Herr Gelitz, in Schweden gab es 2017 ein Gesetz, das die Kindergärten verpflichtet hat, Tablets anzuschaffen für eine frühzeitige Medienerziehung. Die Erfahrungen hat man wissenschaftlich begleitet und als Konsequenz daraus die Tablets 2023 wieder abgeschafft. Was halten Sie davon?
Es ist zunächst mal erfreulich, dass ein wissenschaftliches Gutachten zur Grundlage genommen wird für die politische Entscheidung, dieses Gesetz wieder zurückzunehmen. Das zeugt von Größe und davon, dass nicht ideologisch entschieden wurde, sondern wissenschaftsbasiert – was man sich eigentlich an vielen Stellen wünschen könnte. Und so weit ich es überschaue, sagt der Wissensstand, dass wir Bildschirmmedien wegen der messbaren Entwicklungsnachteile je jünger die Kinder sind, desto weniger und in den ersten drei Jahren gar nicht einsetzen dürfen. Das ist keine Waldorfmeinung, das ist Stand der Wissenschaft.
Warum sollen Bildschirmmedien in den ersten drei Lebensjahren
gar nicht eingesetzt werden?
Der Körper des kleinen Kindes und damit auch das Gehirn sind zunächst offen für alle Eindrücke. Das Kind kommt mit angeborenen Reflexen auf die Welt und muss jetzt selber sich den Körper ergreifen. Auch das ist keine Waldorfmeinung, sondern eine allgemein bekannte anthropologische Konstante. Und nun bildet sich das Sehen an den Farben aus und das Hören am Klang, den ich höre, und die eigene Bewegung nehme ich wahr durch die Bewegungen, die ich eben vollziehe. In dem Moment, wo sich ein Medium zwischen das Kind und die Wirklichkeit stellt, ist nur noch eine Erfahrung aus zweiter Hand möglich. Das Sich-zu-eigen-Machen des eigenen Körpers, der eigenen Beweglichkeit, die sensomotorische Integration, jede einzelne Organentwicklung, auch die Gehirnausreifung, also die Breite der Erfahrung, die Tiefe des Erfahrungshorizontes wird abgeschnitten an dieser Stelle und ganz wichtige körperliche Eigenerfahrungen fehlen: das Tasten, die Erlebnisse der eigenen Vitalität, die Gleichgewichtswahrnehmung. In dem Moment, wo ich sitze und übers Tablet wische, da balanciere ich nicht und da habe ich keine Gleichgewichtswahrnehmung. Es findet etwas nicht statt. Und das ist nicht ein Luxus, den man sich leisten könnte, dass man halt auch mal balanciert, sondern wenn das nicht tausendfach wiederholt erfahren wird, sind Kinder hinterher weniger geschickt in ihrem Körper und haben in ihrem Gehirn eine geringere Erfahrungsbreite neuronal repräsentiert. Und das ist auch nicht nachzuholen. Sie können ja nicht sagen: dann spiele ich halt, wenn ich 25 bin, mehr in der Pfütze oder hüpfe verstärkt über Baumstämme.
Was geschieht durch die Inhalte, die die Medien vermitteln?
Die Inhalte sind das eine. Sie sind teils abenteuerlich bescheuert, teils aber auch in Ordnung oder egal. Der Kern des Problems liegt aus frühpädagogischer Sicht woanders und ist auch beim schönsten Tierfilm nicht wegzudiskutieren. Ein sehr großes Problem ist nämlich die mangelnde Kongruenz: Man sieht etwas auf dem Bildschirm, was nicht passt zu dem, was man hört, was nicht passt zu dem Geruch, der gerade im Raum ist, was nicht passt zu dem Geschmack, den ich gerade im Mund habe. Es wird sozusagen die Wirklichkeit in Teile fragmentiert dargestellt, die überhaupt keinen Gesamtzusammenhang haben. Ich habe ein Bild, übrigens auch noch ohne Tiefe, ich habe einen Kommentar aus dem Off, schnelle Schnitte, irgendeine Musik. Das passt alles überhaupt nicht zusammen. Wenn wir in der Realität einen Apfel essen, dann macht das „knack“, zugleich habe ich einen Geschmack im Mund, dann habe ich einen Geruch in der Nase und zudem sehe ich den Apfel. Dieses Feuerwerk von Zusammenklang verschiedener Sinnes-Modalitäten findet beim Medienkonsum nicht statt. Man erzieht den Kindern an, dass sie dem, was sie mit ihren Sinnen wahrnehmen, nicht ganz trauen können. Und dann kommt noch die Reizüberflutung hinzu, die die Entstehung eigener Bilder, also die Phantasiefähigkeit, ablähmt durch fertige Bilder von außen, wie eine Droge, die sich an die Stelle der Eigenaktivität setzt – auch das ist ein großes Problem.
