Von Harald Walach
Wer intellektuell etwas auf sich hält, findet heute verschiedene Dinge cool und andere absolut uncool. Zu den uncoolen Themen gehört für den modernen, wissenschaftsaffinen und intellektuell durchdeklinierten Zeitgenossen die Homöopathie. Homöopathie kann nicht funktionieren. Denn es ist ja nichts drin, wie jeder weiß. Homöopathie ist auch nicht durch klinische Studien ausreichend belegt, wie mittlerweile jeder Talkmaster und vor allem die Talkshow-Gäste immer wieder von Neuem feststellen, allen voran unser Gesundheitsminister. Der ist ja immerhin Professor und muss es wissen. Oder?
Fangen wir an mit dem Argument, es gäbe nicht genügend, und vor allem nicht genügend gute Studien in der Homöopathie. Was ist genügend und was ist gut? Moderne pharmazeutische Produkte benötigen, wenn sie eine Neuzulassung anstreben, eine einzige signifikante Studie, die bei einer Regulationsbehörde – Bundesinstitut für Arzneimittel, European Medicines Agency oder Federal Drug Agency – eingereicht wird. Sie muss belegen, dass die Substanz besser ist als eine Kontrollsubstanz wie Placebo, oder gleich gut, mindestens nicht schlechter als ein etablierter Standard. Dann erhält das neue Arzneimittel in der Regel eine Zulassung. Wie viele Studien vorliegen und das Ziel vielleicht nicht erreicht haben, ist bei dieser Abwägung egal. Hauptsache, eine Studie belegt, dass die Substanz funktioniert. Mit dieser Logik ist eine Vielzahl neuer Substanzen zugelassen worden. Sie gelten heute als „wissenschaftlich belegt“. Dazu gehören zum Beispiel die Neuraminidase-Hemmer, Substanzen, die man bei viralen grippalen Effekten einsetzen kann. Der bekannteste ist Tamiflu. Zu Zeiten der Vogelgrippe haben die europäischen Regierungen für Milliardenbeträge Tamiflu gehortet (und später entsorgt). Denn, so das Narrrativ, das in Zeitungen, Fernsehen und Social Media verbreitet wurde: Es ist das einzige Medikament, das die verheerenden Folgen der neuen Vogelgrippe verhindern und Leben retten kann. Dieses Narrativ fußte auf einer, später ein paar mehr positiven Studien, die eingereicht und anschließend publiziert wurden. Und wenn man nur diese positiven publizierten Studien nimmt, dann stimmt es auch. [1] Jahre später verklagte das Oxford Center of Evidence Based Medicine die European Medicines Agency auf Herausgabe der Zulassungsunterlagen und aller eingereichten Studiendokumente. Nach einem mehrjährigen juristischen Hickhack wurden diese schließlich freigegeben [2] – die Pharma-Firmen selbst hatten die Unterlagen nicht herausgerückt – und es stellte sich heraus: neben den erfolgreichen Studien, die publiziert worden waren, gab es auch eine Reihe negativer Studien, und wenn man alle zusammennimmt, bricht das Narrativ einer lebensrettenden Therapie zusammen. Die Neuraminidase-Hemmer verringern die Krankheitszeit um einen knappen Tag, von 7 auf 6,3 Tage. Aber man muss 100 bis 311 Menschen behandeln – je nach gemessenem Outcome – bis bei einem diese Reduktion um einen knappen Tag sichtbar wird. Die Nebenwirkungen sind häufiger, und da auch neurologische und psychiatrische Nebenwirkungen nicht selten sind, kann man sich fragen, ob diese Behandlung klinisch sinnvoll ist. [3]
Beforschung aus Interesse
Wie viele Studien sind also ausreichend? Schwer zu sagen. Wenn man eine Zulassung will, eine einzige. Wenn man die Wahrheit will, benötigt man mehrere, unabhängige Studien. Bei der Homöopathie als alteingesessenem Verfahren ist es juristisch etwas anders: Homöopathische Arzneimittel haben keine Krankheitsindikation, sondern ein Arzneimittelbild – so ist es in den Monographien der für Homöopathie zuständigen Arzneimittelkommission D des Bundesinstituts für Arzneimittel festgehalten. Daher erhalten die Arzneimittel einfach eine Registrierung, aber nicht für eine bestimmte Indikation. Aus diesem Grund ist die Beforschung der klassischen, individualisierten Homöopathie primär weniger aus Gründen der Zulassung geschehen, sondern aus Gründen des Interesses und der öffentlichen Argumentation. Wenn Hersteller aus mehreren homöopathischen Arzneien eine Komplexarznei für eine Indikation, sagen wir Heuschnupfen, herstellen wollen, dann müssen sie dafür Erkenntnismaterial vorlegen, zum Beispiel Studien und einen sorgfältigen Überblick über die Literatur.
