„Selbstbestimmung maximal ermöglichen“

Punkt und Kreis - Wandtafelzeichnung Rudolf Steiners zum Heilpädagogischen Kurs

Was ist „Behinderung“, was meint Assistenz-Anspruch, wie gelingt Empowerment? Ein Gespräch mit Annette Pichler über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der von Rudolf Steiner inspirierten Heilpädagogik und Sozialtherapie.

Frau Pichler, zu den zentralen Qualitäten der von Rudolf Steiner begründeten Heilpädagogik gehört das anthroposophische Menschenbild, das zwischen Körper, Seele und Geist differenziert. Vor diesem Hintergrund sind Menschen mit Behinderung, die oft als „geistig behindert“ bezeichnet wurden, immer als geistig vollwertige Menschen gesehen worden.

Steiner ging davon aus, dass Menschen mit einer Behinderung einen völlig intakten Geist haben. Ganz gleich, ob ein Mensch äußerlich gesehen eine Behinderung hat, es ist immer ein Geistwesen da, das sich in der Welt seinen Ort sucht und in der Welt auch seine Intentionen verwirklichen will.

Mitunter wird unter Anthroposophen dann leichthin gesagt: Bei einem Menschen mit Behinderung liegt eben ein Karma vor, er oder sie hat sich die Schwierigkeiten mit einer Behinderung aus diesen und jenen Gründen selbst ausgesucht. Was sagen Sie als Ausbilderin in der Heilpädagogik dazu?

Ich habe ein Problem, wenn Behinderung so schnell in einen Topf mit Karma geworfen wird. Steiner sagt ja gerade im Zusammenhang mit Karma sehr deutlich, dass nicht alles „karmisch“ ist und dass es auch Zufälle gibt. In der Welt der Physiologie entstehen ja zum Beispiel schlicht auch Mutationen, die zu einer Behinderung führen – das muss überhaupt nicht „karmisch“ sein, es könnte ebenso gut ein Zufall sein, der zu bestimmten Lebensbedingungen führt, mit denen sich die betroffene Person dann auseinandersetzt.

Und wie hat Steiner das gesehen?

In seinen Vorträgen zur Heilpädagogik, dem Heilpädagogischen Kurs, hat er Behinderung nicht grundsätzlich als karmisch verursacht definiert, obwohl er in manchen Beispielen dann doch einen solchen Zusammenhang andeutet. Allerdings muss ich dann ganz genau hinschauen, was genau bei Steiner mit „Karma“ eigentlich gemeint ist, und das ist gar nicht so einfach herauszufinden. Ganz schwierig wird es, wenn eine Behinderung oder Krankheit als Schuld-Ausgleich gesehen wird. So etwas konnte ich in meinem Recherchen zum Thema auch gar nicht finden bei Steiner. Insgesamt brauchen wir einfach noch viel genauere Forschung, um das aufzuklären.

Zur Zeit Steiners gab es ja auch noch manche seltsame Begrifflichkeiten, zum Beispiel den Begriff „minderwertig“, wenn eine Beeinträchtigung gemeint war. Auch Steiner hat den Begriff verwendet. Wie gehen Sie damit um?

Steiner war an dieser Stelle nicht ein vollkommen durchblickender „Eingeweihter“, sondern hat als Mensch seiner Zeit eben auch manche Begriffe seiner Zeit verwendet, die ihm zu Verfügung standen.

Gleichzeitig waren für Steiner ja diese Kinder in keiner Weise weniger wertvoll. Er hat ja sogar einen eigenen Begriff geprägt und sprach von „Seelenpflege-bedürftigen“ Kindern.

Ich sehe diesen Begriff allerdings heute eher kritisch, weil ich denke, dass wir doch alle Seelenpflege brauchen. Also nicht der Begriff als solcher ist für mich problematisch, aber die Gleichsetzung von Menschen mit einer Behinderung und Seelenpflegebedürftigkeit. Natürlich kann man sagen, dass jemand, der daran gehindert ist, seinen Geist entsprechend auszudrücken, weil er zum Beispiel eine Behinderung hat, dass der einen besonderen, auch seelisch besonders gepflegten Raum zur Entfaltung braucht. Aber das trifft ja auch beispielsweise für Menschen mit einer schweren Erkrankung oder mit einer Traumatisierung zu – und letztlich für uns alle, wenn wir zum Beispiel in einer Lebenskrise sind.

Hinzu kommt aber, dass die Zuschreibung von Bedürftigkeit nicht mehr der Art und Weise entspricht, wie wir heute im Sozialwesen und in der Heilpädagogik mit den Menschen umgehen wollen. Wir sagen eher: Es geht darum, diese Menschen zu empowern, also zu ermächtigen, sie haben einen Assistenzbedarf, ich persönlich spreche sogar eher von einem Assistenz-Anspruch, weil es ja tatsächlich auch um einen rechtlichen Anspruch geht. Das ist für mich eine Frage des Blicks: Sehe ich einen Menschen als bedürftig an, oder sehe ich ihn einfach so an, wie er jetzt, in diesem Moment, ist, schaue ich auch seine Ressourcen an: Was hat er für Kapazitäten in sich selbst oder in seinem Umfeld. Ich schaue also weniger auf das, was ihm fehlt – das wäre die Bedürftigkeit –, sondern darauf, welche Möglichkeiten er oder sie hat und wie diese unterstützt werden können.

Ein gewisser Grad an Bedürftigkeit zeichnet aber doch viele Menschen mit Behinderung aus, vor allem, wenn sie nicht selbständig leben können. Es gibt ja derzeit den Trend, sprachlich möglichst alles richtig zu machen, niemanden auszuschließen – aber ändern wir dadurch auch die Haltungen?

