Rhythmische Massage, Öldispersionsbad, Leberwickel, Mistel, Kupfer, Heileurythmie, Sprachtherapie und vieles mehr – die Heilmittel und Therapien der Anthroposophischen Medizin sind ebenso vielfältig wie die Menschen. „Sie ist eine moderne, Menschen zugewandte, vielfältige, integrative Medizin“, sagt Natascha Hövener, Pressesprecherin des DAMiD. Gemeinsam mit Barbara Wais, Geschäftsführerin des DAMiD, setzt sie sich für Aufklärung über integrative Medizin, also die Kombination aus komplementärer und konventioneller Medizin ein. Als integrative Medizin mit ganzheitlichem Ansatz gehört die Anthroposophische Medizin in Deutschland bereits seit 1976 zu den gesetzlich anerkannten „besonderen Therapierichtungen“. Und dieses Jahr feiert sie ihr hundertjähriges Jubiläum. „Wir hatten für das Frühjahr eine Roadshow konzipiert, bei der wir deutschlandweit an verschiedenen Orten praktisch zeigen wollten, was Anthroposophische Medizin kann,“ erzählt Hövener. „Aber dann kam Corona. Alle großen anthroposophischen Häuser haben einen gesetzlichen Versorgungsauftrag und sind in die regionalen Notfallpläne eingebunden. Das medizinische Personal hat im Umgang mit dem Virus großen Einsatz gezeigt und Gemeinsinn bewiesen.“ Im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe beispielsweise hatte Mitte März die erste Corona-Ambulanz Berlins geöffnet, in Baden-Württemberg hat sich die Filderklinik an einer Drive-In-Test-Station beteiligt und im Krankenhaus Herdecke zum Beispiel eine Isolierstation. Gesellschaftliches Engagement und Vernetzung im Sinne integrativer Ansätze sind wesentliche Säulen des Dachverbandes, betonen Hövener und Wais. Mit Forschung, politischen Aktivitäten und breitenwirksamer Kommunikation behauptet sich die Anthroposophische Medizin gegen so manches Vorurteil: unwissenschaftliche Forschung, Hang zu Esoterik und weltverschwörerische Tendenzen beispielsweise.
Gemeinsam, integrativ und positiv
Zahlenmäßig ist die Anthroposophische Medizin zwar die kleinste der besonderen Therapierichtungen (von circa 60.000 Ärzt*innen mit integrativmedizinischer Zusatzqualifikation in Deutschland sind rund 1.500 anthroposophische Ärzt*innen), aber mit einem breiten Angebot: es gibt stationäre Einrichtungen, Akutkrankenhäuser, Rehakliniken, ambulante Pflege, Heilpädagogik und vieles mehr. „Ein anthroposophisches Krankenhaus weist ganz bestimmte Merkmale auf, die die Patient*innen spüren“, sagt Barbara Wais. „Die Atmosphäre ist anders, es gibt zusätzliche Therapien und Arzneimittel. Das heißt nicht, dass wir auf einer Insel der Seligen leben, im Gegenteil. Unsere stationären Einrichtungen müssen sich auch in den gesetzten Rahmenbedingungen von Wirtschaftlichkeit behaupten und das schaffen sie bislang recht gut.“ Neben einem breiten Therapiespektrum, das die Anthroposophische Medizin anbietet, nutzt sie auch potenzierte Arzneimittel, ebenso die Homöopathie.
Deren Wirksamkeit wird jedoch vielfach angezweifelt. „Da kommt es darauf an, im Schulterschluss mit der Homöopathie zu stehen“, betont Hövener. „Aber immer nur über Wirkmechanismen der homöopathischen Arzneimittel oder ähnlich zugespitzte Themen zu sprechen, das ist kein produktiver Ansatz. Wir lassen uns nicht irremachen und bewahren Ruhe“, so Wais. Der Dachverband setzt deshalb auf eine breitenwirksame Kommunikation auf Augenhöhe mit anderen Therapierichtungen und auf Forschungen im Bereich der integrativen Medizin. „Wir können im Gesundheitswesen nur etwas erreichen, wenn wir zusammenarbeiten“, so Hövener. Die beste Öffentlichkeitsarbeit sei außerdem, die Vorteile integrativer Medizin immer wieder bekannt zu machen – sei es durch Forschungsergebnisse wie beispielsweise aus der Mistelforschung, integrative Kongresse oder den Aufbau integrativer Krebszentren. „Die Anthroposophische Medizin tummelt sich. Sie bringt sich gesellschaftlich ein und beweist Streitfähigkeit in der Wissenschaft.“
Vernetzung und Kritik
„Bei unseren thematischen Kongressen, die wir seit zehn Jahren veranstalten, laden wir gezielt Referent*innen sowohl aus der konventionellen als auch aus der Komplementärmedizin ein“, erzählt Wais. Es gehe darum, gemeinsam politisch aktiv zu werden für eine bessere Verzahnung im Gesundheitssystem, erklärt Hövener. Die interdisziplinäre und wissenschaftliche Vernetzung stand zum Beispiel im Vordergrund eines Forschungskongresses, den der DAMiD vor vier Jahren mit der größten amerikanischen Gesellschaft für Integrative Medizin organisiert hat. „Die Anthroposophische Medizin ist in ihrer Anlage bereits integrativ, das ist ihr Vorteil“, unterstreicht Wais. Das beweisen Forschungsarbeiten immer wieder: Beispielsweise zeigen die Ergebnisse einer aktuellen Studie mit Kindern, die an einer Lungenentzündung erkrankt sind, dass der Antibiotikaeinsatz bei integrativer Behandlung in der Filderklinik um ein Drittel reduziert werden konnte.
