Herr Vahle, eine Ihrer Spezialitäten ist die Betrachtung von Pflanzengesellschaften. Wie schauen Sie in die Landschaft?
Ich würde sagen, ich lese sie beim Betrachten. Ich sehe Flächen, Muster und Farben – und das meiste davon sagt mir etwas, da ich es schon mal aus der Nähe betrachtet habe. Wiesen, Hecken, Äcker und vieles andere mehr sind mir also sehr vertraut. Vor allem sehe ich, was nicht stimmt. Vor mein sinnlich wahrgenommenes Bild schiebt sich ein Visionsbild, wie es dort eigentlich aussehen müsste.
Bevor sie erklären, wie Sie zu dem Urteil kommen, dass mit einer Landschaft etwas nicht stimmt, möchte ich gerne wissen, wie viele typische Flächen Sie überhaupt entdecken können?
Innerhalb von Mitteleuropa kann ich rund hundert verschiedene Flächen aus dem fahrenden Zug heraus identifizieren. Wenn ich in der Rheinaue oder in der Schwäbischen Alb oder im Harz unterwegs bin, weiß ich, dass dort jeweils andere Rahmenbedingungen für Pflanzen vorliegen, und dementsprechend gibt es andere Pflanzengesellschaften und auch andere Stimmungen von Flächen. Das Wissen über geologische Räume spielt eine wesentliche Rolle, um Landschaften differenziert betrachten zu können. Ebenso haben die Jahreszeiten eine Bedeutung für das schnelle Bestimmen von Pflanzenarten. Von den ansonsten schwer bestimmbaren Doldenblütlern blüht im Mai der Wiesenkerbel, im Juni der Giersch und im Juli dann der Bärenklau.
Brauche ich all diese Informationen, um zu beurteilen, ob eine Landschaft schützenswert, pflegebedürftig oder kerngesund ist?
Für die Antwort muss ich hier den Typusbegriff einführen. In der Pflanzensoziologie spricht man vom Idealtypus einer Pflanzengesellschaft, der sich aufgrund der Artenkombination und seines visuellen Erscheinungsbildes bestimmen lässt. Beispielsweise blüht die für unsere Landschaften charakteristische Glatthaferwiese im Mai idealerweise sehr bunt. Gelb, weiß, blau oder bläulich-lila. Wenn ich nur noch Gelb und Weiß, aber keine blauen und lilafarbenen Pflanzenarten sehe, die für die Glatthaferwiese typisch sind, dann zeigt das bereits die erste Degenerationsstufe an. Die letzte Stufe wäre eine rein grüne Fläche. Ich gleiche eine Landschaft immer mit dem Idealtypus ab. Daraus ergibt sich sofort der Handlungsbedarf. Wenn ich als Berater gefragt bin, kann ich den Idealtypus als Leitbild für die praktische Umsetzung nehmen. Auf dem Demeter-Betrieb Hof Sackern in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel konnten wir den Idealtypus der kräuter- und blumenreichen Glatthaferwiese als gesunde Heuwiese wieder etablieren. Auch der lila Farbton ist jetzt wieder vertreten, durch zahlreiche Witwenblumen.
Was ist wichtig, um Pflanzen und Pflanzenflächen lesen zu lernen?
Zunächst braucht es Interesse. Dann können LehrerInnen hilfreich sein, die an die Pflanzen- und Vegetationskunde heranführen. Ich biete auch eine Ausbildung an, die in mehreren Stufen verläuft. Den Einstieg bildet ein Feldbotanikkurs, in dem die TeilnehmerInnen draußen im Feld Kenntnisse über Pflanzenarten ausbilden, ohne Buch und Labor.
