Digitale Rolle rückwärts?

Smartphones in der Schule
Smartphones in der Schule. © AdobeStock, Erzsbet

Weltweit fliegen derzeit Smartphones aus den Schulen. Weltweit? Nein, in Deutschland gibt es Widerstand, weil die Geräte oft als Heilsbringer digitaler Bildung gelten. Eine kleine Rundreise um den Globus in Sachen Medienpädagogik.

Wir schreiben das Jahr 2015: Der CDU-Bundestagsabgeordnete Sven Volmering schlägt scharfe Töne an. Er warnt in einer Parlamentsdebatte davor, „panikmachenden Leuten hinterherzulaufen, die von der ‚Lüge der digitalen Bildung‘ sprechen“. Damit gemeint waren die Autoren des Buches Die Lüge der digitalen Bildung, Gerald Lembke und Ingo Leipner. Ihre zentrale These: „Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter.“

2023: Der dänische Minister für Kinder und Bildung schlägt nachdenkliche Töne an. Mattias Tesfaye formuliert sogar eine Entschuldigung – und sagt in einem Interview, dass Schüler „Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment“ gewesen seien, „dessen Ausmaß und Folgen wir nicht überblicken können.“ Beim Thema Migration steht Tesfaye übrigens hinter dem scharfen Kurs, den die dänische Sozialdemokratie gegen Flüchtlinge eingeschlagen hat. Der Minister hat allen Grund, sich zu entschuldigen. Das wird im benachbarten Schweden deutlich, wo das Karolinska-Institut arbeitet – eine der größten Universitäten für Medizin in Europa. Das Institut genießt hohes Ansehen; seine Nobel-Versammlung bestimmt jedes Jahr den Nobelpreisgewinner für Medizin. Das Karolinska-Institut nimmt Stellung zu digitalen Medien in der Schule und bescheinigt der staatlichen Bildungspolitik in Schweden: „Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.“ Weiter schreiben die Wissenschaftler: „Es gibt eindeutige wissenschaftliche Belege, dass digitale Werkzeuge das Lernen der Schüler eher beeinträchtigen als verbessern.“ Sie nennen folgende Punkte:

  • Digitale Werkzeuge weisen viele Ablenkungen auf. So werden Konzentration und Arbeitsgedächtnis behindert, was dem Lernen schadet.
  • Die OECD hat für Grundschüler festgestellt: Ein starker Einsatz von Computern in Schulen korreliert eindeutig negativ mit PISA-Ergebnissen, die in Mathematik und Lesen gemessen wurden.
  • Multitasking lässt Schüler weniger gut lernen. Das Gehirn kann nur begrenzt relevante Informationen im Arbeitsgedächtnis speichern.
  • Lesen und Schreiben an Bildschirmen wirkt sich negativ auf das Leseverständnis aus. Informationen werden im Vergleich zu Büchern schwerer erinnert, wenn sie auf einem Bildschirm gelesen oder geschrieben wurden.

Diese Einsichten haben Konsequenzen. Die schwedische Regierung hob die bis dahin geltende Pflicht auf, Vorschulen mit Digital-Technik auszustatten. Das betrifft sechs- bis siebenjährige Schüler. Dazu die Bildungsministerin Lotta Edholm: „Wir wissen, dass menschliche Interaktion für das Lernen in den ersten Lebensjahren entscheidend ist. Bildschirme haben in Vorschulen einfach nichts zu suchen.“ Edholm ist Mitglied der Liberalen, die unter anderem wirtschaftsliberale Positionen vertreten und Teil einer Minderheitsregierung sind, gestützt von den Schwedendemokraten, einer rechtspopulistischen Partei.

Was also in Deutschland 2015 noch als „Panikmache“ gilt, wird in Schweden 2023zur Regierungspolitik … und nicht nur in diesem skandinavischen Land, wie auf der Website deutsches-schulportal.de nachzulesen ist.

Europäische Nachbarn rudern zurück

In Frankreich besteht bereits seit 2010 ein Smartphone-Verbot im Unterricht. Seit 2018 ist es Schülern auch untersagt, solche Geräte in den Pausen zu nutzen oder bei schulischen Aktivitäten, die außerhalb des Schulgebäudes stattfinden. Nur Gymnasien sind von diesen Regeln ausgenommen.

In den Niederlanden gibt es zwar kein ausdrückliches Verbot für Smartphones in Klassenzimmern, aber das Bildungsministerium formulierte 2023 eine „dringende Empfehlung“, die Nutzung dieser Geräte in weiterführenden Schulen einzudämmen. Diese Empfehlung soll ab Schuljahr 2024/25 ebenfalls in Grund- und Sonderschulen Gültigkeit haben.