„Der inzwischen verstorbene Präsident der Ärztekammer Jörg-Dietrich Hoppe hat einmal gesagt, Medizin sei noch nie reine Naturwissenschaft gewesen, sondern immer auch Soziologie, Psychologie, Theologie. Sie ist Kommunikation“, so Hövener. Aber diese erweiterte Sicht sei für manche skeptische und kritische Menschen eine Zumutung. Nicht jeder und nicht jede ist vom ganzheitlichen Ansatz der Anthroposophischen Medizin begeistert – kritische Fragen gibt es immer wieder, darunter viele an die Forschung: „Von unserer Forschung werden Goldstandardkriterien verlangt, die selbst die konventionelle Medizin nur bei einem Bruchteil der medikamentösen Maßnahmen einhält“, kritisiert Hövener. Antidepressiva sollen beispielsweise, so eine Studie von Irving Kirsch (info3 berichtete im Dezember 2019), genauso gut wirken wie Placebo – und dennoch werden sie viel verschrieben. Auch bestimmte Herstellungsprozess in der Anthroposophischen Medizin rufen Irritationen hervor: Warum, zum Beispiel, muss die Calendula unbedingt morgens bei Sonnenaufgang gepflückt werden? Chemische Prozesse in der Pflanze spielen dabei eine Rolle, so Hövener.
Mehr Aus- und Weiterbildung für integrative Medizin
Viele Menschen, die sich für eine Pflegeausbildung oder ein Medizinstudium entscheiden, sehnen sich danach, mehr Zeit mit den Patient*innen verbringen zu können. Sie wissen, dass Pflege mehr bedeutet als das Erledigen körperlicher Aufgaben wie Waschen, Umlagern, Medikamente geben. „Junge Menschen starten enthusiastisch in den Beruf und werden dann von der Realität der Praxis ernüchtert“, erklärt Wais. Auch Pflegende oder Ärzt*innen, die schon mehrere Jahre im Beruf sind, erfahren manchmal eine Sinnkrise und wünschen sich, dass sich ihre Arbeit wirklich am Menschen orientiert. In einem von Wirtschaftlichkeit durchdrungenen Gesundheitswesen fallen wichtige Aspekte der Pflege, wie beispielsweise Zuhören, weg und so kämpft die Medizin mit einem Nachwuchsproblem und hohen Drop-Out-Raten. „Die Anthroposophische Medizin kann aber zeigen, dass eine den Menschen zugewandte und auf dem neuesten naturwissenschaftlichen Stand fußende Medizin möglich ist“, so Hövener. An anthroposophischen Zusatzqualifikationen im medizinischen Bereich arbeiten verschiedene Berufsverbände und die Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland (GÄAD) permanent. Es sei wichtig, dass viel Men- and Womenpower in die verschiedenen Aus- und Weiterbildungsbereiche fließen, so Wais und Hövener. An der Universität Witten/Herdecke gibt es zum Beispiel schon seit sechs Jahren ein Integriertes Begleitstudium Anthroposophische Medizin (IBAM), an dem Studierende eine Zusatzqualifikation für anthroposophisch erweiterte Medizin erhalten können. Und auch der GÄAD habe in den letzten Jahren viel mit neuen Formaten erreicht, um jungen Menschen die Möglichkeit einer Weiterbildung zu bieten.
Die Anthroposophische Medizin tummelt sich also, in der Forschung, in der Vernetzung und in der Weiterbildung. Das Jubiläumsjahr kann – nach den Corona-bedingten Startschwierigkeiten – mit zahlreichen Ideen, Projekten und Inspirationen noch mehr Elan entwickeln, damit der Funke der Begeisterung für die Anthroposophische Medizin, den Hövener und Wais streuen, noch viele Jahre andauert. ///