Wer beobachtet, wie Greta Thunberg ihren Weg geht, kann ihre Ruhe, Besonnenheit und ihren Mut nur bewundern. Kein Media-Berater steuert sie, sie selbst bestimmt die Choreografie ihrer Aktivitäten. Auf ihrer Facebookseite postet sie auf dem Weg zum Klimagipfel der Vereinten Nationen ein Bild von sich: Greta, verschmitzt lächelnd. Greta, wie wir sie kennen und mögen. Und dann hält sie eine Rede, die nun die „Wutrede“ genannt wird.
Während Greta den Alternativen Nobelpreis erhält, stolpern Medien und Menschen über diesen wütenden Auftritt. Ja, wir haben Greta bereits zuvor öffentlich weinen sehen. So wütend haben wir sie noch nicht erlebt. Und schon überschlägt sich die Welt in den sozialen Netzwerken, stimmen Sympathisanten wie Skeptiker einhellig in das Greta-Bashing ein. Die Presse türmt die Snapshots aus dieser kaum fünfminütigen Ansprache übereinander: Wer vor laufender Kamera weint und wütend ist, aufgeregt und kurzatmig, sieht nicht mehr hübsch aus. Kennen wir diese Greta noch? Wollen wir sie? Greta, so lese ich in den Kommentaren auf Facebook, habe ihre Souveränität verloren. Die innere Distanz. Greta sei unsachlich geworden. Das sei ja wohl nicht mehr ernst zu nehmen. Sie schade sich selbst. Greta sei nicht mehr sie selbst gewesen.
Stop. Und thanks for mansplaining. Denn – liebe alte weiße Männer – leider kommen diese Töne vor allem aus Eurer Richtung. Es ist allzu verständlich, dass die, die über Jahrtausende die Macht unter sich aufgeteilt haben, es schwierig finden, sich daran zu gewöhnen, dass da nicht nur eine 16-Jährige in einem unvorstellbaren Ausmaß politischen Einfluss gewinnt, sondern zudem die Freiheit besitzt, die Regeln nicht mitzuspielen, die Männer für die Öffentlichkeit gemacht haben. Die sich nicht zähmen lässt und nicht einsperren in einen Mythos, die nicht Ikone sein will, sondern ein lebendiger Mensch, die sich nicht vereinnahmen lässt von den Phantasien anderer, die nicht Hoffnungsträgerin für diejenigen sein möchte, die ihr selbst keine Hoffnung zu geben vermögen. Die sich weigert, für andere angenehm zu machen, was für sie selbst nicht angenehm ist. Ein Mensch, der sich aufregt, der weint und wütend ist. Und das soll nicht authentisch sein?
Was daran ist nicht nachvollziehbar, dass eine 16-Jährige, die Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat die immer gleichen wissenschaftlichen Befunde zitiert, weil diese skandalöserweise kein Gehör finden, die aus nachvollziehbarer Angst all ihre Kräfte für die Zukunft ihrer Generation und unseres Planeten einsetzt, die ihre Familie, ihre Schwester, ihre Schulkameraden, ihre Schule, ihr gewohnte Umgebung vermisst – dass diese 16-Jährige resümiert: „Alles ist falsch, ich sollte nicht hier sein.“ „Alles, worüber ihr reden könnt, ist Geld und das Märchen vom unendlichen Wirtschaftswachstum. Wie könnt ihr es wagen!“ Wer das nicht authentisch finden kann, hat möglicherweise einen eklatanten Empathiemangel, ist emotionaler Analphabet oder damit beschäftigt, eigene Ängste abzuwehren. Das alles ist möglich.
Welches Erscheinungsbild eine Frau zu zeigen hat, wenn sie sich wahrnehmbar machen möchte – darüber urteilen Männer gerne. Was für eine Anmaßung. Als gäbe es nicht viel zu viele Menschen, die zum Schaden aller Gefühlsarmut mit Distinguiertheit, Empathiemangel mit Überlegenheit und Respektlosigkeit mit Sachlichkeit verwechseln. Greta macht ernst mit dem Sein jenseits des Scheins. „My message is: We will be watching you.“ Sekunde 0 bis 5: Greta hatte die Lacher auf ihrer Seite. Dieses Lachen sollte uns schleunigst vergehen, wenn wir Menschen bleiben wollen auf dieser Erde: Wir sollten in der Lage sein, uns selbst wahrzunehmen, unsere Reaktionsmuster zu beobachten, zu reflektieren und angemessen zu handeln.