Es gab Streit im Hause Thimm, heftigen Streit. Darf die minderjährige Tochter bei „Robin Wood“ aktiv sein und sich an Bäume und Brücken ketten? Die Eltern sind dagegen, doch das Gefühl einer Verpflichtung, sich den so vehement vorgetragenen Fragen und Forderungen der Jugend stärker zuwenden zu müssen, wird drängender. Das war Ende 2019. Man wusste noch nicht, dass eine Coronakrise drohte. Kriege fanden auf anderen Kontinenten statt, und die Klimafrage beherrschte die öffentliche Diskussion.
Die Eltern, Annemarie und Jörg Thimm, betreiben ein anthroposophisch orientiertes Seminarhaus, den Quellhof in Kirchberg an der Jagst, und sie ergriffen die Initiative. Sie wollten herausfinden, ob man aus einer Perspektive, die die Erde als lebendiges und beseeltes Wesen erfasst, Aspekte zur Klimafrage erarbeiten kann, die aus der lähmenden Ratlosigkeit herausführen und ermöglichen, in sinnvoller und individueller Weise tätig zu werden. So luden sie Menschen aus dem hauseigenen Dozentenkreis ein, sich in diese Fragestellung zu vertiefen. Aus ersten Gesprächen wuchs dann mit der Zeit die konkrete Initiative Alchemie der Klimakrise.
Zunächst stand ein Prozess der Orientierung an: Was wissen wir über die Klimakrise, wie schaut die Naturwissenschaft darauf? Schnell war klar, dass die Fülle der Daten und Fachgebiete überwältigend bis überfordernd war. Wir mussten uns also einen Fokus suchen und ein Konzept entwickeln, was und wie wir sinnvoll beitragen könnten. Jörg und Annemarie Thimm brachten Kompetenzen in Geografie, Klimageschichte und Naturpädagogik ein, Wolfgang Schneider ist Umwelttechniker und erfahrener Geomant und die Autoren dieses Textes sind in der Bildekräfteforschung engagiert.
Den Fokus legte die Gruppe dann auf die Substanz CO2, das Kohlenstoffdioxid, das als hauptsächlicher und vor allem messbarer Treiber der Erderwärmung gilt. Leitstern wurde uns eine Aussage Rudolf Steiners vom 23. März 1923: „Und in der Tat, wenn der Mensch seine Gedanken nicht belebt, wenn der Mensch stehen bleibt bei den bloß intellektualistischen, toten Gedanken, muss er die Erde zerbrechen. Das Zerbrechen beginnt allerdings bei dem dünnsten Elemente, bei der Wärme.“
Atmen und Denken
Steiners Worte können zweifach verstanden werden: Dass hinter dem maßlosen Verbrauch irdischer Ressourcen und der damit verknüpften Technik eine bestimmte Denkhaltung steht, die den Planeten in die Krise führt, ist leicht nachvollziehbar. Aber kann es auch sein, dass meine Gedanken gar nicht „nur in mir“ sind? Dass ihnen eine unmittelbare Wirksamkeit im Weltenganzen zukommt – ganz direkt, ohne den Umweg über meine Äußerungen und Taten? Rudolf Steiner stellte verschiedentlich, zum Beispiel am 10. Juli 1906, die These auf, dass die Zusammensetzung des menschlichen Atems sich bis ins Physiologische hinein verändert, je nachdem, was der Mensch denkt. Dazu gibt es unseres Wissens bisher keine Forschungen oder Daten. Daher haben wir eine kleine Übung entwickelt, um diese These fassbarer zu machen:
1. Sitze ruhig und beobachte deinen Atemfluss, ohne etwas verändern zu wollen. Dann lege den Fokus der Beobachtung auf den Ausatem: Wie fließt er, wenn ich ruhig atme?
2. Denke möglichst abstrakte, dingliche Gedanken: Zum Beispiel über Busfahrpläne, die Steuererklärung, oder lies etwas auf dem Smartphone. Wie erlebst du jetzt deinen Ausatem?
3. Denke über etwas Lebendiges, zum Beispiel eine wachsende Pflanze. Verändert sich der Ausatem? Wie?
4. Versuche, innere Ruhe herzustellen und dein Denken offen und empfänglich zu machen. Dann rufe darin einen meditativen Gedanken auf. Wie fließt dein Atem dabei?
