Anthroposophie in der NS-Zeit: Fragwürdiger Kurs in schwieriger Zeit

Von links: Matthias Niedermann, Wolfgang Müller, Michael Blume

Am 1. November 1935 wurde die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland von den Nationalsozialisten verboten. Aus diesem Anlass gab es nun genau 90 Jahre später in Stuttgart eine Gedenkveranstaltung, organisiert von der Anthroposophischen Gesellschaft. Einblicke in eine widersprüchliche Zeit.

Die NS-Führung hatte den Gegensatz der Anthroposophie zu ihrer eigenen, auf Volk und Rasse gebauten Weltanschauung deutlich erkannt, betrachtete die international-menschheitlich ausgerichtete Lehre Steiners als Gefahr und untersagte jede weitere Wirksamkeit. „Die Nationalsozialisten haben damals diese Unvereinbarkeit teilweise klarer gesehen als viele Anthroposophen selbst“, bemerkte der Autor Wolfgang Müller, der zu den Beitragenden der Veranstaltung in Stuttgart gehörte. Ein historischer Kronzeuge für diese Auffassung war Hans Büchenbacher, zum Zeitpunkt der Machtübernahme Hitlers Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland. Als „Halbjude“ war er bald den Erwartungen seiner anthroposophischen Kollegen gefolgt und von seinem Amt zurückgetreten, um Schaden von der Anthroposophischen Gesellschaft abzuwehren. Büchenbacher emigrierte in die Schweiz und hat in seinen Erinnerungen, die erst viele Jahre nach seinem Tod erschienen, eine bittere Bilanz gezogen: Rund zwei Drittel der damaligen Mitglieder seien auf Hitler hereingefallen und hätten den „antichristlichen“ Charakter des Nationalsozialismus nicht durchschaut.

Zwischen Naivität, Distanz und Kollaboration kam es in der NS-Zeit bei Anthroposophen zu vielen Zwischenstufen wie in der Gesamtbreite der Bevölkerung auch. Im Rahmen der Stuttgarter Veranstaltung rückte exemplarisch die Rolle der biologisch-dynamischen Landwirtschaft in den Vordergrund. Ihre Rolle in der NS-Zeit war auch Gegenstand einer ausführlichen Studie, die im vergangenen Jahr von einem Historiker-Trio vorgelegt wurde (Die biodynamische Bewegung und Demeter in der NS-Zeit. Akteure, Verbindungen, Haltungen). Die anwesenden Autorinnen Meggi Pieschel und Susanne zur Nieden erläuterten, wie damals einige Vertreter des NS-Regimes lebhaftes Interesse am biodynamischen Anbau zeigten. Der biodynamische Ansatz schien manchen nicht nur ideologisch als naturnaher Anbau sympathisch, sondern auch konkret nützlich in Bezug auf die Unabhängigkeit von chemischem Dünger gerade in Kriegszeiten. Im Blick auf die geplante Besiedelung der eroberten Ostgebiete wirkte das Prinzip der Hof-Autarkie attraktiv. Die damalige Demeter-Führungsebene sah diese Situation als Chance und bot ihre Kooperation auf verschiedenen Ebenen an – aus heutiger Perspektive ein eher fragwürdiger Kurs.

Es war Himmler persönlich, der aus eigenem Interesse dann für das KZ in Dachau sogar die systematische Erforschung des biologisch-dynamischen Ansatzes anordnete und dafür geeignetes Personal suchte. Es fand sich vor allem in Gestalt des ehemaligen Weleda-Gärtners Franz Lippert. Wie dieser für die Arbeit in Dachau sogar SS-Mitglied wurde und noch ein gutes Dutzend weiterer Anthroposophen anwarb, hat kürzlich die Historikerin Anne Sudrow in einer ausführlichen Studie über die Anbau- und Menschenversuche im KZ Dachau dargestellt (Heil.Kräuter.Kulturen. Die SS, die ökologische Landwirtschaft und die Naturheilkunde im KZ Dachau). Auf der Suche nach den Motiven, die Lippert und seine Kollegen bewogen haben mochten, antwortete Susanne zur Nieden, es sei wohl vor allem die Sorge gewesen, der biodynamische Impuls könne ohne Mitwirkung von Anthroposophen von seinem Ursprung losgelöst und verfälscht werden. Die unmenschliche Umgebung ihrer Arbeit in einem KZ hat sie offenbar nicht gestört. Insbesondere Lippert hat auch nach Kriegsende nie ein selbstkritisches Wort zu seinem Engagement in Dachau verloren.

