„Einschlafen erfordert ein Loslassen“

Foto: Piotr Janus / Unsplash

Ein Gespräch mit Susanne Altenried von der Vereinigung der Waldorfkindergärten über die Bedeutung von Schlafen und Ruhen für Kleinkinder. Unser aktuelles Heft mit vielen weiteren Beiträgen über gesunde Kindheit erhalten Sie auch zum Weiterverteilen im Paket für 15 Hefte: Deutschland 36,00 € zzgl. 4,50 Euro Versandkosten direkt bei vertrieb@info3.de

Frau Altenried, Sie haben sich innerhalb einer Forschungsgruppe intensiv mit dem Thema Schlaf im Kindesalter beschäftigt. Welche Fragestellungen haben sich ergeben?

In der internationalen Zusammenarbeit wurde in den vergangenen Jahren immer deutlicher, dass das Thema global bewegt, dass das Thema Schlafen oft ein problematischer Punkt in den pädagogischen Einrichtungen ist. Es kamen Fragen auf: Müssen Kinder in der Kita schlafen? Wie oft müssen sie schlafen? Wenn die Eltern nicht wollen, dass die Kinder in der Kita schlafen, was machen wir dann? Als wir uns mit dem Thema beschäftigten, wurde deutlich, es geht nicht allein um das Schlafen, es geht ganz grundlegend darum, zur Ruhe kommen zu können. Es ist ein breites Feld und von Interesse sind nicht nur Schlafzeiten oder Lieder oder Rahmenbedingungen, sondern dass wir uns mit dem Wesen des Kindes und dem Phänomen des Schlafes auseinandersetzen.

Welche Bedeutung hat denn das Schlafen oder Ruhen im Kleinkindesalter?

Bei Rudolf Steiner findet man hauptsächlich Gedanken zum Schlaf der Erwachsenen. Da muss man differenzieren, denn der Schlaf der Kinder, vor allem im ersten Jahrsiebt, unterscheidet sich in gewisser Hinsicht vom Schlaf der Erwachsenen.

Ich glaube, wenn man ein Kind bekommt, gerade beim ersten Kind, dann merkt man, es gibt Bereiche, wo das Kind noch gar keinen Rhythmus hat, das ist die Ernährung, das sind in gewisser Beziehung sogar Blutkreislauf und Atemrhythmus – das muss sich auch erst konsolidieren – und das Prägnanteste ist das Schlafen. Die kleinen Kinder haben da meist noch keine Unterscheidung zwischen Tag und Nacht und haben sehr individuelle, oft noch unregelmäßige Rhythmen. Manche schlafen von Anfang an viel, manche sind eher wach. Und jetzt ist die große Herausforderung, wenn ein Kind Unbehagen äußert, wenn es weint, es gut verstehen zu können. Hat das Kind Hunger, ist es müde, ist es ihm zu warm oder zu kalt? Gerade bei den kleinen Kindern ist es nicht zu leicht zu erfahren, was liegt denn vor, Eltern und Kind müssen sich da erst „kennenlernen“. Bei kleinen Kindern äußert sich Müdigkeit eben oft ganz anders als im Erwachsenenalter.

Man muss da aufmerksam nachspüren. Ich glaube, dass wir gerade im Umgang mit Schlafen sehr schnell – und so erlebe ich das auch im Kontakt mit den Eltern – verunsichert sind. Und eine Atmosphäre der Unsicherheit erschwert das Einschlafen. Einschlafen erfordert ein Loslassen. Dafür braucht das Kind eine angenehme, vertraute Umgebung, körperliche und seelische Wärme und Wohlbefinden.

Die Gestaltung des Umraumes also, und der Schlaf selbst?

Die Bedeutung des Schlafes für die kleinen Kinder ist unglaublich groß. Die zentralen Bereiche der Entwicklung wie Lernen, Gedächtnisbildung, auch die körperliche Reifung oder Heilungsprozesse, auf seelischer Ebene die Verarbeitung – das alles braucht den Schlaf. Wenn das Kind älter wird, geschieht das hauptsächlich im Nachtschlaf, aber der Tagschlaf bleibt wichtig für die Regeneration. Kinder sind umgebungsoffen, erleben intensiv, sodass sie diese Ruhe- und Schlafphasen brauchen – da ist die Schlafforschung einig. Mit Besuch einer Kita brauchen sie eher wieder mehr Schlaf, denn der Kita-Alltag ist sehr herausfordernd, da haben sie sehr viele Eindrücke. Während der Wachphasen bauen sich Cortisol und Adrenalin (sogenannte Stresshormone) auf, die sich während des Schlafens wieder abbauen können. Schlaf hat also einen direkten Einfluss auf den Cortisolspiegel und damit auf die Gesundheit.

Geht uns ein gesunder Umgang mit dem Ruhen und Schlafen immer mehr verloren?

