Es ist noch gar nicht so lange her, da hatte man den Eindruck, dass das politische Unterscheidungskriterium Rechts-Links veraltet und irgendwie aus der Zeit gefallen ist. Beinahe alle Parteien wollten die neue Mitte sein: CDU, FDP, SPD, Grüne – es herrschte da ein richtiges Gedränge. Die CDU und die SPD waren in den großen Koalitionen kaum voneinander zu unterscheiden und zu den Rändern hin lief es nach links und rechts auf einige als radikal erscheinende Spinner mit marginalen Wahlresultaten hinaus. Seit geraumer Zeit erleben wir ein Erstarken der Rechten. Warum?
Ist es bei der Komplexität der aktuellen, gesellschaftlich und politisch zu bearbeitenden großen Probleme wie Klima, Migration, Krieg, Rezession wirklich noch zielführend, mit dem Links-Rechts-Schema zu arbeiten? Es handelt sich dabei ja um eine auf einer geometrischen Achse liegende, eindimensionale Unterscheidung von politischen Ideologien. Das Aufkommen der Unterscheidung Links-Rechts im Sinne politischer Richtungsbegriffe wird auf die Konstitution der Französischen Nationalversammlung von 1789 zurückgeführt. Ein Hauptkritikpunkt daran ist die extreme Vereinfachung der politischen Landschaft durch die Projektion verschiedener programmatischer Unterschiede auf eine einzige Achse. Für den Philosophen Johannes Heinrichs ist „das Operieren auf der eindimensionalen Achse von Links und Rechts … heute nicht bloß überholt, auch nicht bloß untauglich, sondern friedensstörend und fortschrittsfeindlich.“
Und nun also wieder der Ruf nach „Brandmauern“. Ist das wirklich die Lösung? Es hat bis jetzt nicht wirklich funktioniert. Man hat sie errichtet und stellt fest, dass ein nicht geringer Teil der Wählerinnen und Wähler dennoch erodiert und nach jenseits der Mauern abrieselt. Bei den jüngsten Landtagswahlen haben 37 Prozent der AfD-Wähler:innen die Partei aus Überzeugung gewählt, der Rest um den Regierungsparteien einen „Denkzettel“ zu verpassen. Die AfD-Parlamentarier:innen im Bund konnten es sich in letzter Zeit recht gemütlich machen, die Oppositionsarbeit, ihnen von einer farb- und kraftlosen CDU weitgehend überlassen, erledigte sich quasi von selbst. Die regierende Ampelkoalition, durch die riesigen Herausforderungen auf praktisch allen Feldern wahrlich nicht zu beneiden, tat sich schwer und kommunizierte ihr Handeln oft auch noch schlecht.
Alles Rechts-Links? Mich erinnert die Situation an den Versuch über den Normalismus von Jürgen Link. Jede gesellschaftliche Krise ist mit Denormalisierungsängsten und Renormalisierungsversuchen verbunden. Prototypisch versinnbildlicht wird der Normalismus vor allem durch die Gauß‘sche Glockenkurve, die sogenannte Normalverteilung mit ihrer Zentraltendenz und ihrer Symmetrie zwischen zwei gegen Null auslaufenden Extrempolen. Je nach historischem Kontext und Sachverhalt liegen die Normalitätsgrenzen, an denen sich das noch akzeptierte Normale vom inakzeptablen A-Normalen trennt, mal näher oder mal weiter vom Scheitelpunkt entfernt.
Als Protonormalismus bezeichnet es Link, wenn Gesellschaften (historisch von 1800 bis etwa 1945) nur einen engen Korridor des Normal-Seins akzeptieren und dagegen eine große Bandbreite des A-Normalen zu unterdrücken versuchen. Als Flexiblen Normalismus (im Westen ab 1945), wenn – anstelle der Ausgrenzung bis auf einen kleinen, illegitimen Randbereich – möglichst jede Abweichung vom Normalen in das breite Spektrum des als-noch-normal-Akzeptierten zu integrieren versucht wird.
Vielleicht sollten wir die eindimensionale Unterscheidung von Rechts-Links überwinden zugunsten eines flexibleren Normalismus und die Wähler wieder mit überzeugender Sachpolitik gewinnen?