Am 24. März 2018 hat die Generalversammlung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (AAG) in Dornach die beiden Vorstandsmitglieder Paul Mackay und Bodo von Plato mehrheitlich abgewählt. Die neue, von den beiden selbst eingeführte Regelung, nach der das Vorstandmandat nicht mehr wie früher unbefristet gilt, sondern nach jeweils sieben Jahres von der Generalversammlung bestätigt werden soll, wurde erstmals angewandt. Eine Mehrheit der anwesenden Mitglieder befürwortete offensichtlich eine deutlich konservativ-traditionalistische Linie, die mit der von Mackay und von Plato vertretenen „Reflexionsoffenheit“ nicht kompatibel ist.
Auf der Versammlung fiel noch eine weitere Entscheidung. Nach einem in der Mitgliedschaft lebhaft diskutierten Vorschlag wurden die beiden 1935 nach heftigem Streit ausgeschlossenen Vorstandsmitglieder Ita Wegman und Elisabeth Vreede in vollem Umfang posthum rehabilitiert.
Nun könnte man angesichts der Abstimmung von einer Emanzipation der Mitglieder gegenüber der Führung der AAG sprechen – es ist dies meines Wissens sowohl die erste Rehabilitierung als auch das erste Mal, dass ein Vorstandsvorschlag von der Mitgliedschaft nicht angenommen wurde. Bisher galt die Zustimmung durch eine überwältigende Mehrheit – ähnlich wie bei Wahlen in autoritär regierten Staaten – als sicher. Aber es gibt einige fragwürdige Begleiterscheinungen.
Kaum jemand konnte ahnen, was auf dem Spiel stand.
Zunächst einmal fällt auf, dass die Mitgliedschaft erst in den letzten Jahren auf den Geschmack eigener Anträge und somit in den Genuss ihrer demokratischen Rechte gekommen ist. Allerdings bot sich dabei bisher ein eher grotesk anmutendes Schauspiel um die Abstimmung einer Sammlung weitgehend unsinniger Anträge, die von einer Handvoll Querulanten eingebracht wurden. Dass vor diesem Hintergrund mit der Mandatsverlängerung letztlich weniger eine Personal- als vielmehr eine Richtungsentscheidung bevorstand, dürfte einem Großteil der an- und vor allem abwesenden Mitgliedern schlicht entgangen sein. Ein vorab in der Wochenschrift Das Goetheanum veröffentlichtes Interview mit den beiden Verlängerungskandidaten erschöpfte sich jedenfalls in einer gegenseitigen Lobhudelei der Betroffenen sowie in einem wenig originellen Räsonieren über die Bedeutung der Anthroposophischen Gesellschaft und ihre Aufgaben. Die beiden sprachen zwar von einer modernen, weltzugewandten und öffentlichkeitsfähigen Anthroposophie; von konkreten Maßnahmen, die das Vorstandsteam sich für die nächste Amtsperiode vorgenommen hat, war jedoch weder in den Fragen noch in den Antworten die Rede. So konnte kaum jemand ahnen, was eigentlich auf dem Spiel stand. Dennoch wurde das Interview in konservativen Kreisen als Wahlkampfpropaganda bezeichnet.
Erst nach der (Ab-)Wahl wurde öffentlich kommuniziert, dass sich sowohl der Kreis der Sektionsleiter der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach als auch die Konferenz der Ländervertreter mit großer Mehrheit für eine „Fortsetzung der Zusammenarbeit“ mit den beiden Vorstandsmitgliedern ausgesprochen hatten. Mit wenigen Ausnahmen. So hatte der Vorstand der bekanntlich eher konservativen Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz durchschimmern lassen, einvernehmlich gegen eine Mandatsverlängerung zu votieren, nicht ohne geschickt hinzuzufügen, dass dies natürlich nicht als Wahlempfehlung für die Mitglieder gemeint war; es wurde umso mehr als solche verstanden. In den eher traditionalistischen Kreisen, die es selbstredend auch außerhalb der Schweiz gibt, lebt noch stark der Impuls, die Anthroposophie „rein“ und für sich selbst zu behalten. Ein Diskurs mit der Öffentlichkeit wird folglich vermieden. Gelegentlich wird sogar der Ruf nach einem „esoterischen“ Vorstand wie zu Rudolf Steiners Zeiten laut. Dazu werden auch schon, mehr oder weniger heimlich, Namen genannt.