Die Erfahrungen sind für die meisten, die diese Übung ausprobieren, deutlich: Während beim dinglichen Denken der Ausatem flach, schwer, (seelisch) dunkel und fest nach unten fließt, wird beim Denken über Lebendiges ein leichtfließendes, perliges, lichtvoll-farbiges Ausströmen erlebt. Im meditativen Zustand wurde gar nicht mehr „Atem“ erlebt, sondern eine lichtdurchwirkte, teils beglückende Einheit von Innen und Außen.
Auf dem Hintergrund dieser Erfahrung lässt sich gut vorstellen, dass die gesamte Physiologie auf die Atmung reagiert und damit auch den Gasaustausch verändert. Inwieweit sich das quantitativ äußert, ist offen. Die qualitativen Erfahrungen sind aber signifikant.
Mensch und Pflanze
Die Erfahrung mit der Übung kann die Frage aufwerfen, ob solche inneren Erfahrungen eine Entsprechung haben im äußeren Zusammenspiel zwischen Mensch und Pflanze in Bezug auf den Austausch von Sauerstoff und CO2. Dieser Stoffaustausch ist ja eine zentrale Grundlage des menschlichen Lebens auf der Erde: Ihre Struktur baut sich die Pflanze aus dem Kohlenstoff auf, er dient ihr als Gerüst- oder Leibbildner. Sie entnimmt ihn in Form von CO2 aus der Umgebungsluft. Ein Teil davon stammt aus der menschlichen Atemluft. Den überschüssigen Sauerstoff gibt die Pflanze wieder ab – und wir Menschen können „frische Luft“ einatmen. Es ist ein feines und grundlegendes Spiel der Lebendigkeit zwischen unserem Atem und dem Pflanzenwachstum.
Spielt es also eine Rolle für die Pflanzenwelt, was wir denken? Anders gefragt: Macht es einen Unterschied, ob Pflanzen CO2 aus menschlicher Atmung einlagern oder aus industriellen Verbrennungsprozessen? Trägt das CO2 eine Art „Prägung“ mit sich, verursacht durch die Prozesse, die es durchlaufen hat? Und prägt auch die menschliche Haltung die Ausatemluft – ist die sprichwörtliche dicke Luft tatsächlich „dick“?
Stoffe und Leben
Wenn die Welt der Erscheinungen nur stofflich erklärt wird, bleibt „Lebendigkeit“ ein leerer Begriff, der auf mechanisch ablaufende biochemische Prozesse verweist. Demgegenüber vertreten immer mehr namhafte Autoren, dass die Natur von Leben und Wesenhaftigkeit durchdrungen ist. Die meisten von ihnen berufen sich auf indigene Kulturen oder machen Anleihen bei animistischen Weltauffassungen, so zum Beispiel der Literaturwissenschaftler und Physiker Ashley Curtis, die nativ-amerikanische Botanikprofessorin Robin Wall Kimmerer oder der deutsche Biologe und Philosoph Andreas Weber. Sie verstehen die Klimakrise auch als Ausdruck eines Kampfes von unterschiedlichen Weltauffassungen.
Allerdings bietet keiner der Autoren einen methodischen Zugang zu einem originären Erleben dieser beschriebenen Wirklichkeit. Aber jeder Mensch verfügt über originäre Erfahrungen im Lebendigen. Um sich ihrer bewusst zu werden, muss man sich allerdings eine verfeinerte Wahrnehmung aneignen, die über ein alltägliches „Sehen“ oder „Spüren“ hinausgeht. Dies erfordert die Bereitschaft zu intensivem Üben und ehrlicher Selbstbeobachtung, eine konsequente Schulung und auch die Zusammenarbeit mit anderen Experten auf diesem Gebiet.
Eine solche Wahrnehmungsschulung hat zum Beispiel die von Dorian Schmidt initiierte Bildekräfteforschung entwickelt. Die ihrer Methodik inhärente Selbstreflexion in Verbindung mit einem Ergebnisabgleich mehrerer Personen in einem Untersuchungspanel schafft die Möglichkeit, den zunächst vielleicht subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen eine überpersönliche Geltung zu verschaffen.
Im Projekt Alchemie der Klimakrise haben wir versucht, solche Schritte einer methodischen Annäherung an die Lebenssphäre anschaulich zu machen und so zu einer Wissenschaft des Lebendigen beizutragen. Ausgangspunkt ist die Erfahrung, dass Stoffe über Qualitäten verfügen, die einen unmittelbar wahrzunehmenden Einfluss auf die eigene Lebendigkeit haben, und dass die prozessuale Umwandlung von Stoffen von charakteristischen Stimmungen begleitet wird. Beides ist aus einer Erste-Person-Perspektive beschreibbar und kann einen intersubjektiven Charakter erhalten.