Ich sehe diese Schwierigkeit, dass sich durch Änderungen in der Sprache noch lange keine Haltungen ändern. Und gleichzeitig prägt Sprache auch Haltungen. Sprachliche Diskurse gestalten auch die materielle Welt.

Welche Rolle spielt das in der Ausbildung, in der Sie tätig sind?

Da arbeiten wir mit den Studierenden daran zu differenzieren: Was ist Betreuung, was ist Begleitung, was ist Assistenz? In welche unterschiedlichen Rollen gehe ich da jeweils? Ich muss sicherlich auch mal ein Betreuender sein, aber in erster Linie werde ich bemüht sein, Assistenz zu geben. Vorrang hat die Selbstermächtigung – wenn das nicht geht, Begleitung, und wenn auch das nicht geht, vielleicht auch mal Betreuung. Wenn jemand beispielsweise auf der Straße einen Schrecken bekommt und in den fließenden Verkehr läuft, da muss ich Betreuerin sein und eingreifen und die Person festhalten, da bin ich nicht nur Assistentin. Aber grundsätzlich geht es darum, immer zuerst an die Selbstbestimmung zu denken – das wäre die Haltung. Und Sprache kann ein Instrument sein, das dabei unterstützt, die eigene Haltung zu entwickeln.

Das Prinzip der Inklusion ist ja durch eine UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung bereits seit längerem auf einer hohen Stufe festgeschrieben. Die Umsetzung lässt aber noch zu wünschen übrig.

Was natürlich an gewachsenen Strukturen liegt.

Denken Sie da auch an die oft abgelegenen Einrichtungen der anthroposophischen Sozialtherapie?

Es gibt zunehmend Menschen, die sich eine Wohnform wünschen, die stärker in kommunale Strukturen eingebunden ist. Und hinzu kommt, dass aufgrund des Fachkräftemangels sich derzeit einige Organisationen verkleinern müssen. Wir haben fast überall zu wenige Menschen in der Ausbildung. Im Blick auf die klassisch anthroposophischen gemeinschaftlichen Wohnformen, an die wahrscheinlich in Zusammenhang mit anthroposophischer Heilpädagogik sofort gedacht wird, möchte ich sagen, dass Inklusion hier unter Umständen nur bedingt gelingt, es war oft eine Inklusion in der Exklusion. Ich selbst habe das 14 Jahre lang praktiziert in diesen familienähnlichen Strukturen, es war eine wunderschöne Zeit und wir waren alle sehr überzeugt, es richtig zu machen. Es braucht auch wirklich manchmal diesen geschützten Raum – aber irgendwann muss dieser anthroposophische Impuls raus in die Welt, und die Welt kann davon auch profitieren! Das ist meine Vision. Aber weil wir eben gemeinschaftliche Wohnformen an eher abgelegenen, schon durch ihre Lage exkludierenden Orten haben, ist das eine große Herausforderung und noch ein langer Weg. Insgesamt jedenfalls muss unser Ziel bleiben, Menschen mit Assistenzbedarf so zu sehen, dass wir ihre Selbstbestimmung maximal ermöglichen – und, wo sie das möchten, eben auch mitten in der Gesellschaft. Aber auch dort kann das nur in dem Maß gelingen, in dem es die Bevölkerung wirklich auch aktiv und konkret mitgestalten will.

Eine bange Frage von Angehörigen mit stark unterstützungsbedürftigen, mehrfachbehinderten Kindern ist, was mit ihren Kindern sein wird, wenn der Trend immer mehr weg von den eher ländlichen Einrichtungen geht, in denen sie sich bisher gut aufgehoben fühlen.

Die Frage ist berechtigt, denn für Menschen mit weniger einschränkenden Behinderungen ist Inklusion sicher leichter zu ermöglichen, und die Gefahr besteht, dass dann die anderen übrig bleiben und sich die Exklusion verschärft. Ich verstehe diese Sorge! Gleichzeitig versuche ich mir klarzumachen: Auch ein Mensch mit großem Unterstützungsbedarf ist ein autonomes Wesen – da sind wir wieder beim anthroposophischen Menschenbild mit dem Menschen als Geistwesen! Ich muss alles versuchen um herauszufinden, wie dieses Geistwesen leben möchte. Das herauszufinden, wird durch eine Behinderung natürlich unter Umständen erschwert. Und wenn ich dann herausfinde, dass jemand wirklich glücklich in einer Einrichtung ist und da leben möchte, ist das völlig in Ordnung. Die Organisation muss aber alles daransetzen, sich nach und nach zu de-institutionalisieren und stattdessen einen Raum zu entwickeln, in dem nicht Strukturen das Leben bestimmen, sondern die Bedürfnisse der Menschen und ihr Recht auf individuelle Entwicklung. ///

Zur Person: Annette Pichler ist Psychologin und Heilerziehungspflegerin und hat viele Jahre in Organisationen der anthroposophischen Sozialtherapie gearbeitet. Heute ist sie in der Ausbildung tätig und Leiterin der Akademie AnthropoSozial mit zwei Standorten im Raum Stuttgart. Sie ist außerdem seit 2020 im Vorstand von Anthropoi Bundesverband und seit diesem Jahr Vorsitzende der Ständigen Konferenz der Ausbildungsstätten für Heilpädagogik, in der sämtliche Ausbildungsstätten Deutschlands zusammengeschlossen sind.

Buchtipp: Kreis und Punkt. Eine kritische Analyse zum Heilpädagogischen Kurs  Rudolf Steiners, Info3 Verlag 2024, € 19,90. Hier das Buch direkt beim Verlag bestellen.

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.