Wie viele Studien gibt es also? Die Frage wird von einer systematischen Literatursuche beantwortet, die 2023 publiziert wurde.[4] Sie wurde federführend von Katharina Gaertner von der Universität Bern über viele Jahre hinweg durchgeführt und enthält, anders als die meisten anderen Reviews, auch die sogenannte „graue Literatur“, also Doktorarbeiten, Masterarbeiten und Konferenzberichte, die normalerweise nicht in den Zitierdatenbanken auftauchen. Diese Untersuchung lokalisierte insgesamt 636 Studien, 400 davon sind placebo-kontrolliert, 463 sind randomisiert, 173 sind nicht-randomisierte klinische Vergleiche. 173 Studien untersuchten klassische, individualisierte Homöopathie, 272 untersuchten homöopathische Komplexe, also Kombinationspräparate mit mehreren Substanzen zur Behandlung einer bestimmten Krankheit. 161 Studien untersuchten eine Routineverschreibung wie etwa Arnica zur Behandlung von Wunden. Insgesamt 223 Indikationen wurden mit verschiedenen Arten von Homöopathie behandelt.
Systematische Untersuchungen noch am Anfang
Was also eindeutig falsch ist, ist die immer wieder vertretene Behauptung, es gäbe keine Studien. Es gibt sogar viele Studien. Aber sie müssen natürlich systematisch untersucht werden. Hier stehen wir am Anfang.
Es gab immer wieder Versuche, diese Literatur, meistens nur einen Teil davon, systematisch zu analysieren. Das haben Meta-Analysen getan. Es gab prominente Meta-Analysen, die zum Ergebnis kamen, dass der Gesamteffekt der Homöopathie über alle Studien und Diagnosen hinweg den Placebokontrollen überlegen sei [5-7], allerdings mit dem Trend, dass der Effekt kleiner wird, wenn man nur die besseren Studien betrachtet. Es gab eine prominente Meta-Analyse, die behauptet, es gäbe keinen Effekt [8]. Dieser Analyse wurde nachgewiesen, dass sie mit einer nicht näher begründeten Auswahl an Studien arbeitete. Nimmt man mehrere Studien dazu, wird der Effekt positiv. Da nie begründet wurde, warum ausgerechnet diese Studien verwendet wurden und mit welchem Argument, ist das Ergebnis dieser negativen Meta-Analyse fragwürdig. [9]
Vor kurzem publizierten Harald Hamre und Kollegen eine systematische Übersicht über alle Meta-Analysen von placebo-kontrollierten Studien, die zur Homöopathie vorliegen. [10] Sie schlossen in ihre Betrachtung sechs Meta-Analysen ein. Diese Meta-Analysen fassten 16 bis 110 Studien zusammen, also deutlich weniger als die 400 Studien, die Gaertner und Kollegen in der Literatur gefunden haben. Alle fünf Meta-Analysen, für die ausreichend Daten vorlagen, zeigten einen signifikanten Effekt zugunsten der Homöopathie, auch dann noch, wenn man die Betrachtung auf die methodisch besten Studien beschränkte. Die statistische Sicherheit für diese Einschätzung war moderat bis hoch. Für die Alternativhypothese, dass Placebo besser oder gleich gut ist, gab es keinen Hinweis. Oft werden solche positiven Effekte ja dadurch erklärt – siehe Tamiflu –, dass Studien mit negativen Effekten nicht publiziert werden. Man kann in einer Meta-Analyse prüfen, ob eine solche selektive Publikation von Ergebnissen vorliegt. Das war hier nicht der Fall.
Anders als häufig behauptet, ist die Methodik der klinischen Homöopathiestudien nicht schlecht, sondern oft sogar besser als die von konventionellen Studien, wie damals sogar Shang und Kollegen einräumten, die einen solchen Vergleich angestellt haben. [8]
Genaues Hinsehen
Es ist ein beliebtes Vorgehen, nur einen Teil der Studien zu verwenden, nämlich die, die in der sogenannten peer-reviewten Literatur publiziert wurden. Nur diese seien methodisch glaubwürdig, sagen manche. Dabei übersieht man: Durch das vorherrschende Vorurteil gegen die Homöopathie haben es Homöopathie-Studien mit negativem Ergebnis sehr viel leichter, in der peer-reviewten Literatur publiziert zu werden, als solche mit positivem Ergebnis. Studien mit Ergebnissen, die für die Homöopathie positiv sind, erscheinen dagegen häufiger in kleineren, nicht in Datenbanken gelisteten Journalen, wodurch sie gerne übersehen werden. In der konventionellen Medizin ist es genau anders herum: dort erscheinen die Studien mit tollem Ergebnis gerne in den besten Journalen, während die „Rohrkrepiererstudien“ nur in Kongressbeiträgen oder auch gar nicht publiziert werden.