Und wie ist es ab dem Alter von drei Jahren?
Alle pädagogische Erfahrung spricht dagegen, Bildschirmmedien einzusetzen bis zum Alter von sieben, acht oder neun Jahren. Denn bis zu diesem Alter ist das sogenannte implizite Lernen in lebensweltlichen Bezügen vorherrschend. Die Kinder sind zunächst noch nicht in der Lage, auf Basis eines satten Körperfundamentes explizit zu lernen. Das entwickelt sich mit dem Eintritt in die Schule und muss stark sinnlich ausgestaltet sein in den ersten Schuljahren. Das wichtigste Medium ist auch in der Schule der Mensch, von dem ich lerne, und nicht ein Inhalte vermittelndes Gerät.
Was ist implizites Lernen? Der Schritt vom Säugling zum Schulkind ist ja gewaltig und der größte Entwicklungsschritt, den Menschen überhaupt jemals machen – Kinder lernen also enorm viel. Wie lernen Kinder denn in diesem Alter?
Mit implizitem Lernen ist gemeint, dass man eigentlich ein Kind zunächst am Lernen gar nicht hindern kann. Wir brauchen nicht explizit lehrend an das Kind heranzutreten, weil Kinder – das liegt in ihrer Natur – auf die Welt kommen mit Interesse und mit Zugewandtheit der Welt gegenüber. Und da brauchen sie als erste Bedingung eine starke Bindungsbeziehung zu den Eltern beziehungsweise zu den primären Bindungspersonen. Die Kinder müssen eingehüllt sein in liebende Zuwendung. Wenn sie das haben, dann ist die Grundvoraussetzung erfüllt, um sich spielend die Welt anzueignen. Das geschieht von alleine, das ist ein implizites Lernen, schon beim Säugling. Er liegt auf dem Rücken, fühlt sich frei, weil die Bedürfnisse wahrgenommen sind, und fängt an mit den Fingern zu spielen. Da kommt keiner und sagt: Es wäre jetzt angemessen für deinen Lernfortschritt, wenn du vor deinen Augen mit deinen Fingern spielst. Die Kinder ergreifen ihren Körper dann weiter, indem sie robben und krabbeln und sich hinsetzen und hochziehen und hinfallen und stehen und laufen, später hüpfen und springen und Fahrradfahren. Das Kind spiegelt in den ersten Jahren im Übrigen die sozialen Verhältnisse in der Umgebung, spiegelt das Verhalten der Erwachsenen und auch die Umgebung selbst. Und wenn ein Kind eine Blume gießt, dann macht es das nach, was die Erwachsenen tun. Wenn jetzt jemand kommt und erklärt: du musst die Gießkanne anders halten – dann sagt das Kind: du musst die Gießkanne anders halten. Die Kinder spiegeln die Handlung und nicht den Inhalt. Oder im Kindergarten: Wie kommt man eigentlich vom Freispiel zum Aufräumen? Statt mit einem Glöckchen rumzulaufen und „Aufräumzeit, ist so weit“ zu rufen, fange ich doch lieber an, meinen Arbeitsplatz aufzuräumen, noch was abzuwaschen, stelle den Tisch wieder an die richtige Stelle, ziehe schon mal eine Gardine zu …
… also Sie erklären es nicht …
… sondern ich mache es vor und begleite auch das eine oder andere in einer warmen, bildhaften Sprache: Oh, der Lastwagen muss langsam zurück in die Garage. Man muss letztlich einen pädagogischen Sog erzeugen, keinen pädagogischen Druck. Man merkt einfach: jetzt räumen wir gerade auf, und die Kinder machen mit, statt dass man etwas von ihnen verlangt. Also so ist Lernen organisiert: die Kinder schwingen ein. Dieses implizite Lernen ist immer ein mitschwingendes, ein nachahmendes, ein entdeckendes Lernen. Es geht gar nicht anders.
