Ramon Brüll – ein Nachruf

Ramon Brüll 4. März 1951 - 23. März 2025 Foto: Silke Mondovits

Der anthroposophische Sozialimpuls war sein Lebensthema – aber nicht als etwas, was er werbend vertrat, sondern was er in der unternehmerischen Praxis und in zwischenmenschlicher Wirksamkeit umgesetzt hat. Eine Würdigung Ramon Brülls, der am 23. März 2025 im Alter von 74 Jahren gestorben ist.

Ramon Brüll war Anthroposoph bereits in der dritten Generation: Sein Großvater Wilhelm Carl ist Rudolf Steiner noch persönlich begegnet. Er stammte aus einer jüdischen Familie in Nürnberg und emigrierte wegen der Nationalsozialisten mit seiner Frau und den Kindern in die Niederlande. Dort überlebte die Familie mitsamt Ramons Vater Dieter die deutsche Besatzung. Dieter lernte nach dem Krieg in Amsterdam seine Frau Ellen kennen, die ebenso wie er dort die Waldorfschule besucht hatte. Ramon Brüll wurde am 4. März 1951 in Den Haag als erstes Kind geboren, bald darauf kam seine Schwester Sigrid hinzu.

Ramon absolvierte die Waldorfschule in Amsterdam und begann schon als Jugendlicher, sich für gesellschaftliche Themen zu interessieren. Er besuchte parallel zu seinem Studium der Geographie in Amsterdam Veranstaltungen im Kulturzentrum Achberg am Bodensee, wo er unter anderem Joseph Beuys und Wilfried Heidt kennenlernte und sich vom anthroposophischen Sozialimpuls anstecken ließ. Noch in Amsterdam gründete er 1976 zusammen mit anderen Mitstreitern, die die Ideen der Dreigliederung praktisch umsetzen wollten, ein Informationsblatt von wenigen Seiten auf Zeitungspapier, das regelmäßig über Aktivitäten dieser Szene informieren sollte – info3 war geboren. In der großformatigen Publikation erschienen alle Texte einer Ausgabe parallel auf Niederländisch, Deutsch und Englisch. Als sich wenig später die Gruppierung für soziale Dreigliederung, der das Organ eigentlich dienen sollte, wieder auflöste, schickte Ramon kurzerhand Rechnungen für ein Abonnement an die Bezieher – und die „richtige“ Zeitschrift startete. Durch finanzielle Unterstützung eines Freundes konnte das Projekt später ausgebaut werden. Ramon zog mit der Abonnenten-Kartei zuerst nach West-Berlin und dann nach Frankfurt, wo er sich mit seiner damaligen Lebensgefährtin Corinna an der anthroposophischen Bildungsstätte „der hof“ niederließ. Das Paar bekam in Frankfurt dann die drei Kinder Kirsten, David und Maren.

Eine Zeitschrift entsteht

Info3 wurde bald zu einem beliebten, von manchen auch heftig kritisierten Forum. Hier trafen sich die „Rebellen“ und Opponenten gegen die traditionelle Anthroposophie. Die Zeitschrift entwickelte sich rasch als kritische Begleiterin der anthroposophischen Szene mit zeitweise rasanten Auflagenzuwächsen. Schon immer hatte sich Ramon für den europäischen Osten interessiert, viele Staaten hat er auch persönlich besucht. Als 1989 die Grenzen aufgingen, sorgte er dafür, dass info3 überall, wo es östlich der alten Bundesrepublik gewünscht wurde, kostenlos zugänglich war. Die Auflage wuchs abermals an.

Ramon brachte die Zeitschrift über viele Jahre als Allrounder voran: Er war nicht nur Redakteur und Autor, sondern übernahm auch die Herstellung. Die ausgedruckten Fahnen und gerasterten Fotos wurden von ihm und den Mitarbeitenden bis zum Anbruch des digitalen Zeitalters einmal im Monat von Hand auf Vorlagen geklebt und anschließend in die Druckerei gefahren. Ramon kümmerte sich auch um alles Ökonomische: Buchhaltung und Steuern ließ er sich nicht nehmen – das machte er fast bis zu seinem krankheitsbedingten Ausscheiden aus dem Betrieb alles selbst, und zwar mit Leidenschaft, weil für ihn, wie er sagte, die Zahlen immer Spiegel der sozialen Vorgänge im Betrieb waren.

