. Besondere Beachtung schenkt sie den „Ketzern“ – für sie ein weiter Begriff. Es sind diejenigen, die sich den gleichmacherischen und mächtigen Institutionen widersetzen, vom Mainstream abweichen und eine individuelle Weltsicht artikulieren und leben. Ganz wie sie selber, könnte man sagen: „Ich bin ein Mensch für mich“. So heißt denn auch ihre Autobiografie.

Dass nun, zwanzig Jahre nach ihrem Tod, auch eine sorgfältig erarbeitete Biografie über die bemerkenswerte Autorin, Pädagogin und Aktivistin erscheint, ist höchst erfreulich und verdienstvoll. Eine Vielzahl bisher unbekannter Quellen hat der Verfasser Albert Vinzens hierfür aus den Archiven herangezogen. Zeitgenossen und persönliche Bekannte wurden befragt. Der historische Kontext wird umsichtig erschlossen. Manches über Riemeck gefällte Pauschalurteil wird aufgehoben oder in ein anderes Licht gestellt. In diesem knapp 400-seitigen Werk tritt eine komplexe Persönlichkeit in Erscheinung, die uns in ihrer Lebensfrische, aber auch in dem, was ihr widerfährt, zu berühren und zu beeindrucken vermag. Riemecks Leben wird zu einem Resonanzraum der zweiten Jahrhunderthälfte.

Renate Riemeck war eine öffentliche Person nicht nur aufgrund der wertvollen Schulbücher, die sie nach 1945 geschrieben oder herausgegeben hat. In den 50er und 60er Jahren wird sie als Friedensaktivisten bekannt. Sie kooperiert mit Pastor Martin Niemöller oder dem Friedensnobelpreisträger Linus Pauling. Mit Albert Schweitzer, auch er Träger eines Friedensnobelpreises, steht sie in engem Austausch, er unterstützt ihre Aktivitäten von Gabun aus. An der Begründung einer politischen Friedens-Partei beteiligt sie sich maßgeblich. Sie wird aber die Hürde in den Bundestag und damit in die politische Professionalität nicht schaffen.

Über viele Jahre wird Renate Riemeck vom Verfassungsschutz beobachtet. Als sie im Juni 1960, einen Tag vor Ferienbeginn, als Professorin in Wuppertal vom Kultusminister suspendiert werden soll, kommt es zum ersten studentischen Sitzstreik in Deutschland, zu zahlreichen Demonstrationen und selbst zu einem Autokorso für die beliebte Hochschullehrerin. Ohne Erfolg. Der Schriftsteller Rolf Hochhuth wird der entlassenen Professorin später sein gesamtes Preisgeld für den Geschwister-Scholl-Preis übergeben. Weniger bekannt, aber doch ihr ganzes Leben wie einen tragischen und zugleich höchst menschlichen Faden durchziehend, ist ihre Beziehung zu der brillanten Journalistin und späteren Terroristin Ulrike Meinhof.

Schon früh war Renate Riemeck mit dem Werk Rudolf Steiners bekannt geworden. Der anthroposophischen Szene ordnete sie sich nicht einfach ein. Auch hier liebte sie es, zu provozieren, unbequem zu sein und Grenzen zu überschreiten. Als sie einmal vom Marburger Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft zu einem Vortrag eingeladen wurde, nahm sie, so heißt es, für den gleichen Tag auch eine Einladung der marxistischen Studentengruppe an. Vormittags sprach sie an der Universität dann über Rudolf Steiner. Am Abend versuchte sie dem anthroposophischen Publikum Marx näher zu bringen.

Sie forderte Beweglichkeit, innere Souveränität. Die Biografie, die Albert Vinzens über Jahre erarbeitet hat, löst diesen Anspruch ein. Sie ist inhaltlich dicht und mit lebendigem Puls geschrieben. Sie ist detailliert und lässt zugleich ein Gesamtbild entstehen, in dem die Spannungen und Widersprüche dieser faszinierenden Persönlichkeit zwar sichtbar, aber nicht immer aufgelöst werden.

Albert Vinzens, Renate Riemeck. Historikerin, Pädagogin, Pazifistin (1920-2003), Wallstein Verlag, Göttingen 2023, 408 Seiten, € 28.

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