Es mag pathetisch klingen, ist aber meine feste Überzeugung: Wir haben als Menschheit nur eine Überlebenschance, wenn wir begreifen, dass wir Teil eines großen Ganzen sind und als solcher unmittelbar mit allem verbunden. Es gibt keine Trennung, kein Innen und Außen, keine Grenzen, sondern nur ein Verzahnt- und Verwobensein ineinander.
Alles, was dazu dient, dieses „Interbeing“ erfahrbar zu machen, ist gelebte Spiritualität. Es geht darum, unmittelbar wahrzunehmen, durchlässig zu werden für die feinen Impulse und Schwingungen, sich berühren zu lassen von der dem Leben innewohnenden Schöpfungskraft. Die uns in unserer reichen Zeit offenstehenden Zugangswege zu diesem „All-Einen“ sind so vielfältig wie nie zuvor.
Spirituelle Erfahrungen in der Natur
Viele fühlen die Allverbundenheit besonders in der Natur. Gerade im Frühling fasziniert der den Pflanzen innewohnende Urantrieb des aus dem scheinbaren Nichts erneut Wachsens, Blühens und Reifens – unbeirrt von den Irrungen und Wirrungen, in die sich die Menschheit unbelehrbar immer wieder neu verstrickt. Wenn wir achtsam über Waldboden laufen, spüren wir, wie unter unseren Füßen das Leben in stetem Austausch pulsiert. Und wir können gar nicht anders, als das zu empfinden, was Albert Schweitzer so eingängig formulierte: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“
Auch Musik vermag uns so zu berühren, dass Tränen fließen und wir das Gefühl haben, im großen Klang aufzugehen und zu verschmelzen. Psychoimaginative Verfahren können ebenfalls unsere unmittelbare Wahrnehmung schärfen und uns in Kontakt bringen mit unserem innersten Wesenskern, der nichts anderes ist als das Göttliche selbst. So entdecke ich zum Beispiel in Wertimaginationen mir innewohnende Kräfte, die ich mir in meinem Alltag zu Hilfe rufen kann und dadurch erfahre, dass ich auch in schweren Situationen nicht allein oder unbehütet bin.
Einssein erfahren
Auch die vermeintlichen Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits erweisen sich als illusorisch, wenn etwa – wie ich es selbst erlebte – beim Holotropen Atmen mein Geist quicklebendig über meinem leblosen Körper schwebt und keinen größeren Wunsch hat, als mit den geliebten trauernden Menschen in Kontakt zu kommen und ihnen zu vermitteln, dass es mir so gut geht wie nie zuvor. Oder jemand entdeckt in der Aufstellungsarbeit, dass er stellvertretend für einen ihm unbekannten Menschen etwas wahrnehmen und empfinden kann. So entstehen heilig anmutende Momente einer unmittelbaren und unverlierbaren Erkenntnis.
Mit all diesen Beispielen geht es mir nur um eine Botschaft: Welchen Weg wir wählen, um die Allverbundenheit zu erfahren, bleibt uns selbst überlassen. Hauptsache, wir tun es! Was ich im Umkehrschluss unendlich schade finde, ist das Verplempern von so viel Lebenszeit vor dem Fernseher, im Internet oder beim „Überfliegen“ der verschiedenen Unsocial Media-Kanäle.
Mittelbar oder unmittelbar?
Selbst wenn es um kluge oder zumindest nicht völlig belanglose oder gar falsche Inhalte geht, gilt dafür doch: Alles, was wir auf diese Weise vermittelt bekommen, ist, wie der Begriff schon sagt, nur eine mittelbare Erfahrung und eben nicht unmittelbar. Erleben wir hingegen individuell und zutiefst persönlich die Verbundenheit von allem, wachsen wir immer mehr in einen Lebensstil hinein, der gar nicht anders kann, als Leben zu schützen und zu bewahren.
Noch einmal mit den Worten meines großen Vorbilds Albert Schweitzer: „Erlebt der Mensch seine Verbundenheit mit allen Wesen, so entspringt daraus die Nötigung zu einem ins Uferlose gehenden Dienen.“
Dieser Beitrag stammt aus der info3-Ausgabe Mai 2025.