Sternschnuppenbildung

Foto: Mischka Kaiser

In Stuttgart trafen sich vor kurzem Menschen aus den anthroposophischen Praxisfeldern zu einem Austausch über zeitgemäße Bildung. Eindrücke vom Campus Bildung 2023.

Ein Forum lebt vom Gespräch, ob im alten Rom oder im modernen Stuttgart. Das bewiesen die rund 150 Teilnehmenden des Campus Bildung Anfang Juni, die sich mit der Frage „Was ist zukunftsfähige Bildung?“ beschäftigten.

Vor dem Beginn durchzuckte Stuttgart ein Gewitter. Den davon energetisierten Teilnehmer:innen blitzten im Eröffnungsplenum des Campus Bildung Perspektiven entgegen, die Bildung als gesamtgesellschaftliche Herausforderung in den Blick nahmen. „Zwischen mir und der Welt klafft ein Abgrund“, konstatierte Gerald Häfner vom Goetheanum. Die Menschheit entferne sich im Zuge der rezenten Krisen vom Geistigen und nehme immer mehr eine Zuschauerrolle in ihrem eigenen Leben ein. Dem gegenüber appellierte er: „Ändert euren Sinn!“. Globale Perspektiven kamen durch Mona Lenzens Bericht aus Ägypten in den Blick, die das ästhetisch-sinnesorientierte Studieren an der Heliopolis-Universität ausmalte. „Wie gelingt eine Bildung der Mitte?“, fragte die Kinderärztin Karen Michael, die der gesellschaftlichen Gesundheit insgesamt ein schlechtes Zeugnis ausstellte. „Immer mehr Menschen geraten in eine Dissoziation statt in eine Anbindung, was wir unter anderem an Essstörungen und Autoimmunkrankheiten sehen.“ Karen Michael war sich sicher: „Der Intellekt wird mit Sicherheit nicht das sein, was uns rettet.“ Zumindest sollte er von Herzenswärme flankiert werden, wie Angelika Wiehl von der Alanus-Hochschule Mannheim deutlich machen konnte: In einer Waldorfschule in Berlin-Kreuzberg habe sie erlebt, wie die Lehrerin den Morgenspruch auf Arabisch rezitierte, was die Schüler:innen mit Migrationshintergrund sehr berührte: „Man muss nicht zuerst Deutsch lernen, um sich zu integrieren, sondern man muss im Herzen berührt werden – damit beginnt es.“ Diese hohe Energie veranlasste unter anderem Joos van den Dool (Universität Witten/Herdecke) dazu, am zweiten Abend zu sagen: „Für mich hat es sich schon für das erste Plenum gelohnt, herzukommen.“

Nach künstlerischen Beiträgen klang der Tag im Nachtcafé aus, wo wild ums Lagerfeuer getrommelt und manches Wiedersehen gefeiert wurde.

Die Situation der Praxisfelder

„Erlebe wie dein Geist morgens schon mit Lebendigkeit durchströmt ist“, hörte ich die Eurythmistin Ulrike Wendt am nächsten Morgen sagen, während mein verschlafener Körper versuchte, die von ihr angeleiteten Bewegungsübungen nachzuvollziehen. Musikalisch und darstellerisch wurden die künstlerischen Beiträge unter dem Label „Whitebox“ von Ulrike Wendt, der Sängerin Lena Sutor-Wernich und dem temperamentvollen Jobst Langhans kuratiert, was Themen der Tagung immer wieder geschickt mit Heiterkeit und körperlicher Aktivität verwob.