Apropos Zahlen: Die Menschen im Betrieb waren für ihn nie Kostenfaktor, vielmehr sollte der erwirtschaftete Gewinn für alle Beteiligten ein gutes Leben ermöglichen. Für die Arbeitsprozesse galt möglichst viel Selbstverantwortung und möglichst wenig Hierarchien. Die rechtlichen Verhältnisse wurden so gestaltet, dass der Verlag unverkäuflich und zu einem Pionier eines Unternehmens in Verantwortungseigentum wurde. Neben seinem vielleicht typisch niederländischen Kaufmannsinstinkt verfügte Ramon auch über einige ausgesprochen praktische Begabungen: So plante er zum Beispiel die Entwürfe für die Arbeitsräume des Verlags selbst, schnitt mit Leidenschaft Regale zu und setzte Trennwände ein. Und auch beim Aufräumen von Papierlagern aller Art war er sich nie zu schade, selbst mit anzupacken.

Unternehmertum mit Umfeld

Von den zahlreichen weiteren Projekten aus „seinem“ Verlag sei hier das Adressverzeichnis Anthroposophie hervorgehoben, das in den 1990er Jahren als eine Art Telefonbuch der Anthroposophie erstmals fast sämtliche anthroposophischen Einrichtungen auffindbar machte – eine Vorwegnahme des Internetzeitalters in gedruckter Form, die zahlreiche Auflagen erlebte. Zugleich war dieses Kompendium eine der vielen Manifestationen seines Lebensmotivs, dass Anthroposophie als Kulturimpuls öffentlich werden müsse – was damals noch lange nicht selbstverständlich war.

Mit Beginn der 2000er Jahre übergab Ramon die inhaltliche Gestaltung der Zeitschrift allmählich an Jens Heisterkamp und sah seine eigene Rolle mehr denn je in der eines „Ermöglichers“, ohne dass dies seinem Engagement Abbruch getan hätte. Im November 2013 ergriff er die Gelegenheit und der Info3 Verlag übernahm die Bestände des insolventen Mayer Verlags aus Stuttgart. Er ging mit viel Einsatz daran, die Mayer-Autoren zum Bleiben zu bewegen und aus der Übernahme den Beginn eines eigenen, anspruchsvollen Buchprogramms zu machen.

Als Verleger entwickelte Ramon eine Bücher-Liebe bis ins Detail: Bei der Papierwahl, bei Schriftarten und der Satzgestaltung, aber auch bei der Art der Klebung kam es ihm auf Einzelheiten an. Zu manchen Autoren entwickelte er ein enges menschliches Verhältnis, wie beispielsweise zu dem Arzt Volker Fintelmann. Wie schon bei der Zeitschrift kam bei ihm zu den organisatorischen Fähigkeiten ein feiner Sinn für Qualitäten im Geistesleben hinzu.

Ramon Brüll war Anthroposoph durch und durch, immer brennend interessiert für alles, was inhaltlich und vor allem sozial in der anthroposophischen Szene vor sich geht. Dabei scheute er keine Kontroverse, zeigte aber ebenso große soziale Verbindlichkeit und Sinn für Zusammenarbeit, gerade auch mit Kollegen aus anderen Verlagen. Hier war er besonders glücklich, wenn es, zum Beispiel bei der Buchmesse in Leipzig, zu einem gemeinsamen Veranstaltungsprogramm der anthroposophischen Verlage kam oder wenn es um den gemeinsamen Erfahrungsaustausch der Zeitschriften ging, wo er nie in der Kategorie der Konkurrenz dachte. Im Rückblick wirkt es unglaublich, mit wie vielen Menschen aus unterschiedlichsten Initiativen und Kontexten er verbunden war.

