Begegnet bin ich Rudolf Steiner zum ersten Mal durch behinderte Kinder und ihre Lehrer:innen und Betreuer:innen. Mein Interesse an Menschen mit geistiger Behinderung und ihrer Lebenssituation hatten mich die Ausbildung zum Psychiatrie-Pfleger beginnen lassen. Die Menschen faszinierten mich vom ersten Tag an, die dort angewandten Methoden stießen mich ab. Dann kam ich durch eine glückliche Schicksalsfügung in das anthroposophische Kinderheim Sonnenhof in Arlesheim in der Schweiz. Hier begegnete ich Kindern und auch Erwachsenen, deren Ausgangslage durchaus vergleichbar war mit manchen jener Menschen in der Psychiatrie. Sie lebten aber in einer komplett anderen Situation und die Menschen, die mit ihnen lebten und arbeiteten, gingen ganz anders mit ihnen um. Das war für mich das Schlüsselerlebnis.
Dieser andere Umgang hing zusammen mit der Anthroposophie, mit der sich alle dort Tätigen in je unterschiedlicher Art beschäftigten. Auch ich fing nun an, mich mit der Anthroposophie nach und nach vertraut zu machen. Nie habe ich jene Menschen wirklich verstanden, die versuchten, wie „er“ zu werden. „Er“ hatte uns doch unter anderem in der Philosophie der Freiheit gelehrt, dass jeder originär daran beteiligt ist, er oder sie selbst zu werden. Also handelte es sich dabei meines Erachtens um ein fundamentales Missverständnis, das die komischsten Blüten hervorbrachte – die in mir das Bedürfnis weckten, sie kabarettistisch zu verarbeiten. So entstand damals die „CabaRetorte Denger Dornach“. Mit Partner:innen und Kolleg:innen bespielten wir das ehemalige Dorfkino Felicia in Dornach, das mit roten Plüschsesseln und Last-picture-show-Atmosphäre ausgestattet war, mit dem Programm „Schicksal light“, später dann mit den Soloprogrammen „Die Gesamtsumme des Glücks“ und „Haben Sie auch Angst, unsterblich zu werden?“
Ich persönlich finde bei Rudolf Steiner viele anregende, auch großartige Gedanken. Mit manchem kann ich nichts anfangen, manches lehne ich ganz ab. Diese Leistung muss man als urteilsfähiger Zeitgenosse schon zu erbringen bereit sein – übrigens nicht nur bei Steiner. Das Positive überwiegt für mich bei Weitem. Wie sollte man sich auch sonst die Erfolge erklären? „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, das gilt auch hier. Natürlich ist nicht alles gelungen! Weder mir, noch der heilpädagogischen Bewegung, noch den Waldorfschulen, noch Rudolf Steiner selbst. Selbstverständlich ist manches auch kritikwürdig, auch ich selbst habe neben der Wertschätzung für meine Arbeit Einiges eingesteckt. Recht so, so ist das Leben. Wie denn auch sonst?
Eindrücklich habe ich als junger Waldorflehrer die imponderable Wirkung meines Aufnehmens von Anthroposophie mit den Kindern meiner ersten Klasse erlebt. Für meine persönliche Vorbereitung auf Michaeli hatte ich einmal die Michael-Imagination gelesen, die unter anderem vom makro- und mikrokosmischen Eisenprozess handelt, vom Eisen im Blut als Träger der Mut- und Tatkraft. Den Kindern hatte ich selbstverständlich nichts davon gesagt, vielmehr die Legende erzählt, wie Sankt Georg durch die Hilfe des Erzengels Michael den Drachen besiegt. Dazu haben die Kinder frei ein Bild gemalt. Einer meiner Schüler:innen malte einen Engel mit einem großen Herzen auf der Brust und vier kleinen Herzen an den Hand- und Fußgelenken. Ich beugte mich anerkennend über sein Bild und sagte: „Schön! Aber warum hat der denn so viele Herzen – und warum an den Gelenken?“ „Du hast doch gesagt, Herzengel Michael! Und das ist da, wo das Blut klopft.“ Für mich war das ein überzeugendes Beispiel dafür, dass das, womit wir uns innerlich beschäftigen, auch ohne Worte auf unsere Umgebung wirken kann.
„Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen“, so Rudolf Steiner. Danke für die Geist- und Wesensbegegnungen! Sie bereichern mein Leben.
Dieser Beitrag stammt aus der info3-Ausgabe März 2025.