Die zahlenmäßige Überlegenheit einer regionalen Minderheitsgruppierung ist nicht mit demokratischen Grundsätzen zu vereinbaren.
Aber zurück zur Generalversammlung am Goetheanum. Diese dauerte insgesamt drei Tage. An den ersten beiden Tagen nahmen etwa 650 Mitglieder teil, bei der Abstimmung wurden dann fast 950 gültige Stimmen gezählt. Daraus folgt, dass etwa 300 Menschen nur für die Abstimmung teilnahmen – und diese kamen wohl kaum aus Helsinki, Melbourne, Rio oder New York. Das Abstimmungsergebnis wirft daher grundsätzliche Fragen nach dem Modus der Mitbestimmung auf. Die zahlenmäßige Überlegenheit einer regional tätigen Minderheitsgruppierung ist jedenfalls nicht mit demokratischen Grundsätzen zu vereinbaren. Weil dem Vorstand neben seiner weltweiten Aufgabe zugleich die Leitung des Goetheanumbetriebs mit einem Jahresetat von 28 Millionen Schweizer Franken und der Beschäftigung von etwa 300 Mitwirkenden obliegt, wäre es andererseits auch realitätsfern, wenn von Mitgliedern aus aller Welt per Briefwahl bestimmt wird, wer zum Beispiel die Aufgabe des Arbeitgebers übernimmt.
Deshalb stellt sich die Frage, ob der Verein überhaupt die geeignete Rechtsform der AAG sein kann und darüber hinaus, ob die weitgehende Personalunion von Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft, Leitung des Goetheanumbetriebs und Leitung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft noch zeitgemäß ist. Für die verschiedenen Aufgaben, wie etwa die Koordination der weltweiten Aktivitäten der Anthroposophischen Gesellschaft, die Geschäftsführung eines Millionenhaushalts des Goetheanumbetriebes und die Leitung einer spirituell orientierten Hochschule, werden unterschiedliche Fähigkeiten verlangt. Zu der schier unmenschlichen Fülle der Aufgaben kommen noch die hohen Erwartungen von Seiten der Mitgliedschaft hinzu, die kaum erfüllt werden können. Schon deshalb braucht es differenziertere Strukturen als das alte Bild einer Gesellschaft, die ihr Zentrum am Goetheanum in Dornach sieht, dessen allmächtiger Vorstand sein Tun und Lassen einmal jährlich von Teilen der Mitgliedschaft absegnen lässt. An der Überwindung solcher längst überkommenen hierarchischen Strukturen hat der bisherige Vorstand in den vergangenen Jahren hart gearbeitet – und sich damit in Teilen der Mitgliedschaft unbeliebt gemacht. Insbesondere deshalb ist die Abwahl derer, die sich für eine zeitgemäße anthroposophische Gesellschaft und Bewegung stark gemacht haben, ein herber Rückschlag.
In einem bereits zwei Tage nach der Generalversammlung verfassten Brief an die Mitarbeitenden am Goetheanum, der der Info3-Redaktion vorliegt, beruhigt der vermutlich überrumpelte Restvorstand (bestehend aus Justus Wittich, Joan Sleigh, Constanza Kaliks und Matthias Girke) die Adressaten, es würde sich nichts ändern, außer dass die Vorstandsbeschlüsse nicht mehr von den Abgewählten unterschrieben würden. Ihre sonstigen Aufgaben in der Goetheanumverwaltung und der Hochschule würden sie behalten. Der Brief wurde auch in der Mitgliedschaft bekannt und – verständlicherweise – als Affront aufgefasst. . In einer Pressemeldung vom 16. April wird der Inhalt dieses Briefes im Wesentlichen bestätigt. Es wird darin hervorgehoben, dass die Goetheanum-Leitung aus Mitgliedern des Vorstandes und den Sektionsleitern der Freien Hochschule besteht. Bei einer vorgesehenen Klausur dieses Gremiums in Juni sollen „alle Mandatierungen neu vergeben“ werden. Der Zerrissenheit der Mitgliedschaft wird diese Mitteilung wohl kaum entgegenwirken können, vielmehr stehen der AAG turbulente Zeiten bevor. Eine Notwendigkeit zur Nachwahl von Vorstandsmitgliedern besteht übrigens laut Satzung nicht.