Irgendwann am Anfang des 12. Jahrhunderts, ein Kloster in einem abgelegenen Nebental des Rheins. Hier erlebt eine Nonne in ihren Gebeten Zustände der Entrückung, in denen sie Botschaften von Gott empfängt und dann niederschreibt: „Und ich sprach und schrieb diese Dinge nicht aus Erfindung meines Herzens oder irgendeiner anderen Person, sondern durch die geheimen Mysterien Gottes, wie ich sie vernahm und empfing von den himmlischen Orten. Und wieder vernahm ich eine Stimme vom Himmel, und sie sprach zu mir: Erhebe deine Stimme und schreibe also!“
Hildegard von Bingen (1098– 1179) wird zur Autorin visionärer Schriften wie etwa ihrem Erstlingswerk Scivias – Wisse die Wege. Sie enthüllt darin Zusammenhänge zwischen Mensch, Schöpfung und göttlicher Ordnung, gibt Hinweise auf Heilwirkungen von Pflanzen und spricht von einer geheimnisvollen „Grünkraft“ in der Natur. Ergebnisse ihrer inneren Schau hält sie auch in eindrucksvollen Illustrationen fest.
Der Ruf, dass Hildegard „Gesichte“ hat, breitet sich bald in der damaligen Christenheit aus. Schauungen zu haben und sie auf Eingebungen Gottes zurückzuführen ist zu dieser Zeit nicht ganz ungefährlich – zumal es sich um eine Frau handelt. Die Offenbarung gilt als abgeschlossen und wer es wagt, einen eigenen Zugang zum Göttlichen zu beanspruchen, gilt schnell als Häretiker.
Hildegard wendet sich vorsichtshalber an eine Autorität ihrer Zeit, den Ordensmann und späteren Kreuzzugsprediger Bernhard von Clairvaux. Der stellt sich hinter sie und erklärt ihre inneren Erlebnisse für rechtens. 1147 erhält Hildegard schließlich von Papst Eugen III. die Erlaubnis, ihre Visionen über den Kosmos, die Natur und die Menschheit zu veröffentlichen.
Erleuchtung in der Provinz
Ein halbes Jahrtausend später lebt in Görlitz in der Oberlausitz ein einfacher Schuhmachermeister. Jakob Böhme heißt er und hat in seinem jungen Leben kaum etwas an Bildung mitbekommen. In seiner tiefen Frömmigkeit aber ringt er heftig mit seinen eigenen Grenzen, die ihn vom Verständnis Gottes trennen. Mit 25 Jahren hat er ein außerordentliches Erlebnis: „Am ‚lieblich jovialischen Schein‘ eines Zinngefäßes entzündet sich Böhmes Schauen“, berichtet der Böhme-Biograf Gerhard Wehr. Böhme selbst sprach von einer „Zentralschau“ und einem „Durchbruch meines Geistes bis ins innerste Gebiet der Gottheit“. Diese non-duale Erfahrung trug er zwölf Jahre lang schweigsam in sich, dann schrieb er seine Erlebnisse in der Schrift Aurora nieder und pries darin hymnisch die Gottheit in allen Dingen. Entgegen seinen eigenen Absichten brachte ein Bekannter diese nur für einen privaten Umkreis gedachten Aufzeichnungen in Umlauf. Während viele Menschen sie dankbar aufgriffen, klagte der Görlitzer Oberpfarrer Böhme der Häresie an. „Man inhaftierte ihn eine Zeitlang, konfiszierte seine Schriften und verbot ihm weitere Publikationen“, hält der Religionswissenschaftler Kocku von Stuckrad in seinem Buch Was ist Esoterik? fest.
Böhme schrieb für einen Kreis von Unterstützern zahlreiche weitere Schriften. Die Spannungen mit der Kirche blieben bis an sein Lebensende, noch auf dem Sterbebett wurde er theologischen Verhören unterzogen und Kirchenleute verweigerten ihm sogar ein christliches Begräbnis. Erst nach dem Tod Böhmes erschien sein schriftlicher Nachlass in den freieren Niederlanden. Böhme inspirierte unter anderem Geister wie Novalis, Schelling und den Maler Runge, Hegel hat ihn einmal den “Philosophus Teutonicus” genannt. Rudolf Steiner sagte über ihn: „Und Jakob Böhme hatte das im höchsten Maße, was man eben second sight (das zweite Gesicht) nennt. Es war bei ihm nur so ausgebildet, dass er es weniger auf einzelnes Irdisches bezog, sondern mehr auf die Konstitution der ganzen Erde.“

Vor dem Tribunal der Vernunft
Emanuel Swedenborg (1688–1727) war ein erfolgreicher Bergbauexperte und einer der bekanntesten Naturwissenschaftler seiner Zeit. Er stand unter anderem mit Newton im Austausch und unternahm bahnbrechende Forschungen auf vielen Gebieten von der Astronomie bis zur Hirnforschung. Für seine vielseitigen Verdienste verlieh ihm die schwedische Königin 1719 den Adelstitel. Im Alter von 57 Jahren erlebte Swedenborg während eines Aufenthaltes in London eine Vision. Nachdem er allein gegessen hatte, trat eine Gestalt zu ihm, die sich als Christus zu erkennen gab. Die Menschheit brauche eine endgültige Erklärung der Heiligen Schrift, soll Christus zu ihm gesagt haben, und er, Swedenborg, sei ausgewählt worden, diese zu liefern. Um ihn bei seiner Arbeit zu unterstützen, sollte ihm außerdem uneingeschränkter Zugang zur gesamten Geisterwelt gewährt werden.