In Italien sind schon seit 2007 Handys an Schulen untersagt, 2017 wurde das Verbot kurze Zeit gelockert. 2022 verschärfte die neue nationalistische Koalition unter Giorgia Meloni (Fratelli d´Italia, Lega und Forza Italia) die alte Regel. Ein neuer Erlass regelt ab Schuljahr 2024/25: Auch für Unterrichtszwecke dürfen Schüler keine Smartphones mehr verwenden.

In Großbritannien schließlich veröffentlichte die Regierung 2024 eine Leitlinie, um die Nutzung von Smartphones in Pause und Unterricht einheitlich zu untersagen. Laut der damaligen Bildungsministerin Gillian Keegan handelt es sich nicht um einen Gesetzentwurf, so dass jede Schule ihren Weg suchen kann, um die Leitlinie umzusetzen. Bereits 80 Prozent der Schulen haben ein Smartphone-Verbot eingeführt. Keegan gehört den konservativen Torys an.

Wie sieht es sonst in Europa aus? In Österreich fordert die Lehrergewerkschaft ein Handyverbot, das Bildungsministerium ist anderer Ansicht, weil es „in der Digitalisierung eine Chance“ sieht. Die Schulen sollten selbst entscheiden, wie sie mit Smartphones im Unterricht umgehen. Und Dänemark, wo sich Minister Tesfaye für „digitale Experimente“ sogar entschuldigt hat? Eine große Mehrheit der Schulen hat beschlossen, bei Handys schuleigene Lösungen zu finden. Einheitliche Regeln sind nicht in Sicht.

Schlechte Nachrichten für Großkonzerne

Doch das Geschäftsmodell der Tech-Konzerne ist auch noch an einer weiteren Front bedroht. Das Parlament in Australien beschloss 2024 ein Gesetz, das Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren den Zugang zu Social Media verbauen soll. Damit sind die großen Plattformen gemeint: X, TikTok, Facebook, Snapchat, Reddit und Instagram. Premierminister Anthony Albanese nannte es eine „Geißel“, wie diese Plattformen auf Kinder wirken: Social Media hielten den Nachwuchs von echten, menschlichen Beziehungen ab und verhinderten Erfahrungen in der realen Welt. Albanese ist Mitglied der Australian Labor Party (ALP) – und steht für eher progressive Positionen. Seine Regierung will die Klimaziele Australiens aktualisieren, der indigenen Bevölkerung eine Stimme im Parlament geben und den Mindestlohn erhöhen.

Doch das australische Gesetz zu Social Media kennt auch Ausnahmen: Video-Provider wie YouTube bleiben jüngeren Kindern zugänglich, genauso wie Messaging-Dienste, etwa WhatsApp. Außerdem ist die Nutzung von Online-Spielen erlaubt; auch sollen unter 16-Jährige Angebote im Gesundheits- und Bildungsbereich weiter nutzen dürfen.

Ob das Gesetz funktioniert? Das steht und fällt mit einer künftig vorgeschriebenen Altersverifikation. Diese sollen die Tech-Konzerne innerhalb eines Jahres realisieren, etwa durch biometrische Daten (Gesichtserkennung) oder mit Hilfe amtlicher Dokumente. Dieses Vorgehen könnte auf Probleme beim Datenschutz stoßen, verlagert aber die Verantwortung der Eltern auf die Plattformen, was ein großer Fortschritt wäre.

Noch liegt es oft in der Hand der Eltern, die Weichen richtig zu stellen, auch bei der Handy-Nutzung. Das zeigt ein Beispiel aus Greystones in Irland: 2023 machte die Schulleiterin Rachel Harper den Eltern ihrer Grundschule den Vorschlag, Kindern erst ab zwölf Jahren ein Smartphone zu geben. Alles freiwillig! Heute sind sechs weitere Schulen dabei. Harper sagt dem Schweizer Fernsehen: „Viele hatten anfänglich Angst, als bevormundende Eltern dazustehen. Doch inzwischen haben 96 Prozent der Eltern den Verzichtspakt unterschrieben.“

Unterstützung kommt von ganz oben – durch die Bildungsministerin von Irland, Norma Foley: „Kinder lernen besser und verhalten sich sozialer, wenn sie ihre Smartphones weglegen.“ Sie ist Mitglied der liberal-konservativen Partei Fianna Fáil. Und die Kinder? Sie spielen wieder miteinander auf dem Schulhof.

Deutschland noch zögerlich

Und Deutschland? Formal ist der Zugang zu Social Media oft ab 13 Jahren erlaubt, in der Praxis lässt sich das aber nicht kontrollieren, selbst wenn viele Plattformen fordern, Eltern hätten schriftlich ihr Einverständnis zu erklären.