Atem und Abluft
Um zu verfolgen, wie sich das CO2 aus menschlichem Atem oder aus Verbrennungsprozessen über die Photosynthese wieder in die sichtbare Natur eingliedert, haben wir große (3-Liter-)Gläser mit Pflanzen bestückt und unter kontrollierten Bedingungen verschiedene Formen von CO2 eingeleitet: aus technischer Herstellung, Autoabgas, aus pflanzlicher Hefegärung, Atemluft beim Nachrichtenlesen am Smartphone und beim Meditieren. Das weitere Geschehen haben wir dann wie oben beschrieben beobachtet. Die Untersuchungen wurden von Panels mit 5–7 Personen mehrmals durchgeführt. Die Beobachtungen erfolgten teils verblindet ohne das Wissen, welche Gläser welche Luft enthalten. Die Pflanzen integrierten CO2 aus lebendigen Quellen gut in ihr Lebensfeld, während CO2 aus technischer Herstellung (Wassersprudler) oder von Autoabgasen sie deutlich belastete. Darüber hinaus haben uns vor allem zwei Beobachtungen überrascht:
- Die Atemluft unterscheidet sich in ihrer qualitativen Auswirkung deutlich, je nach der Bewusstseinshaltung der atmenden Person: Die Pflanzen reagierten auf den Ausatem beim Meditieren mit einer stärkeren Lebendigkeit als auf die Atemluft beim Lesen am Smartphone.
- Bei der Konfrontation der Pflanzen mit den verschiedenen Abluften reagierte nicht nur das Um- und Lebensfeld der Pflanzen im engeren Sinne, es zeigten sich umfassende Einbettungen dieser Prozesse in die Elemente und die Lebendigkeit der Erde. Je nach Quelle des CO2 orientierte sichdie Pflanzemehr zu den Erdentiefen (bei Steinkohle- und Benzinverbrennung) oder zum Licht (Außenluft, Atemluft).
Goethe spricht von „exakter Phantasie“, um die Art des intuitiven Denkens zu beschreiben, die das Urbildliche von Erscheinungen erfassen kann. Rudolf Steiner verwendet dafür in Grenzen der Naturerkenntnis den Begriff des „Symbolisierens“.
Innen und Außen – Mensch und Welt
Aber nicht nur durch den Atem stehen wir in Zusammenhang mit der Welt. In der Anthroposophie finden sich unzählige Darstellungen, wie der Mensch mit der lebendigen Erdenwelt verbunden ist. 1911 spricht Rudolf Steiner darüber im so genannten „Bologna-Vortrag“. Die Ansicht, das menschliche Ich stecke im Körper und erfahre die Welt dadurch als ihm fremd, hält Steiner für ein Dogma, das es zu überwinden gilt. Das menschliche Ich lebe zugleich in den Bewusstseinsprozessen selbst, in den Sinneswahrnehmungen und auch in den Sinnesobjekten – also in der Welt. Diese Gedanken bilden eine Möglichkeit zu verstehen, wie wir mit unserer Umwelt verbunden sind.
Wir Menschen haben unsere Welt vor allem in den letzten Jahrhunderten grundlegend verändert – nicht nur zum Guten, wie die Folgen heute zeigen. Aber wir können diese „Welt in der Krise“ weiter entwickeln. Durch unsere Taten, und durch ein Denken und Fühlen, das sich mit der Realität der menschlichen Weltverwobenheit auf allen Ebenen auseinandersetzt. Wenn wir diesen Zusammenhang anerkennen, können wir ihn auch gestalten und bis in die eigene Seelenwelt hinein Verantwortung ergreifen: für eine gesundende, lebendige und seelisch durchdrungene Erdensphäre. Denn das Klima, das bin ich. Und Du. Und wir alle. ///
Dieser Text erschien in der Ausgabe 3/2024 der Zeitschrift info3.
Buchhinweis zur Bildekräfteforschung: Dorian Schmidt: Lebenskräfte – Bildekräfte. Methodische Grundlagen zur Erforschung des Lebendigen. Verlag Freies Geistesleben, 3. Aufl. 2021, 213 Seiten, € 20.
Ulrike Wendt ist freischaffende Eurythmistin. Sie unterrichtet in der Erwachsenenbildung und schreibt zu den Themen Lichtqualität, Bildekräfteforschung, Zeitfragen, Meditation und Eurythmie.
Markus Buchmann ist Vorstand der Gesellschaft für Bildekräfteforschung und arbeitet als freiberuflicher Naturkundler und Dozent für Meditation.