Das passiert spielend?
Zunächst ist eigentlich alles ein Spiel: die Lautmalereien im ersten Lebensjahr, das Worte-Auffinden im zweiten Lebensjahr, die Geschicklichkeit im Körper, das Kennenlernen von physikalischen Gesetzmäßigkeiten – aber es ist eben kein Tand, nichts Unwesentliches, was man auch noch machen kann, sondern das ist das Eigentliche. Die Kinder schwingen sich ein in ihre Umgebung, ahmen sie nach, und dabei entdecken und begreifen sie die Welt.
Wie wird denn daraus nun zum Beispiel im Waldorfkindergarten eine gesunde Kindheit?
Durch die verschiedensten Tätigkeiten. Es muss etwas passieren, in das man einschwingen, bei dem man etwas entdecken kann. Andernfalls sehen die Kinder in ihrer Umgebung Erwachsene, die auf Kinder aufpassen. Das kann man aber so schlecht nachahmen. Die Kinder werden unbeweglich und blass und kalt, wenn die Erzieher:innen dasitzen und schreiben oder Kaffee trinken oder mit den Nachbarn tuscheln.
Was sind das für Tätigkeiten?
Das sieht oft in Waldorfkindergärten ein bisschen nostalgisch und altbacken aus, aber so ist es gar nicht gemeint. Wenn gebacken wird, wenn Wolle gekämmt wird, wenn gegärtnert wird, wenn an der Werkbank gearbeitet wird: das passiert nicht, weil früher alles besser war in einer bäuerlichen Großfamilie, sondern um einen sinnlichen, unmittelbaren Lebensweltbezug herzustellen, bei dem die Kinder mitmachen können. Dass nicht nur auf Knopfdruck das Licht angeht, der Kühlschrank funktioniert, der Herd angemacht wird, die Spülmaschine alles macht und wir irgendwie unser Spielzeug kaufen, sondern dass die Dinge wieder transparent gemacht werden. Wir versuchen eigentlich, die Milch wieder aus dem Kaffee rauszuholen und zur Kuh zu bringen, so dass die Dinge überschaubar werden. Weil es tatsächlich sonst so ist, dass man nicht weiß, wie die Möhren gewachsen sind und wie sie in den Supermarkt kommen. Dann ist man nur noch der User, der Benutzer einer Welt, die schlaue Menschen für mich gemacht haben. Stattdessen erleben die Kinder durch die verschiedenen Tätigkeiten sich selbst als Akteure ihres Handelns.
Geht das auf Rudolf Steiner zurück?
Das ist einer der ganz wenigen Hinweise von Steiner für den Kindergarten, in einem Vortrag vom 18. April 1923 (in GA 306): Man soll nicht von einem Kind zum anderen gehen, um ihm zu sagen, was zu tun ist, sondern man soll einfach die Arbeiten des Lebens hereinholen und überleiten in die Arbeiten des Kindergartens, so dass sie in das Spiel einfließen können. Und das erleben wir ja auch in der Praxis: Wenn Erwachsene backen, wenn Erwachsene handwerken und die Kinder helfen, dass das wie eine Brücke ist zum freien Spiel. Also wir sägen mit den Kindern von einem Ast eine kleine Scheibe ab, dann schleift man die und hat einen Taler aus Holz für den Einkaufsladen. Und da gibt es dann Puderzucker oder Parmesan … was die Sägespäne alles sein können. Da passiert so viel in diesem Moment.
