Dieselben Zeitgenossen, die ohne mit der Wimper zu zucken bei einer kirchlichen Trauung himmlischen Segen für ihre Ehe erbitten, ihre Fitness in Yoga-Kursen optimieren oder zum Lunch eine ayurvedische Buddha-Bowl ins Homeoffice bestellen, bekommen Schnappatmung, sobald das Reizwort „Esoterik“ fällt. Schnell werden die gängigen Schubladen aufgemacht und alles vermeintlich Unwissenschaftliche, Rückständige oder anders Verdächtige einsortiert. Und auch wenn es innerhalb der überaus bunten, spirituell interessierten Szene geradezu peinlich naive Positionen gibt – von unbeirrt optimistischen „Bestellungen ans Universum“ bis zu unreflektierten „Zurück zur Natur“-Rufen – bleibt im Dauerfeuer der Esoterik-Kritik die nötige Differenzierung doch weitgehend auf der Strecke.
Die Corona-Krise und die mit ihr verbundene gesellschaftliche Polarisierung hat diesen Diskurs in den vergangenen Monaten deutlich zugespitzt. Die in deutschsprachigen Redaktionen prominent vertretenen Stimmen, die ganz im Sinne der Skeptiker-Bewegung argumentieren und ausschließlich materialistische Betrachtungsweisen gelten lassen wollen, sind noch einmal lauter geworden. Hinzu kommt ein Problem, dem die anthroposophische Szene ins Auge blicken muss: dass es nämlich in ihren Reihen tatsächlich nicht wenige Menschen gibt, die für verschwörungsideologische Ideen anfällig sind. Deshalb nun pauschal die Waldorfschulen als Brutstätte von „Corona-Leugnern“ und „Masken-Verweigerern“ darzustellen, schießt dabei jedoch weit über eine sachliche Einordnung hinaus. Der Bund der Freien Waldorfschulen reagierte prompt mit einer Erklärung und distanzierte sich insbesondere von rechtsideologischen Einstellungen. Eine weitere Initiative geht von ehemaligen Waldorfschüler*innen aus, die sich mit einer Petition gegen eine Vereinnahmung der Waldorfpädagogik etwa durch die „Querdenker“-Bewegung wehren.
Sehnsucht nach Erlösung?
Auch die Kritik an der Homöopathie und anderen komplementärmedizinischen Richtungen wie der Anthroposophischen Medizin hat im vergangenen Jahr weiteren Auftrieb erhalten. In gleich mehreren Artikeln und Interviews tauchte eine Argumentation auf, die alternative Heilmethoden per se in die Nähe von Verschwörungsideologien rückte. Die Begründung: Sie gingen historisch auf verschiedene Reformbewegungen um 1900 zurück, die erstens auf einem problematischen Naturverständnis beruhen und sich zweitens später unter anderem auch in völkisch und rechtsideologisch orientierte Strömungen verzweigt hätten. So sinnvoll es ist, die konfuse Begeisterung für alles „Natürliche“ und damit verbundenen Hoffnungen auf Erlösung von allem angeblichen Unheil der Moderne kritisch einzuordnen, so unangemessen ist es gleichzeitig, ohne jede Differenzierung seriöse komplementärmedizinische Ansätze zu diskreditieren, nur weil sie einen ganzheitlichen Blick auf Krankheiten haben. (Jetzt, Interview von Franziska Koohestani mit Jenny Willner, 04.09.2020: Was verbindet Esoterik und Rechtsextremismus?; Der Tagesspiegel, Christian Schröder, 31.08.2020: Geister, die sie rufen)
Die angeblich gefährliche Naturheilkunde bildete sogar den Aufhänger für einen Ende Oktober 2020 ausgestrahlten Tatort-Krimi. Es gehe um einen „Glaubenskrieg zwischen Schulmedizin und alternativen Heilmethoden“, so die Ankündigung der ARD. Die Skeptiker-Gemeinde in den Sozialen Medien hatte ihre Freude an der harschen Kritik an der Homöopathie als skrupelloser Geschäftemacherei, die Presse sprach gar von einem „Naturheilkunde-Schocker“. Fun Fact am Rande: Die Darsteller der beiden Wiener Sonderermittler, Harald Krassnitzer und Adele Neuhauser, haben privat eine durchaus positive Haltung zu Komplementärmedizin, wie sie im Interview mit nordbuzz verrieten.