In den folgenden Jahren entwickelte der mystische Visionär aus Schweden eine eigene Theosophie, eine Lichtlehre, er erklärte den Zusammenhang von Gott, Mensch und Engeln und die Bedeutung von Weisheit und Liebe. Auch Swedenborg beanspruchte, den lebendigen Geist nicht allein aus der Überlieferung, sondern durch eigene Berührung mit dem Göttlichen zu kennen: „Dass aber alles und jedes, ja das Allereinzelnste, bis zum kleinsten Jota, Geistiges und Himmlisches bezeichnet und in sich schließt, darüber ist die Christenheit noch in tiefer Unkunde … Dass aber dem so ist, kann kein Sterblicher je wissen, außer aus dem Herrn; daher vorläufig kund werden mag, dass vermöge der göttlichen Barmherzigkeit des Herrn (mir) vergönnt worden ist, schon einige Jahre lang fortwährend und ununterbrochen im Umgang mit Geistern und Engeln zu sein“, schrieb Swedenborg über sich selbst in der Schrift Himmlische Geheimnisse.
Im nördlichen Europa des frühen 18. Jahrhunderts brauchte Swedenborg mit solchen Ansprüchen die kirchliche Autorität nicht mehr zu fürchten. Stattdessen sah er sich mit einem anderen Tribunal konfrontiert, dem der Naturwissenschaft, der er selbst so lange erfolgreich gedient hatte. Auch der höchste Aufklärer seiner Zeit, Kant persönlich, meldete sich zu Wort. 1766 rechnete der Königsberger Philosoph in seiner Schrift Träume eines Geistersehers mit Swedenborg ab und ordnete ihn den „Kandidaten des Hospitals“ zu, die alles weitere Nachforschen nicht wert seien. „Kant ist sich völlig im Klaren, was es bedeuten würde, auch nur eine einzige der Geistererzählungen als wahr anzuerkennen“, resümiert der Religionswissenschaftler Kocku von Stuckrad diese Auseinandersetzung. „Dies würde das gesamte Selbstverständnis der Naturwissenschaften in Frage stellen, weshalb sich die große Mehrheit der Gelehrten in ihrer Ablehnung einig ist. Ein Beweis jedoch ist dies nicht.“ Dennoch hat Swedenborg mit seinem Werk nicht seine eigene wissenschaftliche Community erreicht, wohl aber zahlreiche Künstler wie Emerson, Schelling und Goethe.
Rudolf Steiner hat die Authentizität von Swedenborgs Schauungen durchaus bestätigt, wenn er sagte: „Das ist es, was Swedenborg geschaut hat. Er hat im Erdenäther geschaut die Art und Weise, wie die überirdischen Wesenheiten im Erdenäther Kräfte entwickeln, die dann durchaus eine Rolle spielen im Menschenleben und auch sonst im irdischen Leben. Denn diese Ätherkräfte, die nicht die Engel, die Erzengel selber sind, aber die im Äther vibrierenden Kräfte sind, die spielen durchaus eine Rolle im Erdenleben und im Menschenleben.“ Steiner erklärte dies im Rahmen einer 1923 in Wales gehaltenen Vortragsreihe über Die Initiationserkenntnis, wo er Böhme und Swedenborg als Repräsentanten unterschiedlicher Formen der Hellsicht darstellte.
Wissen, das nicht sein soll
Hildegard von Bingen, Jakob Böhme und Emanuel Swedenborg sind prominente Beispiele für mystische Impulse, die in der Geistesgeschichte durchaus ihre Spuren hinterlassen haben. Obwohl sie von einer eigenständigen Berührung mit der geistigen Welt zeugen und ein rein empirisch-kausales Wirklichkeitsverständnis in Frage stellen, zeigten sie doch wenig Wirkung in der allgemeinen Kulturausrichtung, die solche Zeugnisse bis heute nicht einordnen kann.
Mystik gehört zum „rejected knowledge“, zum „zurückgewiesenen Wissen“, wie das der Historiker James Webb nannte und das die Hüter des Diskurses nur am Rande dulden. Wird sich das ändern, wenn heute zunehmend Menschen eigene geistige Erfahrungen machen? Und wenn Philosophen wie Markus Gabriel für eine Vielfalt von Sinnfeldern eintreten? Wenn in der Forschung – zum Beispiel mit Blick auf indigene Traditionen – die Anerkennung pluraler Wissensformen gefordert wird? Warten wir es ab.
Diese Beitrag stammt aus der Ausgabe info3 Dezember 2024.