Wenn Naturgeister wirklich sind

Wenn Naturgeister wirklich sind

Heutzutage gilt der Glaube an Naturgeister als „Aberglaube“. Aber das war nicht immer so: Von den Germanen bis in die Goethezeit, in ländlichen Gegenden sogar noch länger, waren die meisten Menschen von der Existenz dieser Wesen vollkommen überzeugt.

Für die Mehrheit der heutigen Menschen in Europa sind „Naturgeister“ bloß Fabelwesen aus dem Märchenbuch. Zwar kennt man sie auch hierzulande noch ganz gut und kann zum Beispiel Elfen, Zwerge oder Riesen voneinander unterscheiden. Doch fast niemand mehr hält diese Wesen für real, und die wenigen, die es doch tun, werden schnell als „Esoteriker“ bezeichnet, wenn nicht gleich als „Psychopathen“. Die Naturgeister werden allgemein dem Bereich des „Aberglaubens“ zugeordnet. Dabei handelt es sich per definitionem um einen „falschen Glauben“, der vom vermeintlich „richtigen Glauben“, nämlich dem „Mehrheitsglauben“, abweicht. Der Begriff des Aberglaubens wurde zuerst im Mittelalter von der Kirche pejorativ auf alle „Andersgläubigen“ angewendet. 

Seit der Neuzeit wird er vor allem gebraucht, um Weltanschauungen abzuwerten,  die mit dem materialistischen Rationalismus der Naturwissenschaften inkompatibel sind. Es gibt aber auch Länder, in denen die Sache anders aussieht. Zum Beispiel glauben laut einer Umfrage der isländischen Álfaskólinn mindestens 54 Prozent der Bewohner Islands an die Existenz von Elfen, hier also sogar die Mehrheit der Bevölkerung. Demnach gilt es auf der Atlantikinsel eher als Aberglaube, nicht an die Naturgeister zu glauben.

In Island hat der Naturgeisterglaube eine lebendige Tradition. Das bekannteste Beispiel dafür ist gewiss die Tatsache, dass im Vorfeld von Bauvorhaben geprüft wird, ob sich am geplanten Ort eventuell Wohnstätten von Naturgeistern befinden; der entsprechende Nachweis stoppt das Bauvorhaben. Natürlich steht im Zentrum einer solchen Prüfung die Lektüre alter Texte, Märchen und Sagen: Wird der Ort darin erwähnt, gilt er als „Kulturgut“ und darf nicht zerstört werden. Doch gibt es durchaus auch Menschen, die behaupten, eine solche Prüfung mittels hellseherischer Fähigkeiten vornehmen zu können.

Zum Beispiel Erla Stefánsdóttir, die in der deutschen Presse als „Elfenbeauftragte“ bekannt wurde: Zwar hatte Erla nie ein offizielles Amt inne, doch wurde sie mehrfach etwa von den Behörden der Hauptstadt Reykjavik beauftragt, bei Bauvorhaben elfenkundliche Studien durchzuführen. Was in Deutschland also als „Aberglaube“ gilt, ist in Island „gelebte Realität“.

Nordische Naturgeister

Island ist freilich nur der Gipfel des Eisbergs. Denn der dortige Glaube an Naturgeister rührt ganz offenbar noch aus einer Zeit und Weltanschauung her, in der noch alle Menschen zwischen Island und Deutschland von der Existenz dieser Wesen überzeugt waren. Was sich auf der abgelegenen Nordatlantikinsel bis in die Gegenwart erhalten hat, war im Altertum eine lebendige Überzeugung aller germanischen Völker, die auf den Gebieten des heutigen Deutschlands, Dänemarks, Schwedens, Norwegens, Hollands, Englands und Islands lebten. Nicht zufällig lassen sich die meisten noch heute geläufigen Bezeichnungen für die Naturgeister auf die germanischen Sprachen zurückführen, zum Beispiel „Elfe“ (germ. *albaz, altnord. álfr, ahd. alb, altengl. ælf, altdän. elve) oder „Zwerg“ (germ. *đwerʒaz, altnord. dvergr, ahd. twerg, altengl. dweorg, altdän. dværg). Für die Germanen waren die Naturgeister keine Fabelwesen, sondern alltägliche Realität, wie alte Überlieferungen mannigfach bezeugen, zum Beispiel die Isländersagas oder die Eddas, Runeninschriften und Zaubersprüche sowie volkstümliche Überlieferungen.

Bei den Germanen gab es sogar Gesetze, die den Naturgeistern Landfrieden gewähren sollten: So war es etwa bei den Wikingern fest vorgeschrieben, den mit Tier- und Drachenköpfen verzierten Steven eines Schiffes abzunehmen, sobald man mit dem Schiff in Sichtweite des Ufers kam, um die dort lebenden Landgeister nicht zu vertreiben. Schon im germanischen Altertum war es gängige Praxis, mit größtmöglicher Rücksicht auf diese Wesen vorzugehen, wenn man etwas bauen wollte, namentlich ein neues Gehöft in unberührter Natur: Sowohl die Nord- als auch die Südgermanen vollzogen bei der Landnahme bestimmte Rituale, bei denen es darum ging, den Genius Loci milde zu stimmen; zum Beispiel die Circumambulation, die rituelle „Umgehung“ eines neuen Grundstücks.

