Vor geraumer Zeit wollte ich eine leise ironische Kolumne mit dem Titel „Wie geht es mir?“ schreiben. Das scheint für viele seit längerer Zeit interessanter zu sein, als die Frage „Wie geht es dir?“. Als ich 1975 meine Ausbildung zum Heilpädagogen begann, waren die sozialen Berufe voll im Trend. Auf die im Sonnenhof/Schweiz angebotenen 15 Ausbildungsplätze pro Jahr bewarben sich phasenweise bis zu 160 Interessierte. Verbunden war dieses Interesse am Wohlergehen des anderen Menschen mit Behinderung bei manchen mit der Gefahr des Helfer-Syndroms. Sie konzentrierten sich so sehr und ausschließlich auf den anderen, dass sie ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse gar nicht mehr richtig wahrnehmen konnten. Seit einigen Wochen ist mir aktuell wieder klar geworden, dass die Frage, wie es mir geht, elementar wichtig ist, um anderen Menschen zu helfen.
„Trauma geschieht in Beziehungen, so dass wir uns infolgedessen verschließen und unsere Wunden verbergen, um uns zu schützen“, so Verena König in ihrem neuen Buch Trauma und Beziehungen.* „Doch Trauma heilt auch in Beziehung …“
In letzter Zeit bei mir phasenweise auftretende Übelkeit und Schwindel bei ansonsten unauffälligen Untersuchungswerten ließen meine Ärztin ein Problem mit dem Vagusnerv vermuten. Ein gut funktionierender Vagusnerv hilft dabei, Stress abzubauen, die Erholung zu fördern und das allgemeine Wohlbefinden zu steigern, indem er das Gleichgewicht zwischen Anspannung (Sympathikus) und Entspannung (Parasympathikus) herstellt. Über dieses Stichwort und einen freundschaftlichen Hinweis stieß ich auf die oben erwähnte Traumatherapeutin und Autorin, die viele verblüffend einfache und wirksame, quasi meditative kleine Alltagsübungen anbietet. Erstaunt stellte ich fest, dass ihr neues Buch, im letzten September erschienen, bereits die vierte Auflage erfährt und seit Wochen als Sachbuch auf der Spiegel-Bestsellerliste zeitweilig auf Platz Eins steht.
Es geht dabei auch um die heilsame Kraft, gesehen zu werden. Sieht mich mein Partner, sehe ich meine Partnerin in der Lebenspartnerschaft, unter Freunden, aber auch im beruflichen Feld? Haben mich meine Eltern gesehen? „Bindungserfahrungen und emotionale Verletzungen aus der Kindheit hinterlassen Spuren in unserem Nervensystem, die sich ein Leben lang auswirken können“, so Verena König weiter. „Sie zeigen sich besonders deutlich in unseren Beziehungen: Einsamkeit, Beziehungsprobleme, Bindungsängste oder toxische Partnerschaften sind oft die Folgen dieser Traumata. – Wahre Stabilität und wirkliche Resilienz erreichen wir dadurch, dass wir unsere verdrängten Gefühle und Empfindungen integrieren.“ Dazu tragen besagte Übungen bei, die die Autorin auch im Netz anbietet.
Es gibt also gute Gründe, ganz unironisch die Frage „Wie geht es mir?“ zu stellen. Damit das aber nicht zur reinen Nabelschau wird, hilft ein Gedanke Rudolf Steiners weiter, den er in verschiedenen Zusammenhängen ausspricht. Schaue in dich und du findest die Welt, schau in die Welt und du findest dich selbst. Es geht darum, in einem Prozess zwischen Ich und Welt in Bewegung zu kommen. Grafisch kann man sich das als eine liegende Lemniskate, eine Acht vorstellen, durch ein andauerndes rhythmisch schwingendes Pendeln zwischen innen und außen. Um eine ganz ähnliche Bewegung geht es in mir selber zwischen oben und unten, zwischen zentralem, wachbewusst erlebten Kopf-Ich und dem peripheren Leibes-Ich.
Ein ganz wunderbares Bild, wie mir scheint. Die beiden durch den einen Kreuzungspunkt geführten Lemniskaten oben-unten, innen-außen, ergeben ein vierblättriges Kleeblatt, die Mitte als gewagter Prozess. In diesem Sinne: Weiterhin viel Glück im neuen Jahr!
* Verena König, Trauma und Beziehungen: Wie wir die immergleichen Bindungsmuster hinter uns lassen. Arkana 2024
Dieser Beitrag stammt aus der info3-Ausgabe Februar 2025.