Verzichten und Wachsen

Foto: Gab Pili/unsplash

Ein Aufruf zum Verzicht auf russische fossile Energie

Die letzten 30 Jahre im Westen sind drei Dekaden der verlorenen Möglichkeiten. Es gab immer wieder kurze Momente der Gelegenheit, in denen ein Fenster offenstand. Ein Fenster ins „Offene“: Heraus aus alten Mustern, hin zu einem kollektiven Entwicklungsschritt ins Neue. Um nur vier zu nennen:

  • Die Idee des „gemeinsamen Hauses Europa“ zusammen mit Gorbatschow Anfang der 1990 Jahre und vielleicht (oder auch nicht?) mit dem frühen Putin Anfang der 2000er Jahre.
  • Ein Zügeln des neoliberalen „Raubtierkapitalismus“, spätestens nach der Bankenkrise 2008.
  • Ein rechtzeitiges Gegensteuern gegen die Öko- und Klimakrise.
  • Corona als Mittel, mit Krankheitserregern nicht nur medizintechnisch, sondern auch ökologisch und sozial konstruktiv umzugehen: also unsere Lebensweise zu hinterfragen und uns dabei gegenseitig zuzuhören.

Aber wir haben es gesamtgesellschaftlich verbockt. Und ich glaube, auch wir „Alternativen“ können uns da nicht nur hinter der Gesamtgesellschaft verstecken. Jetzt aber scheint mir, als wäre inmitten des Leides, der Verzweiflung, des Mordens in der Ukraine nochmal ein Fenster aufgegangen, in dem wir handeln könnten: Ich glaube nämlich, dass es selten in der aktuell komplexen Weltsituation eine Fragestellung gab, die so eindeutig als „gut“ und richtig zu beantworten war wie die Frage, ob wir uns aktiv beteiligen sollten an einer Beendigung des Krieges des Putin-Regimes – ohne selber kriegerisch aktiv zu werden. (Aber auch ohne uns wohlfeil moralisch zu empören oder in unserer Verzweiflung gegenseitig zu sonnen.)

Die Antwort lautet: Ja, wir sollten es tun: Wir sollten auf russisches Öl/Gas/Kohle verzichten – so schnell wie irgend möglich!

Ein Embargo würde, das ist mittlerweile klar, der Kriegskasse Putins bis zu eine Milliarde Euro am Tag entziehen. Das täte Russland weh. Aber es täte auch uns weh. Denn es wäre nur mit einer deutlichen Einschränkung unseres Lebensstils und einer Wirtschaftsrezession zu haben. Man sollte deshalb nicht nur aus einer augenblicklichen Verzweiflung heraus dafür sein, sondern weiterdenken. Wenn ich dafür bin, sollte ich wissen, dass ich in den nächsten Jahren gefragt sein werde: in meiner Fähigkeit zu erklären, zu vermitteln, zu verzichten, zu moderieren, zu verstehen. Ich muss Widersprüche aushalten (innere und äußere) – und solidarisch mit den Ärmeren sein! Kurz: Ich werde gefragt sein in meiner Fähigkeit, politisch zu sein und geistig zu wachsen.

Wenn wir aber diese Haltung einnehmen könnten, gäbe es eine Chance, das Gute in einer Tiefe und Höhe voranzubringen, die einen fast schwindeln lässt:

  • Wir würden die Mitte und den Osten Europas beständig mit im Blick haben mit seiner reichen, bodenständigeren Kultur – und uns davon genauso inspirieren lassen wie wir es viele Dekaden mit der Kultur der USA gemacht haben.
  • Wir würden den neoliberalen Konsumismus verwandeln in eine fossilfreie nachhaltige Wirtschaft der Substanz – mit „Freiheitsenergien“.
  • Wir würden vielleicht noch eine Restchance haben, eine globale Ökokatastrophe  zu vermindern – alleine das wäre es wert!
  • Wir müssen viel mehr noch lernen, die andere Seite zu verstehen – ohne gleich zu verurteilen, aber auch ohne gleich in einen Scheinkonsens zu gehen.

Wir wären also über diese Themen mit der gegenwärtigen Realität in Kontakt – in Beziehung zu ihrer Tiefe und Höhe. Und damit auch in Beziehung mit uns. So könnten wir einen Verzicht ertragen, weil er sich gar nicht als solcher anfühlt.

Leicht wird es nicht werden – dafür aber stimmiger. Denn wir würden es ver-antworten. Wer ist dafür?!

Stefan Ruf ist medizinischer Leiter der Mäander Jugendhilfe bei Potsdam und Autor des Buches Klimapsychologie.

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