„Der typische AfD-Sympathisant ist männlich, ostdeutsch und gering gebildet“, heißt es im Fazit einer aktuellen Datenerhebung von Zeit-Online. Das klingt nicht nach der typischen anthroposophischen Klientel. Zudem hat eine Arbeitsgruppe der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland sieben Gründe formuliert, warum Anthroposophie und Rechtsextremismus unvereinbar sind: Die Anthroposophie grenze sich fundamental „mit ihrer Idee der geistigen, allgemeinmenschlichen Individualität von einem reduktionistischen und identitären Menschenbild ab.“ Wie aber sieht die Wirklichkeit aus? Welche Berührpunkte haben anthroposophische Menschen im Osten Deutschlands mit der AfD und anderen rechten Kräften und wie verhalten sie sich dazu?
Eine schutzbedürftige Insel
Matthias Bünger ist besorgt. Der Einrichtungsleiter der Heilpädagogischen Schule Bonnewitz bei Pirna sitzt in seinem Büro in einem neu erbauten Schulhaus mit Mosaiksteinen an der Fassade. In Pirna hat vor kurzem der erste AfD-Oberbürgermeister Deutschlands sein Amt angetreten. Matthias Bünger hatte im Vorfeld Aufrufe an alle Kolleg:innen und Eltern verschickt, zur Wahl zu gehen und nicht den AfD-Kandidaten zu wählen. „Leider wurden diese Aufrufe in Kreise der gewaltbereiten Neonazi-Szene weitergeleitet. Danach bin ich etwas zurückhaltender geworden. Aber eigentlich ist das ja genau das, was die wollen“, reflektiert Bünger, der im Laufe des Gesprächs immer wieder von seinen Pädagog:innen angerufen wird und als Manager für unvorhergesehene Situationen gefragt ist.
Schwer vorauszusehen ist auch die politische Entwicklung über die nächsten Jahre. Der AfD-Bürgermeister kann wenig gegen die heilpädagogische Schule unternehmen, aber wenn in Landkreis und Landesregierung das politische Klima kippen sollte, wäre das existenzbedrohend für die Schule, zumal die AfD Inklusion nicht gerade befürwortet. Björn Höcke äußerte in einem Interview dazu: „Wir müssen das Bildungssystem befreien von Ideologieprojekten, beispielsweise der Inklusion.“ In diese Richtung gehen Büngers Sorgen: „Als freie Schule sind wir von der Landesregierung und den Landesbehörden schon sehr abhängig. Sie können zwar nicht einfach kommen und die Schule zumachen, da freie Schulen in der Verfassung verankert sind, aber sie könnten die Finanzierung herunterschrauben. In Sachsen bekommen wir als Förderschule 100 Prozent unserer Kosten finanziert. Vielleicht bekommen wir dann nur noch 80 Prozent wie die anderen freien Schulen und müssten in der Folge Schulgeld nehmen. Unsere Schülerschaft würde sich bestimmt halbieren.“ Auswirkungen könnte ein Erstarken der Rechten auch auf das Personal haben, etwa 250 Angestellte aus allen Ländern und Erdteilen sind in Bonnewitz beschäftigt. Viele Mitarbeitende und Auszubildende aus anderen Ländern sowie internationale Freiwilligendienstleistende würden fernbleiben, wenn die politische Stimmung kippen sollte, befürchtet Bünger. Auch mit neuen Investitionsvorhaben wartet seine Einrichtung, „bis zumindest die Wahlen dieses Jahr durch sind und wir für die nächsten Jahre Planungssicherheit haben.“ Ob es unter den Mitarbeitenden Sympathien für rechtes Gedankengut gibt? „Auch wenn die überwiegende Mehrheit unserer Mitarbeitenden diesbezüglich anders denkt, können wir nicht ausschließen, dass Sympathisant:innen rechter Gedanken darunter sind“, sagt Bünger mit Sorgenfalten auf der Stirn; bis jetzt sei aber bis auf vereinzelte Nadelstiche noch nichts in diese Richtung ruchbar geworden. „Wenn jemand im Bewerbungsgespräch bei dem Thema anfängt rumzudrucksen, können wir ihn nicht einstellen – das würde dem Selbstverständnis unserer Einrichtungen widersprechen.“ Hier, wie auch sonst, zeigt Bünger klare Kante: „Ich gehöre nicht zu denen, die mit den AfDlern noch reden wollen. Man muss sich klar positionieren. Die Menschen, die hier AfD wählen, sind rechtsextrem aus Überzeugung.“