Durch die in jahrelanger Forschungstätigkeit empirisch hergeleiteten Begriffe des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zur Salutogenese kann sich das seit ein paar Jahrzehnten auf ein besseres begriffliches Fundament stützen. Wenn man die Vorgänge in der Welt erlebt als bedeutsam, als verstehbar und als handhabbar – das sind die drei wesentlichen von Antonovsky entdeckten Faktoren –, dann entsteht ein starkes Kohärenzgefühl, also ein starkes Zusammenhangsgefühl zwischen Ich und Welt. Das ist eine ganz valide Sache und es ist mit der Sense of Coherence Scale sogar messbar. Und dem entsprechen die Tätigkeiten im Waldorfkindergarten, jedenfalls sollten sie das: sie sind bedeutsam, verstehbar und handhabbar. Das Leben findet statt und ist mitmachbar, und die Kinder hören nicht andauernd: Das kannst du noch nicht, sondern sie machen einfach mit. Dadurch erhöhen wir das Kohärenzgefühl. Und je höher das Kohärenzgefühl, desto größer wird die Resilienz. Also die Widerstandskraft des Menschen hängt an dem Grad des Kohärenzgefühls.
Um nun noch einmal auf die Bildschirmmedien zurückzukommen: Ab wann ist es denn angemessen, mit ihnen umzugehen?
Das Ziel ist natürlich ein kompetenter Umgang mit technischen Geräten und mit digitalen Medien, und auch eine Mündigkeit, das heißt eine Selbsteinschätzung: Was tut mir gut, wann kann ich es einsetzen und wann merke ich, dass das suchtgefährdend ist und deswegen lasse ich es bleiben? Wir essen ja auch nicht immer weiter etwas, was uns nicht guttut, sondern setzen uns dann einen Stopp an der Stelle. Und das muss das Ziel auch sein im Umgang mit solchen Geräten. Das heißt, dass wir natürlich nicht bis zu einem gewissen Alter gar nichts machen können und dann den Schalter umlegen von null auf hundert. Wir müssen ab dem Alter von sieben, acht, neun Jahren, bis zu dem ich aus meiner Erfahrung heraus für einen Medienverzicht plädieren würde, bis zum jungen Erwachsenenalter eine Medienbalance erreichen: Wir müssen Kinder und Jugendliche heranführen an Medien, müssen mit ihnen über die Erlebnisse sprechen, müssen klar machen, dass ein Laptop auch ein Arbeitswerkzeug ist – das sind ja alles Dinge, die Kinder und Jugendliche lernen müssen. Das muss aber begleitet sein.
Ich scheue mich aber, da ganz genaue Altersangaben zu machen, das ist vielleicht auch von Kind zu Kind oder Jugendlichem zu Jugendlichen und auch von Elternhaus zu Elternhaus von der Umgebung her unterschiedlich. Man muss auch Kompromisse schließen können an der Stelle. Das ist ja sonst so, als wenn Sie ein Kind gar nicht auf den Kindergeburtstag lassen, weil der Zucker so böse ist. Am Ende muss man dann vielleicht eher über etwas hinwegsehen, als ein Problem daraus zu machen. Niemals würde ich Menschen vorschreiben, wie sie das zu Hause handhaben müssen. Statt zu jammern, sollte ich die Schule und den Kindergarten noch besser machen. Denn da bin ich zuständig. ///
Philipp Gelitz, *1981, ist promovierter Erziehungswissenschaftler, hat einen Master in pädagogischer Praxisforschung und ist staatlich anerkannter Erzieher und Waldorferzieher. Er war zuletzt 12 Jahre im Kindergarten des Bildungshauses Freie Waldorfschule Kassel tätig und ist seit 2022 Dozent für Kindheitspädagogik am Fachbereich Bildungswissenschaft an der Alanus Hochschule in Alfter, seit 2023 ebendort Juniorprofessor für die Waldorfpädagogik der frühen Kindheit.
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