Naturverbunden
Lernen, Heilen und Gestalten mit der Erde
Zeitschrift Info3, Ausgabe Mai 2016
Naturverbundenheit müssen wir heute bewusst suchen. Manche Erlebnisse sind aber näher, als wir denken, und wir müssen sie nur sehen beziehungsweise hören. In dem Frankfurter Vorort Niederursel am nördlichen Stadtrand, wo unser Verlag angesiedelt ist, werden wir jedes Jahr mit einem besonderen Naturschauspiel beschenkt: Ab Mitte April kehren die Nachtigallen zurück. Vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hinein können wir dann diese begnadeten Sänger hören.
Die überaus scheuen, nur spatzengroßen Vögel sehen äußerlich unscheinbar aus, wenn man sie denn überhaupt zu sehen bekommt. Mit ihren tiefen, oft an ein Schluchzen erinnernden Strophen singen sie aber variantenreicher, kunstvoller und anrührender als alles Vergleichbare in der Welt der Gefiederten. „Früher galt der Gesang der Nachtigall als schmerzlindernd und sollte dem Sterbenden einen sanften Tod und dem Kranken eine rasche Genesung bringen“, lesen wir dazu bei Wikipedia.
Etwas Geheimnisvolles umgibt sie.
Bewundernswert finde ich aber nicht nur die Schönheit ihres Gesangs, sondern auch ihre Standhaftigkeit angesichts der zunehmenden Zerstörung ihres Lebensraums.
Entlang der Wiesen, Obstbäume und Sträucher im Umfeld des Urselbachs, der hier vom Taunus kommend Richtung Nidda und Main fließt, hatten die Nachtigallen früher ein ideales Revier. Heute muss sich ihr Gesang gegen die Flugzeuge und den auch nachts nie abschwellenden Lärm der Autobahn behaupten, die hier das Tal kreuzt. Das Siedlungsgebiet der Nachtigallen wird außerdem zerteilt von einer Schnellstraße. Zwei U-Bahnlinien, der schnell wachsende Unicampus und eine komplett neu entstehende Trabantenstadt rauben zusätzlich den gewachsenen Lebensraum.
Dennoch: Die Meistersänger haben bisher allen Widrigkeiten getrotzt, scheinen Lärm, Bauarbeiten und Verkehr um sie herum zu ignorieren, solange sie bei ihrer Rückkehr aus dem Süden noch ein unzugängliches Versteck in dichtem Gesträuch vorfinden.
Auch dieses Jahr haben sie in Abständen von rund 800 Metern standorttreu ihre Reviere wieder bezogen, dort sitzen sie, ohne je gesehen zu werden, und erfüllen den ganzen Umkreis mit ihrem Gesang. Und besonders nachts, wenn der Sehsinn für uns seine Dominanz verliert und wir zu Lauschenden werden, versetzt uns ihr Singen in eine andere Welt, in der man die Übergriffe der Zivilisation für Momente vergisst.