Ebenso löchrig ist der rechtliche Umgang mit Smartphones in der staatlichen Schule: „Allgemein ist das Schulrecht Ländersache, so dass jedes Bundesland das Schulwesen eigenständig regeln kann“, schreibt der Rechtsanwalt Cedric Vornholt. Zur Handynutzung würden sich in den einzelnen Landesschulgesetzen nur sehr wenige Regelungen finden. „Ein generelles Verbot, Handys in die Schule mitzunehmen, existiert bislang nicht“, so der Anwalt.

Häufig bestehe aber ein schulisches Verbot, Handys im Unterricht zu nutzen. Es sei denn Lehrer erlauben ihren Schülern die Geräte, um Recherchen zu machen oder Vokabeln nachzuschlagen. Stört jedoch ein Schüler öfter den Unterricht mit seinem Handy, kann es zu einem „befristeten Mitnahmeverbot als pädagogische Maßnahme“ kommen. Etwa bei Verletzungen von Persönlichkeitsrechten, wenn illegal Filmaufnahmen von Lehrern oder Schülern entstehen. Keinen Spaß versteht die deutsche Schule bei Prüfungen: „Wird ein Handy in einer Prüfung benutzt, liegt regelmäßig ein Täuschungsversuch vor“, so Vornholt.

Waldorfschulen: Medienmündig werden

Gibt es eine gemeinsame Haltung der Waldorfschulen in Deutschland? „Nein, es gibt keine Stellungnahme des Verbands“, sagt Nele Auschra. Sie ist im Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen zuständig für Kommunikation. Das Netzwerk Medienmündigkeit Waldorf sei aber innerhalb der Schulbewegung mit dem Thema beschäftigt, so Auschra. Es gäbe dazu viele Publikationen aus dem Waldorfbereich, etwa die bereits fünfte Auflage des „Medienkompasses“, der immer wieder aktualisiert wird. In diesem Ratgeber heißt es: „Es kann sich nicht darum handeln, Informationstechnologie wieder abschaffen zu wollen, sondern nur darum, kritische Aspekte bewusst wahrzunehmen und individuelle Gegengewichte zu setzen.“ Daher sollten Kinder erleben, „wie man der Nutzung von Radio, TV, Internet, Mobilfunk usw. Zeiten der äußeren und inneren Ruhe entgegensetzt.“ Oder wie es die Medienpädagogin Paula Bleckmann ausdrückt: „Medienmündig werden bedeutet zuallererst, nicht die Kontrolle über unsere kostbare Lebenszeit zu verlieren.“

Fazit: Weltweit werfen Minister und wichtige Politiker inzwischen einen kritischen Blick auf Smartphones, die zu früh in Kinderhände gelangen. Zum Teil werden sogar konkrete Maßnahmen ergriffen – wovon die deutsche Bildungspolitik weit entfernt ist. Spannend ist auf den ersten Blick das politische Spektrum: Von Labour in Australien bis zu den Nationalisten in Italien gibt es kritische Stimmen.

Da kann es leicht Applaus von der falschen Seite geben. So schreibt die AfD im Entwurf ihres Wahlprogramms für die Bundestagswahl: „Die ersten vier Schuljahre sollten vorwiegend digitalfreie Räume sein, da sie der Aneignung der grundlegenden Kulturtechniken Lesen, Rechnen und Schreiben dienen.“

Dafür tritt ausgerechnet eine Partei ein, die für die kommende Bundestagswahl fordert, das Strafmündigkeitsalter „auf zwölf Jahre“ zu senken oder den „Ausbau von Kohlekraftwerken und der Kernenergie“ zu forcieren, da der Klimawandel auf natürlichen Schwankungen beruhe. Bleibt da noch Sympathie für Ihre Idee zu „digitalfreien Räumen“? Eine schwierige Entscheidung.

Den vom Bund der Freien Waldorfschulen angebotene Medienkompass können Sie hier herunterladen.

Dieser Beitrag stammt aus der info3-Ausgabe Februar 2025.

im Info3 Verlag ist folgendes Buch des Autors erschienen:

Ingo Leipner
KI-Angriff auf das Bewusstsein
Kritik der künstlichen Vernunft
Klappenbroschur, 104 Seiten
€ 12,90.

KI-Angriff auf as Bewusstsein.

Über den Autor / die Autorin

Ingo Leipner

Ingo Leipner ist freier Autor für Wirtschaftsthemen und Autor mehrerer Bücher zu digitalkritischen Themen.