Über Jahrhunderte war klar: Tempel sind die wichtigsten Orte für die Menschen. Wichtiger als Wohnhäuser, Werk- und Sportstätten oder Märkte. Sicherlich hat der Stellenwert religiöser oder kultischer Tempel abgenommen, aber auch materialistische Kulturen haben ihre (Konsum)-Tempel, die in ganz unerwartetem Gewand daherkommen können. Die Weisheit und spirituelle Anbindung der Tempel droht dabei jedoch verloren zu gehen.
„Im Dastehen des Tempels geschieht die Wahrheit“, schrieb Martin Heidegger in seinem Aufsatz über das Wesen des Kunstwerkes. Genauer meint er damit: „Der Tempel gibt den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst.“ Tempel scheinen für Heidegger Welten zu öffnen, eine Behausung für die innerlichsten und wichtigsten Aspekte des Menschseins zu sein. Sie eröffnen diese Welten überhaupt erst, oder wie es Heidegger an anderer Stelle ausdrückt, sie „spenden Welt“ und sammeln zugleich das Potenzial der Umgebung, um diese mit Bedeutung aufzuladen.
Was muss so ein Tempel können? Für Heidegger ist seine existenzielle Dimension wichtig, er muss die Grundfesten des menschlichen Seins stimulieren: „Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall – dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschickes gewinnen.“ Ob ein Tempel aus Stein sein muss oder auch als imaginär-innerer Raum aufgespannt werden kann, ist eine berechtigte Frage. Fest steht: Ob Rosenkreuzer, Freimaurer, Bahai-Anhänger, Kabbalisten oder Templer, sie alle haben moderne Formen von Tempeln entworfen und geschaffen, egal ob Tempel als manifestes Bauwerk oder als innerer Symbolort gedacht werden. Einige von ihnen wollen wir etwas näher erkunden.
Der Stimme der Rose folgen
Für Rosenkreuzer – etwa bei der Schule des goldenen Rosenkreuzes – ist der Tempel in erster Linie kein äußerlich monumentales Bauwerk, sondern ein symbolischer Raum innerer Wandlung. Zwar existieren physische Tempelräume, in denen rituelle Arbeit stattfindet, doch diese dienen vor allem als Spiegel und Verstärker eines geistigen Prozesses. Der Tempel wird als Stätte der Einweihung und Selbsterkenntnis verstanden – ein Ort, an dem das Individuum sich selbst im Lichte höherer Prinzipien begegnet. So ist der Rosenkreuzer-Tempel weniger ein sakraler Ort im traditionellen Sinn, sondern vielmehr ein Raum für Transformation, in dem sich das Profane in das Bedeutungsvolle verwandeln kann. Der Rosenkreuzer-Tempel ist Landkarte und Labor zugleich: eine topografische Darstellung des menschlichen Bewusstseins, in der alchemistische Prinzipien, kabbalistische Strukturen, Farben, Zahlen und Himmelsrichtungen zu einer einzigen geistigen Choreografie verschmelzen. Im Zentrum steht der Gedanke, dass der eigentliche Tempel der Mensch selbst ist – oder präziser: der sich verwandelnde Mensch. Das Ritual im Tempel zielt nicht auf äußere Wirkung, sondern auf innere Erhebung. Die Stationen des Einweihungsweges werden nicht als chronologische Etappen verstanden, sondern als Bewusstseinsstufen, die in der Tiefe des Selbst erschlossen werden müssen. Darum ist der Tempel auch kein abgeschlossenes, dogmatisch durchformtes System, sondern eher ein offenes Gefäß, das sich mit dem fortschreitenden Verständnis des Schülers immer neu füllt.
Die Anthroposophie steht dem Rosenkreuzertum geistig nahe – nicht zuletzt, weil Rudolf Steiner selbst von einem rosenkreuzerischen Schulungsweg sprach, auf dem seine Geisteswissenschaft aufbaue. Doch sie modifiziert die Idee des Tempels fundamental. Das Goetheanum bei Basel etwa versteht sich als begehbares Denkorgan, als lebendiger Tempel des Geisteslebens – offen, dynamisch, im besten Sinne zugänglich. Während der Rosenkreuzer-Tempel ein elitäres Mysterienhaus bleibt, das sich nur dem vorbereiteten und schweigsamen Schüler öffnet, transformiert die Anthroposophie den Tempelbegriff in soziale, künstlerische und pädagogische Räume. Darum gibt es auch einen bunten Garten an blühenden anthroposophischen Praxisfeldern (Demeter-Rosen statt Rosensymbolen), was andere esoterische Schulen gar nicht leisten können und wollen.