Vor jedem Gehöft kultivierte man einen geweihten Schutzbaum, den sogenannten Vårdträd („Wachtbaum“), in dem der ursprüngliche Ortsgeist seinen Wohnsitz hatte und an dem man diesem Wesen alltäglich Opfergaben darbrachte, zum Beispiel Milch und Bier über die Wurzeln goss. So verwandelte man den wilden Waldgeist mit der Zeit zu einem gutmütigen Hausund Hofgeist, der wie ein Familienmitglied mit den Menschen zusammenlebte („Spiritus Familiar“).

Für die Germanen waren die Naturgeister evident und wahrnehmbar. Nicht einmal die Christianisierung konnte daran etwas ändern, überstanden diese Wesen die christlichen Umdeutungen und Verunglimpfungen doch deutlich besser als die heidnischen Götter, weshalb es in bestimmten Gegenden in Skandinavien bis heute noch Relikte dieses alten Glaubens gibt.

Neuzeitliche Naturgeister

Nicht nur im hohen Norden, auch auf dem Kontinent hielt sich der Glaube an Naturgeister erstaunlich lange. In der Volksmagie war es jahrhundertelang noch gang und gäbe, mit diesen Wesen auf die eine oder andere Art und Weise zu interagieren, wie etwa mittelhochdeutsche Zaubersprüche mit Bezug auf Alben, Wichte und Riesen bezeugen. Noch in der frühen Neuzeit war der Glaube an Naturgeister nachweisbar omnipräsent:

Mit der Erfindung des Buchdrucks entstanden viele Volksbücher und ganze Dämonologien, die von diesen Wesen berichteten. Auch die neuzeitlichen Naturphilosophen setzten sich mit den Naturgeistern auseinander: Agrippa von Nettesheim schreibt in seiner Occulta Philosophia (1531) über „Wald-, Berg-, Feld- und Hausgeister“, welche „in Wäldern und Hainen, andere bei Quellen und auf Wiesen“ wohnen. Georg Agricola beschreibt diese Wesen in seinem Buch De animantibus subterraneis (1549) so selbstverständlich wie Pflanzen und Tiere. Paracelsus wiederum ordnet sie in seinem Werk Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandribus (1556) den Elementen zu und unterscheidet „Sylphen“ (Luft-), „Undinen“ (Wasser-), „Gnome“ (Erd-) und „Salamander“ (Feuergeister). Seither waren diese Wesen immer wieder Gegenstand geisteswissenschaftlicher Untersuchungen.

Viele Dichter und Denker der Zeit um 1800 waren ebenfalls von der Existenz dieser Wesen überzeugt: Zum Beispiel der große Heide Goethe, dessen Dichtungen von Erlkönigen und Erdgeistern, Nixen und Nymphen, Salamandern, Undinen, Sylphen und Kobolden handeln. Heute will man davon nichts mehr wissen, aber Goethe entwickelte sogar eine eigene Methode, um das Geistige in der Natur wahrnehmen zu können, das sogenannte „Sehen mit Geistesaugen“.

Heinrich Heine ist ein weiterer Dichter, der offenkundig eigene Erfahrungen mit Naturgeistern in seine Werke hat einfließen lassen: Jedenfalls bekennt er freimütig gleich zu Anfang seines geisteswissenschaftlichen Essays Elementargeister, dass er der „Elfenkönigin“ auch selbst bereits persönlich begegnet sei. Den Vorwurf, dass es sich dabei um eine reine Dichterphantasie handeln könnte, weist Heine entschieden zurück: „Wessen Hirn ist so dick, dass es nicht manchmal das heitre Geklinge ihres Luftzuges vernimmt?“.

Erst mit der modernen Hochindustrialisierung ging das Wissen um das Wesen und Wirken der Naturgeister weitestgehend verloren.

Paradigmatisch dafür steht das Gemälde des romantischen Malers Carl Spitzweg, das einen Zwerg darstellt, der besorgt auf eine dampfende Eisenbahn blickt. Auch auf den F.r.ern erzählt man sich, dass die Naturgeister verschwanden, als die Elektrizität kam. Seitdem werden diese Wesen dem Bereich des „Aberglaubens“ zugeordnet.

