Einladung zum Sympoetisieren

Ein Buch, das der Poesie gewidmet ist, scheint zunächst wie aus der Zeit gefallen. Doch bald zeigt sich, wie aktuell das Anliegen von Mike Kauschke ist. Der Autor stellt nämlich die Poesie unserer rationalistisch dominierten Zeit gegenüber, in welcher er das Prinzip eines „behaglichen Überlebens“ am Werk sieht, einen Mangel an wirklicher Nähe, der auch durch einen Überfluss an elektronischer (Schein-)Kommunikation verursacht ist. Im Austausch mit Positionen zeitgenössischer Denker wie Gernot Böhme, Byung-Chul Han (Die Errettung des Schönen) oder mit dem Resonanz-Forscher Hartmut Rosa versucht er, dem schöpferischen Zauber der Dichtung auf die Spur zu kommen.

Mike Kauschkes eigener Weg schien wahrlich nicht auf ein Leben mit Poesie ausgerichtet. Aufgewachsen in einer Plattenbausiedlung der DDR erinnert er sich an ein „Lebensgefühl, dem man versucht hatte, die Sehnsucht auszutreiben“. Trotzdem hat Kauschke den Romantiker in sich finden und freisetzen können. Nicht zufällig wählt er einen Ausgangspunkt seiner Überlegungen im legendären ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus. Darin haben einst Hölderlin, Schelling und Hegel gemeinsam die Dichtkunst als „höchsten Akt der Vernunft“ bezeichnet, der alle Philosophie und alle Wissenschaften überleben wird – ein Programm, das in den Worten des Autors „die Vereinigungskraft der Schönheit“ feiert.

Poesie also nicht als Ausnahmefall, sondern als tiefe Lebensform. In der Art, diese Lebensform zu beschreiben, versucht das Buch dann unweigerlich auch selbst poetisch zu sein. Mike Kauschke setzt dabei hohe Vergleichsmarken, tritt ins Gespräch mit Vorbildern wie Novalis, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, Rilke und Trakl. Kauschkes eigene, oft mehr aphoristische Beschreibungen fließen meist weich und gefühlsbetont dahin, was manch einem hier und da auch etwas zu sanft erscheinen mag. Das Gute aber: Ein Anspruch auf große Kunst wird hier weder formuliert noch muss er eingelöst werden, viel schöner ist, dass der Autor sich auf jeder Seite grundlegend ehrlich in seinem eigenen Bemühen zeigt, auch mit immer wieder eingestreuten biografischen Episoden, etwa von seinen Erfahrungen als Hospiz-Mitarbeiter mit Sterbenden: „Und wenn der Moment kommt, wo sich im letzten Atemzug das Leben aushaucht, spüren wir, dass dem Gehenden etwas entgegenkommt oder dass er in etwas hineingenommen wir. Oft liegt ein Leuchten im Raum.“

Gerne lässt man sich so vom Autor in verschiedenste Situationen mitnehmen, in denen die poetische Schicht der Welt anklingt. Und praktisch auf jeder Seite des Buches werden wir an das meist überdeckte poetische Vermögen in uns selbst erinnert, werden wir wachgerufen für die tiefere, wahre Wirklichkeit. Wir beginnen gleichsam mit dem Autor zu sympoetisieren – die vielleicht schönste Wirkung, die von einem Buch ausgehen kann.

Mike Kauschke: Auf der Suche nach der verlorenen Welt. Eine Reise zur poetischen Dimension unseres Lebens. Verlag J. Kamphausen 2022, 272 Seiten, € 26,-.

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.