Dennoch bleibt der esoterische Impuls der Rosenkreuzer auch in der Anthroposophie lebendig: der Gedanke, dass ein Tempel nicht aus Stein und Mörtel entsteht, sondern durch Erkenntnis, Hingabe und das Ringen um Wahrheit. Vielleicht sind es keine Bauten für die Ewigkeit, sondern Verwandlungsräume, durch die der Mensch hindurchgehen muss – als Schüler, als Pilger, als werdender Eingeweihter.
Salomos Tempel aus menschlichen Steinen
Ein bestimmter Tempel wird seit jeher als der Heiligste unter den Heiligen angesehen: Der Salomonische Tempel, also der erste fest gebaute Tempel Israels auf dem Tempelberg in Jerusalem. Rudolf Steiner sagt dazu: „Dasjenige, was die Geheimnisse des Salomonischen Tempels waren, ist mit einigen Ausnahmen fast restlos aufgegangen in all die maurerischen und andern Geheimgesellschaften der jetzigen Zeit.“ Die Freimaurer, die sich in der Tradition der mittelalterlichen Dombauhütten Anfang des 18. Jahrhunderts in Europa ausbreiteten, erkoren den Tempel Salomos zum zentralen Symbol ihres Logenlebens. Die Tempel der Freimaurerlogen, meist in ihren Logenhäusern zu finden, imitieren den Aufbau des Salomonischen Tempels, deuten ihn aber um zu einem „Tempel der Humanität“. Die Maurerei ist heute nicht wirklich handwerklich mit Stein und Werkzeug befasst, alles ist im übertragenen Sinne gemeint. Die Steine, aus denen der Tempel gebaut wird, sind die Menschen. Die zentralen Metaphern der Freimaurerei kreisen um Gestein und Licht, woraus die Kathedralen der Dombaumeister tatsächlich beschaffen waren.
Für Steiner bietet der Salomonische Tempel der Freimaurer ein gutes Verständnis des Alten Testaments, könne aber mit dem Aufkommen Christi nicht wirklich die heutige Welt wiedergeben. Er moniert überdies den formellen und äußerlichen Charakter der Maurerei. In penibler Abgrenzung distanziert er sich von inhaltlichen Verbindungen zwischen Freimaurerei und Anthroposophie. Vor allem geht es ihm wohl darum, Vorwürfen vorzugreifen, die die Anthroposophie nur als Ausfluss der Hochgradfreimaurerei sehen wollen.
Schwert, Tempel, Kelch – das verborgene Heiligtum der Templer
Der Tempelbegriff der Templer ist paradox. Einerseits verweist das Wort im Namen der Templer auf den vielbesungenen Salomonischen Tempel, andererseits ist der Tempel der modernen Templer ein unsichtbarer Ort, weniger ein Bau aus Stein als eine innere Festung des Geistes. Die heute existierenden Templerorden berufen sich auf eine kontinuierliche spirituelle Linie, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht, auch wenn historische Belege für eine ungebrochene Traditionslinie fehlen. Der Tempel ist hier nicht primär Ziel, sondern Weg und Methode, ein heiliger Raum, der durch Disziplin, ritterliche Tugend und mystische Übung entsteht.
Im Unterschied zu den eher symbolisch-philosophischen Tempelmodellen der Freimaurer oder Rosenkreuzer ist der Templer-Tempel gewissermaßen militant-esoterisch gefasst: Er ist ein Ort geistiger Wehrhaftigkeit und spiritueller Verteidigung der heiligen Mysterien. Der Templer ist Krieger im Innern, sein Tempel ein Feldlager der Seele im Kampf gegen Verfall, Materialismus und Vergessen. Äußere Rituale, die oft stark christlich oder gnostisch geprägt sind, bilden dabei nur die sichtbare Hülle einer tiefgreifenden mystischen Innerlichkeit, die an mittelalterliche Vorstellungen von Einweihung, Rittertum und göttlichem Auftrag anknüpft. Der Tempel entsteht im Moment der Weihe, der Gelöbnisformel, des rituellen Schwertzugs – aber auch im täglichen Vollzug eines spirituellen Lebens, das sich selbst als Dienst an einem unsichtbaren Königreich versteht.
