Neulich war ich in London. Genaugenommen vom 27. März bis zum ersten April. Das ist kein verspäteter Aprilscherz und es hatte im Grunde auch nichts mit dem seinerzeit avisierten „Brexit“ zu tun, mal abgesehen davon, dass ich im Vorfeld überlegte, für die Rückreise zur Sicherheit ein Schlauchboot mitzunehmen.
Der Brexit war in London wie hierzulande natürlich Dauerthema: in den Schlagzeilen, im Bus, auf der Straße, beim Einkaufen, im Radio. Vor meiner Abreise hielten mich manche für ebenso bekloppt wie das gesamte Königreich, aber mein Anliegen war eigentlich nur, Freunde zu besuchen, die ich seit mehr als einem Dutzend Jahren regelmäßig besuche. Ganz unwillkürlich habe ich bei diesen Reisen doch Einiges von der Mentalität der Briten mitbekommen und war schon immer fasziniert von der allerorten anzutreffenden Mischung aus Distinguiertheit und subversivem Lebenssinn, welche so herrlich skurrile Blüten treibt. Symbolischer Ausdruck dafür ist für mich der einladende und funktionsfähige Tischkicker, den ich bei einem meiner ersten Besuche unerwartet inmitten eines altehrwürdigen Museumssaales mit Holzvertäfelungen und Exponaten aus aller Welt vorfand.
Dieses Miteinander von Hochkultur und Mainstream ist offenkundig britische Normalität, unvorstellbar in Deutschland: ein Tischkicker im Frankfurter Städel schräg gegenüber von Tischbeins Goethe in der Campagna? Entzückt bin ich auch immer wieder über jene älteren Damen, die im Schwimmbad, im Bus oder beim Einkaufen – What a glourious day, love! – im Handumdrehen aus einem Zustand der Fremdheit eine liebevolle Empfindung von Überzeitlichkeit herausdestillieren können, für die Blümchentassen auf dem Kaminsims plötzlich ein verblüffend naheliegender Ausdruck sind.
Genauso skurril erscheinen mir die Unterhausdebatten mit Zeremonienstab und dem immer etwas derangiert wirkenden Mr. Speaker – alles auf Tuchfühlung, ebenso geordnet und diszipliniert wie tumultartig, niemals langweilig. Das raunende „Hear, hear!“ der Abgeordneten und der – wenn nicht grölende, so doch dröhnende – Weck- und Ordnungsruf „Ooooorder!“ –, eine große Kunst, die Atmosphäre eines englischen Pubs mit hoher Politik in Einklang zu bringen. Und so sehr die Mehrheit die Vorgänge rund um den „Brexit“ zunehmend nur noch mit Kopfschütteln quittiert – in London fühlte sich die politische Patt-Situation vor allem: überaus lebendig an. Gesetz und Ordnung müssen schließlich verstoffwechselt werden, und das braucht Zeit.
Bei einem Gang durch das Regierungsviertel Westminster vielfältige Schilder am Straßenrand – „I am not going away“ – „Best deal is with the EU“ – „RIP Brexit“. Allüberall gibt es Minidemonstrationen. Ein alter gebeugter Herr mit einem wetterfest eingeschweißten Schild auf dem Hut, junge Kerle auf der Kreuzung mit einem Plakat in unübersehbarer Größe: „Just hoot – we voted leave!“ Zwei mit EU-Fahnen, vertieft in eine Diskussion mit einem kleinen Herrn, der Union-Jacks in einem Wägelchen zum Verkauf vor sich herschiebt und schließlich von dannen zieht, ein entschiedenes Brexit-Probehandeln. Alles geht durcheinander.
Westminster Palace sieht aus, als wäre es eine federleichte Fortsetzung der blühenden Bäume ringsherum. Dazwischen eine Statue von Emmeline Pankhurst, der maßgeblichen Kraft im Kampf um das Wahlrecht der Frauen. Gelassen, aufrecht, ein Ruhepol. Was wäre eine Demokratie ohne eine hinreichende Menge an Wahlmöglichkeiten? Brexit: What a glourious day, love!