Der 13. Band der Reihe Kunst Sehen ist Francis Bacon und Cy Twombly gewidmet, zwei Künstler, die auf den ersten Blick wenig miteinander verbindet. Dennoch: Nicht allein haben wir es beiderseits mit Werken zu tun, die alles, was wir der abendländischen Ästhetik entsprechend als schön empfinden – das Maßvolle und Ebenmäßige – über Bord werfen, wir entdecken Bilder, die auf je eigene Weise das Marginale der ungerichteten Erfahrung ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen, obgleich es sich nicht abbilden lässt.
Ins Bild gerät, was uns selbst kaum zugänglich ist: was mehr mit dem Werden und Entstehen, mit der Prozessualität als Lebensgrundlage inklusive ihrer abstoßenden, unförmigen, unabgeschlossenen Seiten zu tun hat als mit dem (Vor-)Gebildeten. So wird Wahrnehmung als Widerstreit zwischen Anziehung und Abstoßung, Erkenntnisinteresse und Unkenntlichkeit erfahrbar.
Auf die Leinwand kommt das Jenseits des Abbilds: Ist es bei Bacon der Umraum, der ungestalte Leiber hervorbringt, ohne sie eindeutig zu definieren, so ist es bei Twombly der Bildraum als flüchtig beschriebene Oberfläche, die Sinnzusammenhänge ahnen lässt – beide versetzen nicht zuletzt den Raum zwischen Betrachtenden und Bild in Bewegung und fordern die Beziehungsfähigkeit jenseits der gewohnten Ästhetik heraus.
Das unabgeschlossene Vorgängige selbst, die Fluktuation der Bedeutung wird zum Thema und bringt etwas Unverfügbares in die Erfahrung, das in den Werken mitschwingt, ohne selbst bezeichnet werden zu können: Überschreitungen sind der Urgrund der Bildeprozesse, letztlich Metaphysik.
Diese auf 20 Bände ausgelegte Edition geht auf eine viel beachtete öffentliche Vorlesungsreihe zurück, die Professor Michael Bockemühl Anfang der 1990er Jahren im Saalbau Witten hielt. In seinen Diavorträgen nimmt der Redner gemäß seinem Credo: „Der Künstler ermöglicht, was der Anschauende verwirklicht“ sein Publikum gleichsam bei der Hand und führt es zu den einzelnen Kunstwerken hin. Dabei werden weder Spekulationen über ihre möglichen Bedeutungen angestellt, noch abstrakte Theorien über das Sehen geschmiedet, vielmehr feiert der Autor ein „Fest für das Auge“: Mit Witz und methodischer Konsequenz versteht es der passionierte Wahrnehmungsforscher die Aufmerksamkeit auf die durch nichts anderes als durch das Kunstwerk eröffneten Anschauungsmöglichkeiten zu lenken.
Die Bände werden herausgegeben von Dr. phil. David Hornemann v. Laer (Fakultät für Kulturreflexion / Studium fundamentale) in Zusammenarbeit mit Birgit Bockemühl sowie Studierenden an der Universität Witten/Herdecke.
Michael Bockemühl
Francis Bacon, Cy Twombly
Band 13 der Reihe “Kunst sehen”
1. Auflage 2022, 100 Seiten im Katalogformat, Klappenbroschur
€ 16,80
ISBN 978-3-95779-075-0
Michael Bockemühl war Kunstwissenschaftler, Hochschullehrer, Vortragsredner und Berater großer Unternehmen. In jüngeren Jahren war er als Waldorf- und Sonderschullehrer tätig, später bei der GLS Bank in Bochum. Ab 1985 arbeitete der vierfache Familienvater eine Zeit lang als Kulturmanager für die Anthroposophischen Gesellschaft, bevor er 1990 an die Universität Witten/Herdecke berufen wurde.