Es gibt sie schon, die Berührpunkte
Ich spreche mit einem Mann, der in der anthroposophisch orientierten Christengemeinschaft in einer ostdeutschen Stadt aktiv ist. Er ist vorsichtig, obwohl er selbst keinerlei Sympathien für die AfD hegt. „Die AfD ist in der Gemeinde selber kein Thema, und die meisten Mitglieder sind eher weltoffen und tolerant.“ Ein Einzelfall sei ihm allerdings bekannt: „Bei uns gibt es einen bekennenden Anthroposophen, der für die AfD hier im Landkreis bei den anstehenden Wahlen kandidiert. Er besucht die Menschenweihehandlung nur an bestimmten Tagen, um nicht aufzufallen und hält sich insgesamt eher bedeckt.“ Sollte er bei den Wahlen erfolgreich sein, würde er aus der Christengemeinschaft austreten, um ihren Ruf nicht zu beschädigen. Da auch Angehörige anderer Parteien in der Christengemeinschaft engagiert sind, ohne dass dies in der Gemeinde überhaupt bekannt sei, sehe er darin kein Problem. Zudem dürfte sich die Verteilung der politischen Sympathien vermutlich nicht von der der allgemeinen Gesellschaft unterscheiden.
Mein Gesprächspartner selbst hält es lieber mit der Partei Die Basis, für die auch die soziale Dreigliederung ein wichtiges Anliegen sei. Er ist sich bewusst, dass auch diese Partei von manchen dem rechten Spektrum zugeordnet wird. Im Gegensatz zum Heilpädagogen Matthias Bünger ist es ihm wichtig, den Dialog nicht abreißen zu lassen: „Hier gab es mal eine Veranstaltung gegen rechts, alle haben ‚Nazis raus!‘ gebrüllt, und ich fragte mich: Wo sollen sie denn hin? Da fehlt mir überall die Einstiegsfrage beziehungsweise Einstiegshaltung: Bruder, warum denkst du so?“
Auch keine so simple Antwort auf diese Fragen bekomme ich von einem anthroposophischen Facharzt, der mich in seiner Praxis im Nordosten Deutschlands empfängt. In der Coronazeit hätte er Maskenatteste ausgestellt und dadurch seinen Chefarzt-Posten verloren. Von vielen werde er als Rechtsesoteriker bezeichnet, diese Kategorisierung gehe aber am Kern der Sache vorbei, weil heute diffamiert werde, wer sich wirklich für die Menschen einsetze. Der Arzt glaubt zu wissen: „Ich kann rechtem Gedankengut allein deswegen schon nichts abgewinnen, weil ich in der letzten Inkarnation eine Frau war, die von den Nazis ermordet wurde“, was er im Brustton der Überzeugung von sich gibt! Auf meine Frage, ob er Patient:innen habe, die die AfD wählen, antwortet er: „Ja, mit Sicherheit!“. Was er an der AfD interessant fände, sei deren Position beim Thema Impfen und bei Gesundheitsthemen generell. Aber wählen würde er sie nicht: „Ich wähle keine Partei mehr, denn ich betrachte mich als radikalen Verfechter des ethischen Individualismus.“ – Ähnlich ist die Position eines sächsischen Bauunternehmers, der in der Christengemeinschaft im Osten sozialisiert wurde: AfD und Anthroposophie sollte man nicht miteinander in Beziehung setzen, weil beide ganz unterschiedliche Dimensionen unserer Welt ansteuerten: die AfD die politische Sphäre, die Anthroposophie die geistige Entwicklung des Einzelnen. Bei der fanatischen Pro-Putin-Haltung dieses Mannes wäre das vielleicht auch der bessere Weg.
