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Die offene Anthroposophie und ihre Gegner – Stellungnahmen

Verschwörungstheorien. Die offene Anthroposophie und ihre Gegner. © Frank Schubert / VG Bild Kunst - Info3 Verlag 2018
Verschwörungstheorien. Die offene Anthroposophie und ihre Gegner. © Frank Schubert / VG Bild Kunst - Info3 Verlag 2018

Verschwörungstheorien finden auch in der anthroposophischen Bewegung zunehmend Widerhall. Anthroposophen positionieren sich.

Die offene Anthroposophie und ihre Gegner: Mutmaßungen über inszenierte Terroranschläge und Annahmen über die Manipulation des politischen Lebens sowie der Medien durch elitäre Zirkel verbreiten sich derzeit nicht nur gesellschaftlich stark, sondern werden auch in der anthroposophischen Bewegung zunehmend aufgegriffen. Einige Vertreterinnen und Vertreter anthroposophischer Arbeitsfelder haben sich nun zusammengefunden und möchten mit ihren individuellen Positionen deutlich machen, dass Verschwörungstheorien in der anthroposophischen Bewegung nicht unwidersprochen bleiben. Gleichzeitig wollen sie ihr Engagement für eine offene und aufgeklärte Anthroposophie zum Ausdruck zu bringen.

 

Leichtgläubigkeit und Schwarz-Weiß-Denken

In Zeiten wachsender Verunsicherung, in der Fake News und ungefilterte Ressentiments durch die so genannten „sozialen Medien“ geistern, nimmt es nicht Wunder, dass viele Menschen nach umfassenden Welterklärungen suchen, die ihnen festen Boden unter den Füßen geben können. Daher ist es nicht weiter überraschend, dass heutzutage Verschwörungsideologien fröhliche Urstände feiern und dass es aufgeweckte Vermarkter gibt, die diesen Trend bedienen, indem sie eine diffus apokalyptisch gestimmte Zuhörerschaft in ihren Bann ziehen und in ihren düsteren Ahnungen bestätigen.

Indes erstaunt es – und erstaunt dann auch wieder nicht –, dass es im Umkreis der anthroposophischen Bewegung eine überraschend große Zahl an Interessenten gibt, die unkritisch die neuesten verschwörungsideologischen Versatzstücke aufnehmen und dann im Gestus des arrivierten Besserwissers weitergeben.

Dies verwundert, werden doch Anthroposophen gewöhnlich eher als irgendwie grünalternativ, unpolitisch oder linksliberal eingestuft – es erstaunt nicht mehr so sehr, wenn man bedenkt, dass darunter nicht wenige sind, die eine Tendenz zur Leichtgläubigkeit haben und in der Regel eher Verehrungskräfte aktivieren als kritisches Hinterfragen.

Und einmal ehrlich: Warum soll man sich denn auch der Mühe des abwägend-diskursiven Denkens unterziehen, wenn es so verlockende Angebote gibt, die dazu verhelfen, alte Feindbilder zu nähren, die ein simples Schwarz-Weiß-Denken befördern und die einem dann noch wirklich große Männer wie Herrn Putin präsentieren, der als friedliebender Europäer hingestellt wird?
Nein! Anthroposophie muss dazu beitragen, einseitige Sichtweisen zu überwinden und zu relativieren. Sie kann und soll differenzieren, integrieren und Vertrauen aufbauen. Von Pseudowissenschaftlern und Verschwörungssektierern muss sie sich abgrenzen. Auch und gerade, wenn diese sich auf Rudolf Steiner berufen.

Prof. Dr. Volker Frielingsdorf, Historiker, Alanus Hochschule

 

Verminter Dialog

Im 21. Jahrhundert zu leben heißt, am Entstehen des Wirklichen und Wahren teilhaben zu wollen und nichts ungeprüft gelten zu lassen. Heimat- und Haltlosigkeit ist der Preis dieser geistigen Souveränität und Freiheit. Doch es gibt einen verführerischen Halt: Was im 20. Jahrhundert die Ideologie war, das ist heute die „Stimmung“. Aus einer erstaunlich konstanten Gefühlslage wird über die Welt gedacht, empfunden und gehandelt – an die Stelle von Frage und Zweifel tritt etwas Absolutes: die empörte Grundstimmung (der oft Hochmut gegenübersteht). Es ist eine Empörung, die vermittelnde, merkurielle Organe angreift: Medien, internationale Institutionen und Rechtsorgane.

