Die Mission des Imperfekten

Die Mission des Imperfekten.

Denger denkt!

Mein Leben könnte so einfach sei, wenn alle Mitmenschen perfekt wären! Aber leider, leider, sie sind es nicht. Vor meinem inneren Auge sehe ich die perfekte Partnerin. So, genau so müsstest du sein! Richte dich doch einfach nach meiner Vorstellung und alles wird gut! Meine Kinder, meine Kollegen, mein Chefredakteur, meine Freundinnen und Freunde – sie entsprechen alle nicht meiner Vorstellung. Pech. Ich ärgere mich und spreche mit anderen über sie. Die anderen sind oft ganz meiner Meinung.

Wieviel Kraft, Gehirnschmalz und Ressourcen werden verbraucht auf der Jagd nach Perfektion. Meine Uhr, mein Auto, meine Urlaubsreise – sie sollen perfekt sein. Was denn sonst. Ich kaufe nur perfektes Obst ein. Und die Werbung suggeriert mir, wenn du das alles hast, ist dein Leben perfekt.

Viele Leute legen Wert auf ein perfektes Äußeres. Quasi-perfekte Menschen hinterlassen bei mir kaum Eindruck und ich vergesse sie rasch. Nicht so Menschen mit Behinderung, mit denen ich mein ganzes Leben lang zu tun hatte. Sie und ihre Äußerungen sind oft wesentlich und unvergesslich.

Kann es sein, dass wir das Imperfekte zu Unrecht geringschätzen? Wie, wenn wir den Blick auf den anderen wenden würden?

Vor Jahren entdeckte ich einen meditativ verdichteten Text von Carl Friedrich von Weizsäcker. Er ist mir als Meditation wichtig geworden. Man muss ihn sich langsam und wiederholt erarbeiten:

„Unvergänglich ist das Wesen. Das Wesen ist gegenwärtig in jeder seiner Erscheinungen. Will die Erscheinung aber im Sein beharren, so hört sie auf, Erscheinung des Wesens zu sein; gerade dann zerfällt sie ins Nichts.
Das Vergängliche ist nur ein Gleichnis, denn das Wesen, das in ihm gegenwärtig ist, ist unvergänglich. Aber nur in der Unzulänglichkeit des Vergänglichen ist uns das Wesen gegenwärtig; die Erfüllung unseres Seins ist, dass dieses Unzulängliche Ereignis wird.“ *

Unvergänglich ist das Wesen. Das Wesen ist eine bestimmte, reine Qualität. Seine Erscheinungsformen können je unterschiedlich sein. Aber: Das Wesen ist gegenwärtig in jeder seiner Erscheinungen. Ich nehme einen Menschen wahr. Durch seine Erscheinung offenbart sich mir sein Wesen. Es ist eine reine, unverwechselbare Qualität, die sich mir durch seine leibliche, seine seelische und seine geistige Konstitution mitteilt, aber nicht an diese gebunden ist. In ähnlicher Weise kann ich zur Wesensoffenbarung eines Tieres, einer Pflanze, eines Steines, ja jeglicher Erscheinungsform in der Welt kommen.

Will die Erscheinung aber im Sein beharren, so hört sie auf, Erscheinung des Wesens zu sein; gerade dann zerfällt sie ins Nichts. Unser Beharren ist auf diesem Felde eine Quelle unermesslichen Leides! Die Wohnstatt des Wesens wird zum Gefängnis, zur Ruine und zerfällt. Es ist eine tragische Verwechslung, denn: Das Vergängliche ist nur ein Gleichnis, denn das Wesen, das in ihm gegenwärtig ist, ist unvergänglich. 

Als Menschen auf Erden sind wir auf die Erscheinung als Dolmetsch des Wesens angewiesen. Wir sollten sie nicht geringachten, offenbart sich doch durch sie das Wesen!

Aber nur in der Unzulänglichkeit des Vergänglichen ist uns das Wesen gegenwärtig; die Erfüllung unseres Seins ist, dass dieses Un­zulängliche Ereignis wird. 

Offenbare dich in deiner Imperfektion! Werde Ereignis! Anerkenne den anderen in seiner Offenbarung. Und: Wirf ihm die Unzulänglichkeit nicht vor. Sie ist Bedingung seiner Wesensoffenbarung.

Forget your perfect offering
There is a crack, a crack in everything
That’s how the light gets in.
(Leonard Cohen)

Das ist die Mission des Imperfekten.

* Carl Friedrich von Weizsäcker, Über einige Begriffe aus der Naturwissenschaft Goethes, in: die Tragweite der Wissenschaft, Stuttgart 1966

Dieser Beitrag stammt aus der info3-Ausgabe Dezember 2024.

Über den Autor / die Autorin

Johannes Denger

Johannes Denger ist Heilpädagoge, Waldorflehrer und Info3-Autor.