In Deutschland existieren heute verschiedene Gruppen, die sich auf das Erbe der Templer berufen – teils christlich-humanitär wie der deutsche Zweig des Ordo Supremus Militaris Templi Hierosolymitani (OSMTH) mit mehreren Hundert Mitgliedern, teils esoterisch oder sogar magisch ausgerichtet wie der Ordo Templi Orientis oder kleinere Martinisten-Templerorden. Ihre genaue Mitgliederzahl ist schwer zu beziffern, da viele Gruppen nicht öffentlich auftreten und eine initiatorische Struktur haben, in der nicht jeder Eingeweihte als „Tempelritter“ gilt – hier scheint sich doch ein gewisser Elitismus erhalten zu haben. Seriöse Schätzungen gehen von insgesamt einigen Tausend Templern im deutschsprachigen Raum aus – verteilt auf verschiedene Strömungen, die sich teilweise gegenseitig ignorieren oder sogar ablehnen. Allen gemeinsam aber ist der Gedanke, dass der Tempel nicht in Jerusalem zu finden ist, sondern im Herzen des Menschen, der sich aufmacht, das Heilige in einer entzauberten Welt zu bewahren.
Sinnliche Tempel und der ganze Mensch
Bereits Novalis sah den menschlichen Körper als Tempel. „Es gibt nur einen Tempel in der Welt, und das ist der menschliche Körper. Nichts ist heiliger als diese hohe Gestalt.“ Mit dem Aufkommen der ökologischen Bewegung haben sich Gruppen herausgebildet, die den menschlichen Körper als Tempel verehren. Sie lassen das Heilige im Lebendigen zu seinem Recht kommen; nicht mehr der menschliche Geist oder die Seele allein, schon gar nicht der Mensch als rechtwinkliger Stein (wie in der Freimaurerei) qualifizieren sich zum Tempelhaften. Gruppen im Bereich des Neo-Schamanismus, wie Wicca oder der Gaia-Spiritualität sehen den Körper – vor allem den weiblichen Körper – als Ausdruck der „Großen Göttin“. Menstruation, Geburt, Lust und Alter werden hier als heilige Tempelrituale des Lebens gefeiert. Der Körper ist nicht sündig, sondern der eigentliche Altar der Naturkraft. Sehr eindrucksvoll ist auch die Arbeit der International School of Temple Arts (ISTA), wo sinnliche Körperlichkeit als Tempelarbeit gepflegt wird. Bei einem Workshop dieser Bewegung kann man praktisch lernen, wie man sich als Tier, als Mensch und als göttliches Wesen liebt. In großen Städten gibt es regelmäßige „Temple Nights“, also Tempelnächte, in denen rituell der Berührungen gehuldigt wird.
Besonders in Berlin beliebt ist auch die Church of Interbeing, die ein ganzheitliches und den Bedürfnissen der Zeit angepasstes Bild von Spiritualität lebt. Der „Tempel“ der Church of Interbeing ist nicht an einen Ort gebunden, sondern wird durch die bewusste Praxis des gegenwärtigen Moments, der Achtsamkeit und der Verbindung mit allem Lebendigen hervorgebracht. Tempel entsteht dort, wo achtsames Sein stattfindet – im Atem, im zwischenmenschlichen Kontakt, in der Natur oder im achtsamen Handeln. Statt eines rituellen Raumes im klassischen Sinn steht der lebendige Zusammenhang aller Wesen im Vordergrund, in dem sich das Heilige manifestiert.
„Jeder Tempel ist eine Brücke, eine Brücke zwischen Mensch und Gott, Menschheit und Göttlichkeit“, schreibt Wolfgang Held in Das Goetheanum. Dort heißt es aus der Feder von Henk Verhoog auch: „Die neuen Mysterien brauchen keinen äußerlichen Tempel. Dieser Tempel wird von den Menschen selbst, in Zusammenarbeit mit den geistigen Wesen, im Inneren erbaut.“ Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass der Mensch in seiner ganzen Lebensform ein Tempel sein kann. Nicht nur ökologisch, körperlich, nicht nur seelisch-geistig, sondern auch sozial und vor allem tätig. Letzteres schließt auch das Tempel-Errichten ein, egal ob aus Stein, aus Mitmenschen oder Worten.
Für Martin Heidegger war die Sprache das eigentliche Haus des Menschlichen und des Seins überhaupt, sein Heiligtum. Vielleicht sollten wir es wagen, in der Sprache heute so zu Hause zu sein, dass sie unser Leben erhebt, Trost spendet und Segen verspricht. In Heideggers Worten: „Die Sprache ist der Bezirk (templum), d.h. das Haus des Seins. Das Wesen der Sprache erschöpft sich weder im Bedeuten, noch ist sie nur etwas Zeichenhaftes und Ziffernmäßiges. Vom Tempel des Seins her denkend, können wir vermuten, was diejenigen, die manchmal wagender sind als das Sein des Seienden, wagen. Sie wagen die Sprache.“ ///
Dieser Beitrag stammt aus der info3-Ausgabe Juli/August 2025.