Während sich in den anthroposophischen Arbeitsgebieten wie Medizin, Pädagogik oder Landwirtschaft eine dialogische Kultur etabliert hat und kontroverse Fragen besprochen werden können (Umgang mit Präparaten, Sterbehilfe, Inklusion), sieht es im allgemein anthroposophischen Feld anders aus. Hier verminen die beschrieben Stimmungslagen den Dialog und erklären Vertreter anthroposophischer Institutionen zum Gegner. Nun ist es vor allem der Dialog, das Konzert der Perspektiven, aus dem neue Heimat erwächst. Deshalb sollte uns viel daran liegen, diese festen Stimmungen aufzulösen.

Wolfgang Held, Goetheanum

 

Fixierung auf unheilvolle Mächte

Ich verstehe Anthroposophie als ein Plädoyer für Verbundenheit mit der Welt: Was kann ich für die Welt tun? Auf welchen Beitrag von mir hat unsere Gesellschaft gewartet? Eine Fixierung auf das Wirken unheilvoller Mächte und vermeintliche Verschwörungen dagegen bewirkt eine passive Zuschauerhaltung, die diesem wichtigen Entwicklungsimpuls der Anthroposophie widerspricht.

Dennoch treffen solche Ideen auf eine im anthroposophischen Umfeld offenbar ebenfalls vorhandene Tendenz zur Autoritätsgläubigkeit und zu anti-aufklärerischen Positionen und finden dort Widerhall. Die damit verbundenen Vereinfachungen werden jedoch der Komplexität unserer Welt nicht gerecht. Sie öffnen populistischen Positionen Tür und Tor und bedrohen die freiheitliche, offene Gesellschaft, in der zu leben ich als hohes Gut betrachte.

Laura Krautkrämer, Zeitschrift Info3

 

Falsche Simplifizierungen

In vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, in Medizin, Pädagogik und Wirtschaft, wird ein technokratisch-ökonomistisches Menschenbild vertreten, in dem der Mensch kaum noch vorkommt. Dies ist die Folge eines materialistischen Reduktionismus, wie er allenthalben wissenschaftlich dominant ist. Der Anthroposophie geht es um die Überwindung dieses einengenden Materialismus. Sie steht für einen mehrdimensionalen, holistisch-phänomenologischen Ansatz und schließt monokausale Erklärungsmuster aus. Demgegenüber bieten Verschwörungstheorien in grober Vereinfachung Welterklärungsangebote, die mit simplen Polarisierungen arbeiten und zudem oft spirituell aufgeladen sind.

Anstelle eines materialistischen Reduktionismus tritt ein spiritualistischer Reduktionismus. Man kann vielleicht einzelne pointierte Äußerungen Steiners im Sinne von Verschwörungstheorien vereinnahmen, sein Gesamtwerk aber ist eine erkenntnisbasierte Suchbewegung, die solche Simplifizierungen ausschließt. Verschwörungstheorien, gerade auch aus dem rechten Spektrum, bedienen Ängste und Opferhaltungen und arbeiten zudem meist mit einer Art von mystischem Sog, für den manche Anthroposophen anfällig sind. Wenn man sich darauf einlässt, läuft das am Ende auf Freiheitsverleugnung heraus.

Prof. Dr. Jost Schieren, Alanus Hochschule

 

Apokalyptisches Grundgruseln

Je jünger ein Kind ist, umso tiefer werden seine Beziehungen zur Welt von dem Vertrauen geprägt, das es in „seine“ Erwachsenen haben kann. Spätestens mit der Pubertät wird die Frage existenziell, wie sich auf diesem Fundament Vertrauen in das eigene Denken entwickeln kann. Welche Werkzeuge geben wir den jungen Menschen dafür in die Hand? Sie brauchen keine fertigen Weltbilder, sondern Menschen, die ihnen helfen, ihr Interesse, ja ihre Liebe zur äußeren Welt auf einer neuen Bewusstseinsstufe zu entdecken.

Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass es schon immer Verschwörungen gegeben hat und weiter geben wird. Verschwörungstheoretische Weltbilder aber wirken sich verheerend aus, weil sie die fatalistische Grundstimmung verbreiten: Ich bin das blinde Opfer von okkulten Strippenziehern, nichts ist, wie es scheint, aber wenn ich das erst einmal durchschaut habe, passt plötzlich alles wunderbar einfach zusammen. Das steht im krassen Widerspruch zur Waldorfpädagogik, deren Anspruch es ist, die jungen Menschen anzuleiten, aus eigenen Beobachtungen, Nachforschungen und Sachkenntnis unbefangen ihre Urteile zu bilden. Ein apokalyptisches Grundgruseln, das die Komplexität der Welt auf die Machenschaften verborgener Mächte reduziert, hilft niemandem, solide Grundkenntnisse über die Funktionssysteme unserer modernen Gesellschaft hingegen schon. Für den darauf gründenden Diskurs gibt es durchaus noch Nachholbedarf.

Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen

 

Fanatismus

Menschen, die Verschwörungstheorien vertreten, stellen sich meist als Fanatiker dar. Man kann an einem Daniele Ganser zwar einiges Interessante finden, seine Erklärungsmuster spitzen sich aber derartig zu, dass immer nur dieser eine Punkt gesehen wird. Die Frage, ob Kennedy wirklich nur von einem Täter ermordet wurde, wird bis heute diskutiert.

Wenn man aber bei jeder solcher Fragen sofort die CIA verdächtigt, ist das ebenso einseitig wie amtliche Erklärungen einseitig sind. Für die Lösung eines Problems braucht es immer viele Sichtweisen – und genau das macht ein Fanatiker nicht, sondern beißt sich an einer immer gleichen Erklärung fest.

Ramon Brüll, Geschäftsführer Info3 Verlag

 

Eindimensionale Welterklärungsmodelle

Im anthroposophischen Umfeld begegne ich immer wieder Vertretern der krudesten Ideologien: Holocaustleugnung, Theorien der Verschwörung durch Juden, Jesuiten, Bilderbergern oder Freimaurern, spirituell verbrämte Deutschtümelei und Bekämpfung des längst überholten Vorwurfs der deutschen Alleinschuld für den Ersten Weltkrieg, die „Chemtrail“-These und dergleichen mehr. Gemeinsamer Nenner solchen Denkens ist die faszinierte Fixierung auf „das Böse“ und sein Wirken in der Welt sowie die Auffassung des Weltgeschehens als einem von einer kleinen Gruppe manipulierten Marionettentheater. Und dies ausgerechnet im Kontext der Anthroposophie, die wesentlich der Entwicklung des freien Individuums und des selbstständigen Denkens gewidmet ist!

Solche Ideologien sind mit einer aufklärerischen Anthroposophie grundsätzlich nicht vereinbar, weder inhaltlich noch methodisch. Sondern sie missbrauchen einen Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen will, für ihre billigen und eindimensionalen Welterklärungsmodelle und Machtspiele. Für die verbohrten bis fanatischen Vertreter solch unsauberen, unredlichen und unanständigen Denkens und ihre suggestiven Methoden schäme ich mich vor der Welt. Mit diesen „terribles simplificateurs“ will ich nichts zu tun haben.

Dr. David Marc Hoffmann, Rudolf Steiner Archiv

 

Vergiftung des sozialen Klimas

Anthroposophen haben in den letzten 20 Jahren erfolgreiche Schritte getan, um aktiv an der offenen Gesellschaft mitzugestalten, in der wir leben: mit den vielfältigen Praxisfeldern, aber zunehmend auch mit den Beiträgen der Anthroposophie als Weltanschauung selbst. Bei allem Bedarf an weiteren Verbesserungen unserer Demokratie – zu denen ja nicht zuletzt anthroposophische Initiativen tatkräftig beitragen – teilen viele Anthroposophen ein grundlegendes Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit unserer offenen Gesellschaft durch zivilgesellschaftliches Engagement. Leider greifen manche Anthroposophen aber auch Vorstellungen einer von hintergründigen Strippenziehern geprägten Welt leichtfertig auf und beteiligen sich am Streuen von Gerüchten über einen gezielten „Bevölkerungsaustausch“ oder geheimdienstliche Attentate.

Solche Verschwörungstheorien vergiften das soziale Klima und bieten neo-autoritärem Populismus jeglicher Spielart einen Nährboden. Anthroposophische Plattformen wie das Online-Medium „Ein Nachrichtenblatt“ oder das Magazin „Der Europäer“ verbreiten (nicht selten verbunden mit neo-nationalistischen Einschlägen) Misstrauen anstelle differenzierter Kritik und schüren Manipulierungs-Ängste anstelle des Vertrauens in die rechtsstaatlichen Strukturen demokratischer Gesellschaften. Gerade wer einen tieferen Zugang zur Wirklichkeit sucht, darf auf solche Ablenkungsmanöver nicht hereinfallen.

Dr. Jens Heisterkamp, Zeitschrift Info3

 

Zur Kurzfassung dieser Stellungnahme im Info3 Blog.