Das klingt zunächst unerwartet: Hartmut Rosa, Gründer einer Soziologie der Resonanz, vertritt die These: „Demokratie braucht Religion“. So jedenfalls der Titel eines neuen Bändchens des Hochschullehrers aus Jena, das auf einen Vortrag bei einem Diözesantreffen zurückgeht. Die überwiegend katholischen Zuhörer:innen dürften durchaus zufrieden mit dem Inhalt gewesen sein und sogar Gregor Gysi zeigte sich angetan davon und hat ein Vorwort für das Büchlein beigesteuert. Was kann also die Religion beisteuern, was der Demokratie fehlt?
Rosas Antwort ist im Grunde einfach. Denn, um vom Ende der Ausführungen her zu beginnen: Rosa versteht die Struktur von Religion als das genaue Gegenteil unserer leistungsorientierten Wachstumsgesellschaft. In letzterer geht es darum, immer mehr zu wollen, als man hat. Wo aber Religion wirkt, hat das Wollen und Machen kein Recht mehr. Im Gegenteil: Es braucht das absichtslose Sich-Bereithalten, das Auf-Hören – womit wir schon beim Hören als der zentralen Fähigkeit wären, von der laut Rosa die Religion handelt: Insbesondere die abrahamitischen Religionen bergen ein – so drückt es der Soziologe aus – „vertikales Resonanzversprechen“. Nicht ich bin es, der hier etwas will, sondern eine höhere Instanz ruft mich.
Um diesen Ruf zu vernehmen, muss ich offen dafür sein, mich auch anrufen zu lassen. Genau hier liegt nun für Rosa die Parallele zu unserer Gesellschaft, deren innere Widersprüchlichkeiten er ausführlich skizziert und in der Analyse bündelt: „Wir haben eine Krise der Anrufbarkeit“. Das heißt, unser Zusammenleben wird derzeit mehr geprägt von einem permanenten „Aggressionsmodus“, in dem wir uns gegen andere behaupten, so wie wir es exemplarisch im Kampf zwischen Demokraten und Republikanern in den USA sehen oder bei uns „im Konflikt zwischen Impfgegnern und Impfbefürwortern“: „Da haben wir keine Debatte mehr darüber, wie wir leben wollen, sondern die anderen sollen’s Maul halten, wir betrachten die anderen als Feinde, die wir zum Verstummen bringen wollen!“, sagt Rosa. Nur das Zuhören-Können aber ermöglicht jenes „republikanische Verständnis von Demokratie, dass sich Bürgerinnen und Bürger als solche begegnen, die einander etwas zu sagen haben“. Und genau deshalb wird für Harmut Rosa die Bitte des Königs Salomo wichtig, die da lautet: „Gib mir ein hörendes Herz“.
Das alles liest sich im Wortsinne schön und gut. Doch mir scheint, Rosa lässt in seinen Ausführungen etwas Entscheidendes unbeantwortet: Existiert denn tatsächlich etwas Höheres, das uns anruft? Eine göttliche Macht, die uns anspricht, eine geistige Welt, die uns zum Hören bringt – gibt es so etwas? Man könnte noch weiter fragen: Wie soll denn dieses wunderbare „vertikale Resonanzversprechen“ einlösbar sein in einer Welt, über die derzeit allein ein materialistischer Reduktionismus die Deutungshoheit besitzt? In einer Wirklichkeit, die – wie heute so oft geäußert – allein von der Naturwissenschaft erklärt werden darf, bleibt da noch Platz für ein geistiges oder spirituelles Gegenüber, das in der Lage wäre uns anzurufen? Ohne die tatsächliche Existenz Gottes oder, allgemeiner gesprochen, höherer Wesen, hätten wir es bei aller Sympathie für Rosas Grundgedanken nur mit Anrufungs-Simulationen zu tun, in der die Beteiligten nur so tun können, als ob sie von etwas angesprochen wären.
Man kann Hartmut Rosa nicht wirklich vorwerfen, dass er dieses fundamentale Problem nicht angegangen ist. Vielleicht ruft hier ein Thema für einen weiteren Vortrag, der lauten könnte: „Demokratie braucht Geist!“ Rosas Plädoyer für ein neues Zuhören bleibt unabhängig davon wertvoll.
Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion. Kösel 2022, € 12,-