Die zweite Ausbildungsphase nennt sich dann Pflanzensoziologie. Hier wird eine Wahrnehmungsart ausgebildet, die es in den klassischen Ausbildungen in der Botanik noch nicht gab. Als die Pflanzensoziologie in den 1920er bis 1930er Jahren in Europa am Aufkeimen war, konnten viele der alten BotanikerInnen noch keine Pflanzengesellschaften in den Blick nehmen, sondern nur einzelne Arten. Noch heute sehen die meisten Menschen normalerweise einzelne Pflanzen nebeneinander. Die Pflanzensoziologie lehrt uns aber, in der Fläche zu sehen. Dazu schwenke ich meinen Blick um 90 Grad und schaue horizontal in die Landschaft, egal ob in die Ferne oder direkt vor die Füße. Auf die Weise sehe ich ein Patchwork von unterschiedlichen Flächen. Dabei bewerte ich zunächst nicht, was ich sehe. Diese Fähigkeit kann übrigens auch in anderen Bereichen hilfreich sein, zum Beispiel im Sozialen. Warum ist das aber so ungewohnt? Weil wir gerne ein „Du“ als Gegenüber haben. Wir können beispielsweise einen Baum umarmen oder eine Rose lieben, sehen eine Glockenblume hier, ein Löwenzahn dort, dazwischen Gras. Diese Einzelbetrachtungsweise ist im Menschen tief verankert. Für die pflanzensoziologische Arbeit gebe ich nun den Wunsch auf, ein Du sehen zu wollen und begegne der ausgebreiteten Pflanzendecke – etwa der Wiese – mit der gleichen Empathie wie dem Du.
In der dritten Ausbildungsphase geht es um die Angewandte Pflanzensoziologie, die dringend für eine zukünftige Landschaftsentwicklung gebraucht wird.
Welchen Nutzen haben wir von dieser Art von Arbeit?
Zunächst ist es ein seelischer Prozess oder vielmehr eine Erkenntnisfähigkeit, sich von Einzelheiten zu lösen und eine Ganzheit in den Blick zu bekommen. Dann kann ich Landschaft lesen lernen: Ein Dunkelgrün in der Ferne zeigt mir dann, dass es dort feucht ist, ein blühender Buckel mit Blau weist wahrscheinlich auf einen eher mageren Untergrund mit Steinen hin. Über Klima, Geologie, Boden, Nutzung oder vorangegangene Hochwässer kann ich Aussagen machen, wenn ich Vegetationsflächen betrachte. Wenn ich meine Brille abnehme, sehe ich keine Pflanzenindividuen, keine Strukturen mehr, sondern nur noch Farben und Schichten. Wer nicht kurzsichtig ist wie ich, kann auch seine Augen zusammenkneifen und hat ein ähnliches Ergebnis.
Wie findet Ihre Arbeit praktische Verwendung?
Ein Großteil meiner praktischen Arbeit liegt in der Beratung und Entwicklung landwirtschaftlicher Höfe. Das Ziel ist letztendlich, die Hoflandschaft mithilfe der Pflanzensoziologie und der Gestaltbiologie als Landschaftsorganismus zu entdecken – mit Stoffwechselsystem, rhythmischem System und Nerven-Sinnessystem, wie Rudolf Steiner das auch beim Menschen beschreibt. Das ist ansatzweise schon in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft verankert, sodass man mit diesem Konzept ohne viele Umstände „einsteigen“ kann. Nach diesem dreigliedrigen Organismus-Konzept kann man leicht sehen, was dem Landschaftsorganismus zur Gesundheit fehlt. Daraufhin überlege ich, mit neuen Pflanzenkompositionen gestalterisch auf die Vier-Elemente-Dynamik einzuwirken, um beispielsweise Einseitigkeiten auszugleichen.
Wie ist denn so ein Hoforganismus nach dem dreigliedrigen System genau aufgebaut?
Alle drei Organsysteme sollten im Idealfall um den Hof herum zu finden sein. In der ersten Zone, direkt am Hof angrenzend, gibt es Fettweiden mit Hühnern, Schweinen und Kälbern auf der einen, Gemüseanbau auf der anderen Seite. Das sind intensive Nutzungsflächen, wo viele Nährstoffe zirkulieren und viel Arbeit geleistet wird, das ist das Stoffwechselsystem. Da wird gedüngt und gehackt. In der nächsten Zone finden wir Äcker und Wiesen. Ein Getreidefeld wächst sehr hoch und wird dann gemäht, eine Wiese wird zweimal im Jahr auch bis auf die Stoppeln abgemäht. So einen ausgeprägten Rhythmus finden wir so nirgends in der Hoflandschaft. Das entspricht also dem rhythmischen System. Die dritte Zone ist bei vielen Landwirten noch nicht so im Bewusstsein, weil sie denken, wir brauchen kein Ödland, sondern nur fruchtbare Böden. Das ist aber einseitig gedacht, denn wir brauchen die Magerrasen, die nicht gedüngt werden, als äußeres System, als Nerven-Sinnessystem. Dort herrscht eine unglaubliche Artenvielfalt mit Heilpflanzen und Kräutern. In diesen Pflanzengesellschaften zeigen sich die feinsten Unterschiede der Landschaft. Ist es Nord- oder Südhang, auf Kalk, Lehm oder Sand? Ist es feucht, trocken oder frisch? Die Vegetation setzt ins Bild, was an Qualitäten in der Landschaft vorhanden ist – und das macht so nur die Magerrasen-Vegetation! Die Pflanzen in diesem System dienen als Heilmittel für den ganzen Hoforganismus, da sie durch weidende Tiere oder als Heu ins Innere des Hofes hineingetragen werden.