Ich glaube, dass wir zum Teil ein schwieriges Verhältnis zum Schlaf haben. Dass Eltern vielleicht denken: Wenn mein Kind schläft, dann erlebt es ja nichts. Oder: Es verpasst etwas, wenn es in der Kita schläft. Die Pädagog*innen dagegen sehen die Notwendigkeit der Ruhe und Pause. In den Einrichtungen entsteht da mitunter ein Spannungsverhältnis. Alle Eltern wollen das Beste für ihr Kind und dann gibt es die Erwartung: Mein Kind geht in die Krippe, in den Kindergarten, das soll eine erlebnis- und lernreiche Zeit sein. Und es soll die Zeit doch nicht verschlafen, dann hat es ja nichts davon! Aber dass die zentralen Entwicklungsmomente im Schlaf passieren, das ist häufig aus dem Blick geraten. Wo sind wir denn, wenn wir schlafen? Dieser Bereich einer geistigen Welt, der ist vielen Menschen vielleicht nicht mehr zugänglich, aber es ist wichtig, auch die tiefe Bedeutung des Schlafes verstehen. Schlafstörungen und Schlaflosigkeit sind ja eine der zentralen Zivilisationskrankheiten. Ich finde, das sagt sehr viel – das hat auch mit dem Tagesgeschehen zu tun. Wir leben in einer überwachen Gesellschaft.

Das ist eine große Herausforderung, den Spagat zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen und den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder zu meistern.

Das ist natürlich eine Herausforderung für die Kolleg*innen. Es ist wichtig, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen, um zu wissen, mit welchen Erfahrungen, mit welcher „Schlafbiografie“ kommt das Kind denn in die Einrichtung? Wie lange ist es in der Einrichtung und was für ein Schlafbedürfnis hat es denn? Gerade in diesem Alter, zwischen vier und sechs Jahren, ist das individuell sehr unterschiedlich. Das Ziel ist ja nicht, die Kinder zum Schlafen zu zwingen, sondern in einem guten Rahmen zu gewährleisten, dass Erholung und Regeneration möglich sind.

Tauschen Sie sich dann auch im Kollegium über die eigenen Schlafbiografien aus?

Ich glaube, dass das unbedingt notwendig ist. Denn im Unterbewussten sind da vielleicht Ängste, positive und negative Erfahrungen oder auch Erwartungen. Es ist wichtig, sich damit zu befassen, auch für die Eltern. Die Eltern müssen auch loslassen können, das Kind vertrauensvoll dem Schlaf und sich selbst überlassen. Ich verstehe, dass es für viele Eltern nicht einfach ist, diesen sensiblen Prozess einer Erzieherin zu übertragen.

Haben Sie den Eindruck, dass in Bezug auf den Schlaf der Kinder der Bedarf an Hilfe zugenommen hat?

Ja. Dazu gibt es viele Ratgeber und auch Schlafambulanzen und Schlafsprechstunden an Kinderkliniken, wo verzweifelte Eltern Hilfe bekommen können. Unser Anliegen in dieser Hinsicht ist, keine Rezepte, Anleitungen, Regeln zu geben, sondern Anregungen, um sich für sich selbst und miteinander mit dem Phänomen des Schlafes und dem Wesen des Kindes auseinanderzusetzen, nicht um schnelle Antworten zu finden, sondern um überhaupt erst einmal in einen aufmerksamen Wahrnehmungsprozess zu kommen und ein positives Verhältnis zum Schlafen zu entwickeln. Ich rate Eltern gerne, sich einfach mal an das Bett zu setzen und zuzusehen, wenn das Kind schläft. Das wirkt befriedend und kann viel lösen. ///

Das Interview ist erschienen im Themenheft “Gesunde Kindheit” der Zeitschrift info3 mit Beiträgen zu Medien und Erziehung, Ernährung für Kinder und differenzierten Informationen zur Grippeimpfung. November 2020, hier für € 5,80 direkt bestellen.

Susanne Altenried ist Waldorferzieherin, Fachberaterin, Dozentin am Seminar für Waldorfpädagogik und Erwachsenenbildung München und im Arbeitsfeld Forschung und Geisteswissenschaft der Vereinigung der Waldorfkindergärten tätig. Die Mitglieder des Arbeitsfeldes beschäftigen sich mit den Grundlagen der Waldorfpädagogik im Hinblick auf aktuelle Fragestellungen. In diesem Zusammenhang ist die Broschüre zum Thema Ruhen und Schlafen entstanden, die ab November 2020 über die Website der Vereinigung der Waldorfkindergärten bezogen werden kann.

Über den Autor / die Autorin

Silke Kirch

Dr. Silke Kirch ist promovierte Geisteswissenschaftlerin, Lebens- und Sozialkünstlerin und lebt in Frankfurt am Main.