Waldorfschulen gegen Rassismus
Schon vor Jahren gab es Berichte über Waldorfschulen, die AfD-Eltern in der Elternschaft hatten und einen Umgang mit ihnen finden mussten. Was hat sich seitdem getan? Wie blicken Waldorfschulen, gerade im Osten, auf den Rechtsruck? „Diese Entwicklung spielt innerhalb unserer Schulgemeinschaft zum Glück keine Rolle“, sagt Birgit Thiemann, eine der Geschäftsführerinnen der Karl-Schubert-Schule, einer inklusiven Waldorfschule in Leipzig. Es gebe auch keine festgelegte Strategie für den Umgang mit AfD-Eltern und -Beschäftigen. Waldorfpädagogik basiere auf christlichen Grundwerten, dies anzuerkennen wird von allen neuen Eltern und Beschäftigten erwartet. Sorgen bereitet Birgit Thiemann unter anderem die Haltung der AfD zur Inklusion: „Meine Befürchtung ist, dass es für freie Schulen, insbesondere inklusiv arbeitenden wie unserer, schwieriger wird, sollte die AfD in Regierungsverantwortung kommen.“ In der Coronazeit sei es in der Schule schon spürbar polarisierter zugegangen. Um dem zu begegnen „haben wir uns gemeinsam sehr darum bemüht, wahrhaftig zu bleiben. Es ist immer wichtig, miteinander im Gespräch zu bleiben. Und es geht darum, dem Gegenüber wirklich zu begegnen, den Menschen auch in seiner Not zu erkennen. Daraus, dass die Anthroposophie ein persönlicher Schulungsweg ist, ergibt sich auch ein ethischer Anspruch. Die Benachteiligung oder Ablehnung gar ganzer Bevölkerungsgruppen, etwa Menschen mit Behinderungen oder Geflüchteter, ist damit nicht vereinbar.“
Ob die Situation in Eisenach eine andere ist, wo sowohl AfD als auch Die Heimat (ehemals NPD) im Stadtrat sitzen? „Nein“, sagt Sabine Thiebe, Geschäftsführerin der Waldorfschule, unter den Mitarbeitenden gebe es keine in der AfD Engagierten. In der Elternschaft könne sie es nicht ausschließen, bis jetzt sei aber niemand durch Sympathien für rechte Parteien aufgefallen. „Eine Gesinnungsprüfung machen wir aber natürlich nicht, das wäre ein No-Go“, stellt Thiebe klar. Die Ausrichtung der Schule selbst ist glasklar: „Uns ist die grundsätzliche Haltung im Kollegium äußerst wichtig, für eine vielfältige, inklusive und demokratische Gesellschaft einzustehen. Die Stuttgarter Erklärung [Waldorfschulen gegen Rassismus und Diskriminierung] ist bei uns Bestandteil aller Schul- und Arbeitsverträge.“ Die Eisenacher Schule ist als „Schule gegen Rassismus – Schule mit Courage” sogar besonders aktiv. „Auf diesen Titel sind wir sehr stolz. Jedes Schuljahr werden Projekte und Workshops unter dieser Überschrift durchgeführt, unter anderem durch die Mobile Beratung in Thüringen, auch für das Kollegium.“ Persönlich ist Sabine Thiebe im Eisenacher Bündnis gegen Rechtsextremismus sowie im Verein Bildungseinrichtungen gegen Rechtsextremismus aktiv.