Die Menschen, die bei mir eine Ausbildung machen, können später im Überschneidungsfeld von Pflanzensoziologie und Landwirtschaft arbeiten und sollen Höfe im Sinne des organismischen Konzeptes beraten können. Mit einer nach dem Organismus-Prinzip arbeitenden Landwirtschaft sind neben der Produktion von gesunden Lebensmitteln viele Wohlfahrtswirkungen verbunden, zum Beispiel Artenvielfalt, Humusaufbau, Hochwasser- und Erosionsschutz und zudem entstehen schöne Landschaften zum Wohlfühlen für uns Menschen.
Diese ganze Arbeitsweise wirkt insgesamt sehr künstlerisch.
Ja, für die erweiterte pflanzensoziologische Arbeit ist die goetheanistische Naturwissenschaft und damit die Verbindung von Kunst und Wissenschaft charakteristisch. Wenn ich beispielsweise Landschaften zeichne, steht die Kunst nicht für sich selbst, sondern immer in Verbindung mit der Wissenschaft. Hinzu kommt dann noch die spirituelle Ebene, an der ich zunehmend forsche.
Was braucht eine Landschaftsentwicklung, die zukunftsfähig ist?
Zusätzlich zu den fähigen BeraterInnen braucht es ein in der Bevölkerung verankertes positives Menschenbild. Normalerweise herrscht die Logik vor, dass der Mensch die Natur vor allem zerstört. Die große Biodiversität der historischen mitteleuropäischen Landschaften gäbe es aber nicht ohne den Menschen. Der natürliche Wald hat keine so hohe Artenvielfalt wie die traditionelle Kulturlandschaft. Wiesen und Weiden, also Kulturlandschaften, sind historisch gewachsene und gestaltete landwirtschaftliche Produkte. Der bessere Begriff für Kulturlandschaft ist meiner Ansicht nach Lichtlandschaft. Darin drückt sich die Fähigkeit des Menschen aus, einen Lichtimpuls in die Landschaft zu bringen, indem gemäht wird, man Tiere weiden lässt, Teiche entschlammt und Äcker regelmäßig pflügt und neu bestellt. Die so veranlassten Lichtstellungen führen die Vegetation immer wieder auf ein Jugendstadium zurück, das Licht bis an den Boden lässt und für Artenvielfalt wesentlich ist. Um einen Zukunftsimpuls durchzubringen, müssen die landschaftlichen Prozesse innerlich ganz durchleuchtet werden: Also auch in diesem Sinne: Licht-Landschaft. Nur in diesem Zusammenwirken wird vielfältige, zukunftsfähige Landschaftsentwicklung möglich.
Dr. Hans-Christoph Vahle ist Pflanzensoziologe mit Schwerpunkt auf Kulturlandschafts-Vegetation. Er promovierte über „Grundlagen zum Schutz der Vegetation oligotropher Stillgewässer in Nordwestdeutschland“ und habilitierte mit der „Gestaltbiologie von Pflanzengesellschaften“. Er führte viele pflanzensoziologische Kartierungen in Niedersachsen durch und war später mit Biotopkartierungen in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen beschäftigt. 2009 gründete er die Akademie für angewandte Vegetationskunde, arbeitete 2013 – 2014 an einem deutschlandweiten Wiesenprojekt mit der Abschluss-Broschüre „Gesundende Landschaften durch artenreiche Mähwiesen“ und leitet seit 2015 einen dreijährigen Ausbildungsgang „Feldbotanik und Pflanzensoziologie“, der jedes Jahr neu startet.
Das Interview finden Sie in unserem Sommerheft 2019, das Sie als Einzelheft bestellen können! Das Sommerheft 2020 erscheint Anfang Juli.