Geistiges Anschauungsvermögen

Im 20. Jahrhundert befassten sich nur noch die wenigsten ernsthaft mit Naturgeistern.Einer von ihnen war Rudolf Steiner. In mehrtätigen Vortragsreihen, etwa in Helsinki (April 1912) und Dornach (November 1923), hat er von diesen Wesen geisteswissenschaftlich berichtet. So nimmt nicht wunder, dass es auch heute noch Anthroposophen gibt, die an Naturgeister glauben und von sich selbst behaupten, diese Geschöpfe auf irgendeine Art und Weise wahrzunehmen; man denke an die vielen Veröffentlichungen der Flensburger Hefte zum Thema Naturgeister.

In einer zentralen Textpassage des Buches Theosophie (1904) erläutert Steiner, worin aus seiner Perspektive der eigentliche „Aberglaube“ bezüglich der Naturgeister bestehe: „Diejenigen, welche geistiges Anschauungsvermögen haben, nehmen aber solche Wesen wahr und können sie beschreiben. Zu den niedrigeren Arten solcher Wesen gehört alles, was die Wahrnehmer der geistigen Welt als Salamander, Sylphen, Undinen, Gnomen beschreiben. Es sollte nicht gesagt zu werden brauchen, dass solche Beschreibungen nicht als Abbilder der ihnen zugrunde liegenden Wirklichkeit gelten können. Wären sie dieses, so wäre die durch sie gemeinte Welt keine geistige, sondern eine grob-sinnliche. Sie sind Veranschaulichungen einer geistigen Wirklichkeit, die sich eben nur auf diese Art, durch Gleichnisse, darstellen lässt. Wenn derjenige, der nur das sinnliche Anschauen gelten lassen will, solche Wesenheiten als Ausgeburten einer wüsten Phantasie und des Aberglaubens ansieht, so ist das durchaus begreiflich. Für sinnliche Augen können sie natürlich nie sichtbar werden, weil sie keinen sinnlichen Leib haben. Der Aberglaube liegt nicht darin, dass man solche Wesen als wirklich ansieht, sondern dass man glaubt, sie erscheinen auf sinnliche Art.“ 

Oder anders formuliert: Wer ernsthaft davon ausgeht, dass es sich bei den Naturgeistern um physische Figuren handelt, wahrnehmbar mit den fünf Sinnen, materielle Wesen, womöglich noch in menschlicher Gestalt, der wird sie sicher niemals zu Gesicht bekommen. Diese Wesen offenbaren sich uns metaphysisch, geistig-seelisch bzw. „übersinnlich“.

Im naturwissenschaftlichen Paradigma sind Steiners Ausführungen zur geistigen Wahrnehmung der Naturwesen natürlich „Aberglaube“. Aus geisteswissenschaftlicher Perspektive machen sie jedoch Sinn. Zumal schon der berühmte Philosoph Platon in der klassischen Antike davon ausging, dass der Mensch nicht nur über ein sinnliches Wahrnehmungsvermögen verfüge, sondern auch über ein geistiges (altgr. noesis): Während ihm ersteres ermögliche, die materielle Erscheinungswelt wahrzunehmen, ermögliche ihm zweiteres, die spirituelle Welt der Ur-Wesen zu schauen.

Im germanischen Altertum wiederum sprach man von Ófreskir menn, „Menschen mit dem zweiten Gesicht“, welche mit den Naturgeistern in Verbindung standen; das altnordische Verb ófreski heißt „hellsehen“. Aber auch mit dem, was Goethe das „Sehen mit Geistesaugen“ nannte, stimmt Steiner überein. Und in Island „sieht“ man die Naturgeister sogar noch heute.

Naturgeister mögen sich nicht „messen“ lassen. Aber über die gesamte europäische Geschichte hinweg gibt es Berichte von Menschen, die sie „schauen“ oder „spüren“ konnten.

Die Begegnung zwischen Menschen und Naturgeistern ist in schriftlichen Überlieferungen aus dem gesamten Altertum – also mindestens von 800 vor unserer Zeitrechnung bis 1800 – vieltausendfach belegt. Ganze Gesellschaften gingen von ihrer Existenz aus, zum Beispiel die Germanen. Gelehrte aller Zeiten schrieben über diese Wesen, zum Beispiel Platon, Paracelsus, Goethe, Heine oder Steiner. Unsere eigenen Vorfahren glaubten allesamt noch an Naturgeister, zumindest bis vor ein bis zwei Jahrhunderten. Wäre es nicht vielmehr abergläubisch, anzunehmen, dass sie sich alle irrten? 


Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe info3 Dezember 2024.

Über den Autor / die Autorin

Thomas Höffgen

Dr. phil. Thomas Höffgen ist Autor mehrerer Bücher im Bereich der germanischen Altertumskunde und europäischen Naturspiritualität, zum Beispiel: „Nordische Naturgeister. Leben mit den Wesen des Waldes“ (2024), „Waldphilosophie. Warum der Wald nicht nur gesund, sondern auch weise macht“ (2023) und „Der verteufelte Waldgott. Die Christianisierung der Germanen“ (2022). www.thomashoeffgen.de