Eindrucksvoll war das Plenum am Freitagvormittag, wo es um die aktuelle Situation in den Ausbildungsstätten der einzelnen Praxisfelder gehen sollte. Von Demeter-Landbau über Heilerziehungspflege, Waldorf-Lehrer-Seminare, Hochschulen und die anthroposophische Medizin reichte die Spannbreite. Besonders eindrücklich waren die Schilderungen von Professor David Martin (Universität Witten/Herdecke), der konstatierte, dass anthroposophische Medizin medial schlecht dastehe und in einer „bedrohlichen Lage“ sei. Dabei würden so viele anthroposophische Ärzt:innen gesucht und die konventionelle Ausbildung lasse zu wünschen übrig. Das Medizin-Studium an der Universität Witten/Herdecke würde „den Einzelnen ins Lernen einbeziehen“, „Erste-Person-Wissenschaft“ nennt es David Martin. Für ein Lernen aus Erfahrung standen auch die Leitfragen von Andrea Waldmann (Waldorf-Institut Witten-Annen): „Wie schaffen wir es, dass die Studierenden in Freiheit Erkenntnisse generieren können?“ und Susanne Vieser (Waldorferzieherseminar Stuttgart): „Wie begleiten wir Menschen, um kleine Kinder ins Leben zu begleiten?“ Denkwürdig waren Jochen Bremes Schilderungen des Entwicklungsganges der Alanus-Hochschule in Alfter, denen gerade die Reibungspunkte und Spannungen besondere Glaubwürdigkeit verliehen. Zahlreiche Themengruppen bewegten die vorher aufgeworfenen Fragen über den Tag, von Esoterik und Anthroposophie in der Kritik über Feminismus in der Ausbildungslandschaft bis zur künstlerischen Forschung reichten die Themen.

Nach Impulsen von jungen Menschen, die Wünsche für zukunftsfähige Bildung artikulierten, klang der Abend mit einem fulminanten Kunst-Triptychon aus, wo drei Gruppen mittels Gesang, Schauspiel und Bewegungskunst ein Gedicht von Etty Hillesum erkundeten, in dem das Chaos der Welt gegen das Strahlen des Lebens gewendet wird.

Weiterführung erwünscht

Spiritualität bildete das thematische Zentrum am Samstagmorgen. Michael Schmock, Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, schilderte humorvoll seinen geschäftigen Tagesalltag, um dann zu fragen: „Was habe ich mit diesem Trubel eigentlich zu tun? Was ist das Wesentliche darin?“ Sein Rat in Anknüpfung an Rudolf Steiner: „Suche dir Augenblicke der inneren Ruhe und lerne das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden.“ Durch eine imaginative Tages-Rückschau-Meditation vor dem Einschlafen könne ein „Panorama der Wesentlichkeiten des Tages“ aufleuchten. Zum Abschluss des Forums wurde eine soziale Skulptur präsentiert, die über die Festivaltage gewachsen war. Ein großes sternförmiges Tableau in der Cafeteria des Steiner-Hauses hatte sich mit den Inhalten und Erfahrungen der Teilnehmenden angefüllt und wurde nun abschließend begangen und betrachtet. Nicht zuletzt hier zeigte sich auch das Konfliktpotential, das in der Begegnung der Generationen liegt: Einige junge Menschen fühlten ihre Stimme nicht angemessen gehört, was hitzig, aber zum Glück nicht eindimensional diskutiert wurde.

Mitinitiator Sebastian Knust war insgesamt zufrieden, denn der Stand der anthroposophischen Bildungsbewegung durch alle Praxisfelder hindurch sei sichtbar und (vor allem nach der Corona-Zeit) merklich gestärkt worden. Alle waren sich einig: das Forum war ein Lichtblick und dürstet nach Wiederholung im nächsten Jahr. Wie der Titel dann sein wird, ist noch unklar. Vorschläge wurden auf einer großen Pinnwand gesammelt, darunter „Werdinale“ oder „Bildungs-Festival“, mit dem Untertitel „Bilde sich, wer kann!“ Zum Abschluss die Aussage eines Teilnehmers, was Campus Bildung 2023 einzigartig gemacht habe: „Zu wissen, dass überall so kleine Sternschnuppen in der Bildungslandschaft leuchten!“ ///

Über den Autor / die Autorin

Alexander Capistran

Alexander Capistran studierte Philosophie in Berlin, an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues und an der Universität Witten/Herdecke. Er
arbeitet als Organisationsentwickler bei Gravitage.org und als
Publizist, lebt bei Dresden und promoviert über die Philosophie der
Mobilität. Seit Januar 2021 ist er Mitarbeiter in der info3-Redaktion.