Demeter: Toleranz und Heimaterde
Rechte Tendenzen im bäuerlich-ökologischen Milieu sind keine Seltenheit, wie sieht es also bei Demeter-Landwirt:innen aus? In der Demeter-Bewegung haben die Höfe ihr Eigenleben, aber der Verband gibt die Richtung vor. Und die ist eindeutig: In der Satzung des Demeter e.V. heißt es: „Der Verein tritt rassistischen, verfassungs- und fremdenfeindlichen Bestrebungen und anderen diskriminierenden oder menschenverachtenden Verhaltensweisen entschieden entgegen. Der Verein tritt Bestrebungen entgegen, die die ökologische Lebensmittelwirtschaft mit extremistischem Gedankengut verbinden.“ Ähnliches liest man in den Grundlinien der biodynamischen Ausbildung. Soweit, so gut. Die Demeter-Pressesprecherin Susanne Kiebler berichtet uns: „Wir sensibilisieren unsere Mitarbeiter:innen und Mitglieder gegenüber rechten Ideologien im Ökolandbau. Zum Beispiel nutzen Berater:innen eine Handreichung für den verbandsinternen Gebrauch, die erklärt, woran bei potenziellen neuen Mitgliedern rechte Ideologien erkennbar sein könnten, um nach genauerer Erörterung deren Beitrittsantrag gegebenenfalls abzulehnen.“ Ob eine Sympathie für die AfD auch dazu führen würde, ist bisher noch unklar: „Die AfD ist ein besonderer Fall. Die Partei ist (noch) nicht verboten. Wir können und wollen unseren Mitgliedern nicht vorschreiben beziehungsweise verbieten, was sie wählen“, so Susanne Kiebler. Allerdings bekenne sich Demeter klar gegen menschenverachtende Positionen, was wiederum doch Konsequenzen für in der AfD Engagierte haben könnte: „Sollte sich ein Demeter-Mitglied mit solchen Positionen gemein machen und sich dementsprechend äußern, wird der Verband aktiv. Eine Auseinandersetzung kann – je nach Fall – mit einem Ausschluss aus dem Verband enden.“
Genau hin- oder wegschauen
Die großen anthroposophischen Verbände und einzelne Einrichtungen sind also dabei, ihre Position zu festigen. Was auffällt, ist die Tendenz, in den eigenen Reihen keine AfD-Sympathisant:innen haben zu wollen. Am Ende will keine Einrichtung, mit der ich gesprochen habe, überhaupt ernsthafte Berührpunkte mit der Partei haben, obwohl je nach Region ein Fünftel bis ein Drittel der Ostdeutschen AfD wählen. Dahinter dürfte wohl die Angst vor Sippenhaft stehen: Wenn bekannt wird, dass in einer Einrichtung Sympathien für rechte Parteien bestehen, könnte das ihren Ruf schädigen.
Die starken Statements für Weltoffenheit und Toleranz wirken authentisch, wenn man die Entscheidungsträger:innen kennenlernt. Vielleicht liegt aber genau hier das Problem: Führungskräfte, besser verdienend und gebildet, sind mit ihrer Situation weitgehend zufrieden, schlecht bezahlte Servicekräfte oder vom Staat Enttäuschte machen ihrer Frustration durch Protestwählertum Luft. Oder ist es einfach die Verantwortung bei den Führungskräften, die eigene Einrichtung im gesellschaftlichen Puzzle keiner Benachteiligung aussetzen zu wollen? Was hinter der AfD steht – die Unzufriedenheit mit der etablierten Politik und die Angst, nicht mehr gut in Frieden leben zu können, auch die Angst, abgehängt zu werden – ist aber auch in der anthroposophischen Szene präsent. Befeuert wird dies von den als übergriffig empfundenen Maßnahmen der Corona-Zeit, grundiert von einer bisweilen esoterisch-vormodernen Weltsicht und Sympathien für slawische Kultur, die sich unter anderem in einer Sympathie mit Putins Russland – einem Lieblingsthema der AfD – niederschlagen. Die Äußerung eines anonym bleibenden ostdeutschen Anthroposophen verbildlicht diese Spannung: „Was wird morgen? Kommt der Krieg auch hierher? Wir nähern uns einem kritischen Punkt, der sich in einem hohen AfD-Zuspruch Luft macht und zu einem Kipppunkt werden kann. Tatsächlich nehme ich aus meinem Bekannten- und Freundeskreis Menschen wahr, die noch vor kurzem auf der Willkommenskultur-Seite standen und nun die Seite gewechselt haben.“
Es ist also nicht damit getan, das Problem möglichst schnell abzutun. Besser wäre es, allen Menschen zuzuhören und dann aus der größten Weite des Bewusstseins und aus einem hohen Herz heraus zu urteilen und zu handeln. Matthias Bünger hat für sich und die Bonnewitzer Einrichtung eine Linie gefunden. Ob diese sich als die beste herausstellt, bleibt offen. „Anthroposophie bedeutet Zeitgenosse zu sein, jeden Tag neu zu schauen, was dran ist. Wir sind so angreifbar und verletzbar – dass da noch nie etwas passiert ist, ist ein Wunder. Das zeigt mir nur: Wir sind in einem geistigen Strom drinnen und haben einen gewissen Schutz durch höhere Mächte.“ So kommen Anthroposophie und Tagespolitik in Bonnewitz schließlich doch noch zusammen. ///
Ein Text aus der Mai-Ausgabe der Zeitschrift info3.