Nicht in allen das KZ Dachau betreffenden Details, wohl aber, was die unterschiedlichen Phasen der Kollaboration (und Verfolgung) während der NS-Herrschaft betrifft, ist dieses Thema bereits in der oben genannten Studie von Ebert, Pieschel und zur Nieden ausführlich dargestellt worden (info3 berichtete). Nicht ihre Studie aber, sondern das Buch von Anne Sudrow hat kürzlich zu breiter medialer Beachtung geführt, weil ein Spiegel-Artikel die in der Person Lipperts gegebene Verbindung zwischen Dachau und der bekannten Weleda in den Focus gerückt hat. Verstärkt wurde der aufmerksamkeitswirksame Eindruck durch die Tatsache, dass das Unternehmen Weleda an den ebenfalls in Dachau tätigen Arzt und SS-Offizier Sigmund Rascher eine größere Menge ihrer Frostschutzsalbe geliefert hatte. Aber auch diese Fakten waren zuletzt in der großen, zweibändigen Studie von Peter Selg, Matthias Mochner und Susanne Gross (Anthroposophie und Nationalsozialismus. Band 1 Die Ärzteschaft, Band 2 Weleda und Wala) bereits minuziös dargestellt worden. Am Rande der Veranstaltung wurde daher auch die eigenwillig anmutende mediale Aufmerksamkeitslogik diskutiert, die Studien allein deshalb in ihrer Bedeutung herabstuft, weil sie (wie die Demeter-Studie) von einem betroffenen Verband beauftragt oder wenn sie gar direkt von Anthroposophen wie Selg und anderen erarbeitet wurden. Ihre monumentale zweibändige Aufarbeitung der Anthroposophischen Medizin in der NS-Zeit sei bisher medial komplett ignoriert worden, erzählte Selgs Forscherkollege Matthias Mochner.

In einem abschließenden Podium schlug Moderator Matthias Niedermann den Bogen zur Gegenwart und wollte von seinen Dialog-Gästen wissen, was nun aus den Erfahrungen der NS-Zeit für die Zukunft zu lernen sei. Für Michael Blume, den Beauftragten der Stuttgarter Landesregierung gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben, war zunächst vor allem die ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wichtig. Hier stellte er fest, dass für ihn bei Steiner als Gründungsfigur der Anthroposophie zwar rassistische und auch antisemitische Äußerungen vorlägen; er halte Steiner aber eindeutig nicht für einen Rassisten beziehungsweise Antisemiten, und dazu stehe er auch, wenn er im Rahmen seiner Tätigkeit auf die Anthroposophie angesprochen werde. Den Umgang mit diesen Themen innerhalb der Anthroposophie wünschte er sich allerdings noch offensiver. Wolfgang Müller, der zuletzt ein Buch über Steiner im Kröner Verlag vorgelegt hat, fand sich mit Michael Blume in der Überzeugung: „Wir haben immer eine Wahl“. Das habe damals im Blick auf eine Kollaboration mit dem Nationalsozialismus gegolten und es gelte auch heute für manche Herausforderungen des Zeitgeschehens. Blume erinnerte dabei auch an den Auftrag der Bildung, die Fähigkeit zum Übernehmen von Verantwortung gerade auch an jüngere Menschen zu vermitteln – eine Aufgabe, die sicher auch von der Waldorfpädagogik gesehen wird.

Am Ende zeigte sich, dass das Nachdenken über Schattenseiten der Anthroposophie inzwischen unaufgeregt und sachlich geworden ist. Der Dialog von professionellen Historikern und anthroposophischen Forschern findet auf Augenhöhe statt. Allein ein paar Zuhörende mehr hätte man der hochkarätigen Veranstaltung im Stuttgarter Rudolf Steiner Haus gewünscht.

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.