Ein Kämpfer mit Herz und Humor

Aus der Distanz ließ sich Ramon für viele schwer einschätzen. Wer ihn von weitem sah, erkannte ihn schnell an der unvermeidlichen Mütze auf seinem Kopf, die gerne auch in Innenräumen getragen wurde. Sein Äußeres spiegelte eine gewisse Unangepasstheit wieder, die ihm zeitlebens eigen war. Er liebte es in Diskussionen, manchmal auch aus Prinzip, zu widersprechen. Wenn es irgendwo allzu harmonisch zuging, übernahm er gern die Rolle der Opposition und konnte auch provozieren. Gleichzeitig blieb er immer herzlich und verbreitete ein soziales Wärme-Element. Eine Kollegin erinnerte sich kürzlich, dass Ramon sich genau überlegte, für was er kämpfen wollte und was er sich selbst überließ. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nur schwer davon abzubringen, was seinem Umkreis manchmal zu schaffen machte. Umgekehrt setzte er sich für Impulse ein, die gar nicht seine eigenen waren, um aktiv zu ihrem Gelingen beizutragen. Und wenn einmal etwas gar nicht gelang, antwortete er weise: „Es kann nicht jedes Projekt ein Erfolg werden.“

Ramon neigte dazu, unübersichtliche Zusammenhänge für sich in klare Formeln zu bringen. Er hatte eine Freude am Anekdotischen und war geneigt, vieles, was ihm im Leben widerfuhr, in Form von Geschichten wahrzunehmen und wiederzugeben – am besten mit einer „köstlichen“ Pointe! Wenn man an ihn denkt, denkt man an einen lachenden Menschen.

Ramon hatte in den letzten Jahren im Unternehmen zu einer neuen Rolle gefunden. Er war vom Macher zum zurückhaltenden Ratgeber geworden, der mit seiner Erfahrung und seinem Können den Prozess des Ganzen unterstützen wollte. Des Öfteren ist in Besprechungen von ihm der Satz zu hören gewesen: „Was ich zu dieser Frage meine, habe ich gesagt, aber es ist nicht wesentlich, weil für die Zukunft des Verlags jetzt andere verantwortlich sind.“ Aus dem Munde eines noch im Unternehmens präsenten Gründers ist eine solche Aussage sicherlich selten – und umso bewundernswerter. Tatsächlich hatte er die wesentlichen Dinge in der Geschäftsführung schon so weit abgegeben, dass eine Nachfolge möglich war, als sie dann unerwartet auch nötig wurde.

Die letzten Wochen

Im September 2024 wurde bei Ramon, der sich wegen anhaltender Erschöpfungszustände hatte untersuchen lassen, eher durch Zufall ein bösartiger Hirntumor entdeckt. Für sein Umfeld ein Schock. Er selbst blieb auf bewundernswerte Weise gefasst. Unbeirrt hielt er an der zu dieser Zeit geplanten Heirat fest und gab vor der schweren Operation noch seiner großen Liebe Janka Fischer das Ja-Wort, mit der zusammen er noch viele gemeinsame Lebensjahre erhofft hatte. Auch fasste er den Entschluss, seinen Lebensschauplatz für den letzten Abschnitt – die ärztliche Prognose war bereits schlecht – in die sozialtherapeutische Einrichtung Gemeinschaft Altenschlirf im Vogelsberg zu verlegen, wo seine Frau arbeitet und Ramon auch zuvor schon viel Zeit verbracht hatte. Dort wurde er von der ganzen Gemeinschaft getragen und von seiner Ehefrau liebevoll gepflegt. Für sein Umfeld war es beeindruckend, mit welcher Gelassenheit der schwer Erkrankte sein Schicksal ohne jede Klage annahm. Er sah seinem nahenden Tod furchtlos ins Auge und meinte, dass für die Menschen um ihn herum sein Tod wohl schwerer zu verwinden wäre als für ihn selbst.

Unvergessen ist allen Kollegen ein kurzfristig angekündigter, letzter Besuch im Verlag, knapp vier Wochen vor seinem Tod. Bei einem gemeinsamen Mittagessen hörte er den Erzählungen der Anwesenden interessiert zu und lachte herzlich mit über die Scherze, die zur politischen Lage gemacht wurden. Gestützt war es ihm dann möglich, noch einmal die Treppe zu seinem Büro hochzugehen. Am gewohnten Ort wollte er an seine Nachfolger noch ein paar Details zum Thema Buchherstellung weitergeben, bis in die Feinheiten von unterschiedlichen Papierqualitäten und Klebebindungen, auf die es zu achten gelte. Nach etwa einer Stunde fuhr er dann seinen Computer ein letztes Mal herunter und verließ, von seinen Kollegen und Freunden verabschiedet, für immer den Verlag, der sein Lebenswerk ist.

Ramon Brüll starb am späten Nachmittag des 23. März 2025 im Beisein seiner Frau und seiner drei Kinder im Schloss von Stockhausen.

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.

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