Eifrige Aufklärer
Neben Journalist*innen etablierter Medien gibt es natürlich auch eine Reihe eifriger Blogger, die sich der Aufklärung über die gefährliche Esoterik im Allgemeinen und die Anthroposophie im Besonderen verschrieben haben. Einer der produktivsten ist Oliver Rautenberg, Betreiber einer kritischen Anthroposophie-Website, der als „AnthroBlogger“ vor allem auf Twitter rund um die Uhr aktiv ist. Seit acht Jahren setzt er sich unter sicherlich beträchtlichem Zeitaufwand mit aus seiner Sicht problematischen Komponenten der Anthroposophie auseinander und äußert sich in konsequent vernichtendem Ton zu allerhand „Missständen“. Wie er kürzlich im Interview mit der Skeptiker-nahen Organisation MedWatch berichtete, entspringt sein Interesse und Engagement offenbar schlechten persönlichen Erfahrungen in einer anthroposophischen Klinik. (MedWatch, Nicola Kuhrt, 30.11.2020: Die Anthroposophie ist ein Verschwörungsmythos)
Selbst dem notorischen Anthroposophie-Kritiker Andreas Lichte hat die aktuelle Debatte noch einmal neuen Schwung verliehen. Während er in den letzten Jahren vorrangig in den Kommentarspalten einschlägiger Online-Plattformen unterwegs war (wo er vorzugsweise auf eigene alte Beiträge verlinkt), hat er sich in einem Interview mit dem Religionsphilosophen (und info3-Buchautor) Ansgar Martins ausführlich nicht nur über Antisemitismus und Anthroposophie ausgelassen, sondern zudem auf Michael Blume eingeschossen, den Beauftragten der baden-württembergischen Landesregierung gegen Antisemitismus (siehe auch das Interview in info3, hpd, Interview von Andreas Lichte, 04.12.2020: Anthroposophie und Antisemitismus,). Martins, der in früheren Jahren den ganzen Themenkomplex sicherlich ausgiebig auf seinem Waldorfblog beackert hätte, ist nach eigenen Angaben inzwischen ein gefragter Experte, den derzeit regelmäßig Medienanfragen erreichen. In seinen verschiedenen Statements konstatiert er bei aller harschen Kritik immerhin auch eine gewisse gesellschaftliche Integrationskraft der Waldorfschulen. (Z. B. Stuttgarter Zeitung, Interview von Julia Bosch, 23.11.2020: Streit in der Szene ist noch nicht entschieden)
Geballte Diskreditierung
Wie aufgeheizt das Debattenklima ist, zeigte kürzlich auch die Aufregung um eine Kolumne im Demeter-Magazin, die als verschwörungsideologisches Statement interpretiert wurde, weil darin die Utopie einer auf gegenseitigem Vertrauen gründenden Gesellschaft entworfen wurde. Während der biodynamische Anbauverband in der Vergangenheit eher positive Presse bekam („Immer mehr Kunden wollen Super-Bio“ titelte im vergangenen Jahr noch die dpa, bei einer groß angelegten Studie des Stern erreichte Demeter den ersten Platz unter den „Grünen Marken“ Deutschlands), erlebte er Anfang Januar die geballte Diskreditierung der Esoterik-skeptischen Twitter-Bubble. Auch wenn der diskutierte Text tatsächlich so manche Angriffsfläche für eine kritische Betrachtungsweise bietet: deshalb den kompletten Demeter-Verband in die Nähe rechtsideologischer Positionen zu rücken, kommt schon einer Verleumdung gleich. ///
Dieser Text erschien in der Februarausgabe 2021 der Zeitschrift info3.