Nun machen manche aus diesem Befund: Die Homöopathiestudien in der wissenschaftlichen Literatur seien nicht überzeugend. Dabei lassen sie geflissentlich außer Acht, dass dies nicht für alle Studien gilt. Man muss aber, wenn man gerecht sein will, alle Studien berücksichtigen. Die Arbeit von Katharina Gaertner hat dazu den Grundstock gelegt, und wir, Katharina Gaertner, Martin Loef, Stephan Baumgartner und ich, sind dabei, diese Studien aufzuarbeiten. Wir haben eine Meta-Analyse zu allen Studien publiziert, bei denen Arnica nach Operationen zur Wundbehandlung oder präventiv vor Operationen angewandt wurde. [11] Wir fanden einen kleinen Effekt gegenüber Placebo, der knapp nicht signifikant war (p = .059) und einen interessanten signifikanten Effekt von Homöopathie gegenüber konventioneller Behandlung mit Entzündungshemmern und Schmerzmitteln. Ob Arnica zur Wundversorgung nach Operationen besser ist als Placebo, wissen wir also nicht sicher. Aber dass es besser ist als die konventionelle Versorgung, das wissen wir. Was man daraus wohl folgern sollte?
Im gleichen Sinne werden wir nun die Studien zusammenfassen, die Homöopathie bei anderen Diagnosen untersuchen, zu denen es mehrere Studien gibt und bei denen Homöopathie traditionellerweise häufig angewandt wird. In der Zwischenzeit können wir aus den bereits vorhandenen Daten und ihrer Zusammenfassung folgern: Es gibt relativ viele Homöopathiestudien und ihr Gesamtergebnis spricht bis jetzt dafür, dass Homöopathie besser als Placebo wirkt. ///
1. Muthuri SG et al: Effectiveness of neuraminidase inhibitors in reducing mortality in patients admitted to hospital with influenza (2014), DOI: 10.1016/S2213-2600(14)70041-4.
2. Doshi P, Jefferson T: The first 2 years of the European Medicines Agency’s policy on access to documents: secret no longer (2013), DOI: 10.1001/jamainternmed.2013.3838.
3. Jefferson T, Jones MA et al: Neuraminidase inhibitors for preventing and treating influenza in healthy adults and children (2014), DOI: 10.1001/jamainternmed.2013.3838.
4. Gaertner K, Loef M, Frass M et al.: Bibliography of Homeopathic Intervention Studies (HOMIS) in Human Diseases (2023), DOI: 10.1089/jicm.2022.0523.
5. Linde K, Clausius N et al: Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? A meta-analysis of placebo controlled trials (1997). DOI: 10.1016/s0140-6736(97)02293-9.
6. Cucherat M, Haugh MC et al: Evidence of clinical efficacy of homeopathy. A meta-analysis of clinical trials (2000), DOI: 10.1007/s002280050716.
7. Mathie RT, Lloyd SM et al: Randomised placebo-controlled trials of individualised homoeopathic treatment: sytematic review and meta-analysis (2014). DOI: 10.1186/2046-4053-3-142.
8. Shang A, Huwiler-Münteler K et al: Are the clinical effects of homeopathy placebo effects? Comparative study of placebo-controlled trials of homoeopathy and allopathy (2005), DOI: 10.1016/S0140-6736(05)67177-2.
9. Lüdtke R, Rutten ALB: The conclusions on the effectiveness of homeopathy highly depend on the set of analyzed trials (2008), Doi: 10.1016/j.jclinepi.2008.06.015.
10. Hamre HJ, Glockmann A, Kiene H et al: Efficacy of homoeopathic treatment: Systematic review of meta-analyses of randomised placebo-controlled homoeopathy trials for any indication. Systematic Reviews (2023), DOI: 10.1186/s13643-023-02313-2.
11. Gaertner K, Baumgartner S, Walach H: Is homeopathic arnica effective for postoperative recovery? A meta-analysis of placebo-controlled and active comparator trials (2021) DOI: 10.3389/fsurg.2021.680930.
Harald Walach promovierte und habilitierte in Psychologie und promovierte zudem in Wissenschaftstheorie. Nach verschiedenen akademischen Stationen ist er heute Professorial Research Fellow am Next Society Institute in Vilnius sowie Gründer und Leiter des Change Health Science Instituts in Basel. Auf seiner Website schreibt er regelmäßig über Themen, die ihn beschäftigen.
Dieser Text erschien in der Ausgabe “Umkämpfte Homöopathie” der Zeitschrift info3.
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